Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VIII. Amerika

New York: Streben nach Vollendung

Aber freilich ist in Amerika die Kluft zwischen äußerem Vorgeschrittensein und innerer Vollendung noch weiter als in Europa. Beim Verpflanzen wurden die alten Wurzeln des Europäers verschnitten und die neugebildeten sind noch nicht tief in die Erde eingedrungen; auch wurden der Hauptmasse nach unveredelte Gehölze verpflanzt, die auf dem fetteren Boden, ohne Schulung, an Rassigkeit noch eingebüßt haben: so darf es nicht weiter wundernehmen, dass der höheren Zivilisation ein niedrigeres Kulturniveau entspricht. Auch in der alten Welt bedeutet Vollkommenheit der Einrichtungen in bezug auf den Menschen wenig genug. Die Objektivierung der idealen Forderungen in Institutionen hat bei allen Vorteilen den Nachteil mitbedingt, dass jene an subjektiver Wirkungskraft verloren haben. Wir sind oberflächlicher als die Inder, weil bei uns die geistigen Mächte an die Oberfläche gezogen worden sind, wo sie nun automatisch funktionieren, ohne die Seele notwendig in Mitleidenschaft zu ziehen, während sie bei jenen in deren Tiefe wirken und daher, wo überhaupt lebendig, innerlichst beeinflussen. Aber beim Europäer bleibt immerhin spürbar, dass das Äußerliche von innen hervorgesprossen ist. Man nehme einen noch so ausgesprochenen Zweckmenschen: ist er aus altem Stamm, so hat er den Humanismus unserer Klassiker, den Idealismus des Entdeckungszeitalters, die hohe Ethik des Mittelalters, zuletzt die antike Kultur zum lebendigen Hintergrund, dies aber gibt ihm eine geistige Atmosphäre und seinem Tun eine Bedeutsamkeit, welche besteht, auch wo sie seinem Bewusstsein ganz entgeht. So spürt man durch alle europäische Oberflächlichkeit hindurch die mögliche Tiefe, in jedem maschinellen Betrieb seine mögliche Beseeltheit; man hat bei den äußeren Einrichtungen, die zunächst auf nichts Innerliches hinweisen, das Gefühl, das man neuen Organen gegenüber hat, mit denen man noch nicht umzugehen weiß: man fühlt, noch geht es nicht, aber es wird bald gehen. Denn unsere Geschichte steht dafür Gewähr. Der Louvre steht gut dafür, dass der Eiffelturm dereinst ein lebendiges Symbol bezeichnen wird, die Kathedralen bürgen dafür, dass Fabriken werden dem Geist dienen können. Dieses trostreiche Gefühl überkommt einen in Amerika nicht. Die allermeiste Tatsächlichkeit ist Tatsächlichkeit schlechthin, ohne lebendige Bedeutung und ohne Hintergrund.

Dieses Gefühl ist gewiss nur bedingt gerechtfertigt; zwischen amerikanischen und europäischen Zuständen besteht kein Unterschied des Wesens sondern nur des Grades. Die so verschwenderisch ausgestatteten amerikanischen Universitäten sind ohne geistige Atmosphäre, die amerikanischen Prachtbauten ohne Symbolik, die Amerikaner selber nur zu oft bis zur Seelenlosigkeit flach, weil hier die auch bei uns bestehende Diskrepanz zwischen Äußerem und Innerem noch größer ist. Die Amerikaner sind innerlich roher und jünger als wir und äußerlich weiter: so treten die Nachteile dieses schiefen Gleichgewichtszustandes bei ihnen deutlicher an den Tag. Es wäre auch ganz in der Ordnung so und kein Wort darüber zu verlieren, wenn nicht die Neue Welt, anstatt der alten, nachzustreben, dieser voraneilte und mehr und mehr zu ihrem Vorbild würde. Dieser Umstand weckt sorgende Gedanken.

Ich denke zurück an alles Positive und Negative, was ich an den Vereinigten Staaten wahrgenommen, an die vielen Vergleiche zwischen Orient und Okzident, die ich angestellt, an die allgemeinen richtunggebenden Ideen, die sich in meinem Bewusstsein mehr und mehr im Laufe meiner Wanderungen präzisiert haben. Es ist allerdings Zeit, dass die westliche Menschheit erkenne, dass sie auf dem Wege des Fortschritts das Eine, was not tut nicht finden wird; sie gewinnt nur vollkommenere Ausdrucksmittel dafür. Dass solche ihr zu eigen werden, ist freilich gut; nichts wäre törichter, als sie verleugnen zu wollen. Nachdem dieses aber geschehen, ist das Lebensproblem nicht etwa gelöst, sondern es stellt sich in unveränderter Gestalt. Das einzige absolute Ideal des individualisierten Lebens wird durch den Begriff der Vollendung bestimmt. Der Vollendung nun ist der noch so vorgeschrittene Moderne ferner, als irgendein Wesen. Er steht ihr ferner nicht allein als der Chinese, als der Mensch der Antike und des Mittelalters, er steht ihr ferner als der Australneger, und viel ferner als jede Pflanze und jedes Tier. Solang er dies nicht einsieht, sondern im Wahn befangen bleibt dank seinem Fortschreiten wesentlich weiterzukommen, wird kein äußerer Gewinn ihm zu innerem Heil gereichen; sein Mensch wird fortverflachen und -verkümmern proportional dem Zuwachs seiner Mittel. Erkennt er es hingegen und wendet es um, dem einzig wahren Menschenziele zu, dann, aber allerdings nur dann, wird das bisherige Verhängnis ihm zum Segen umschlagen. Es ist nicht notwendig, dass materielle Macht, so böse sie an sich sei, der Seele schade, nicht wahr, dass Verstandeskraft zersetzen muss; jene kann zum Organ göttlicher Güte werden, diese zum Mittel geistlicher Wiedergeburt. Es ist ein Irrtum, dass die Bewegtheit unseres Lebens Vertiefung ausschließe, denn alles Leben ist bewegt, nicht richtig, dass unser Streben ins Unbegrenzte, da Vollendung doch an Grenzen gebunden sei, solche prinzipiell unmöglich mache, denn Grenzen des Strebens und des Strebenden sind zweierlei; jeder Einzelne wird immer früh genug seine Grenze finden. Vom Standpunkte des Geistes ist es eins, ob einer einen festen oder einen flüssigen Körper trägt. Gelangen wir nur dahin, auf unsere Art vollkommen zu werden, unseren so wunderbar reichgestalteten Leib durchaus zum Ausdruckmittel des Geistes zu machen, so werden auch wir am Ziele sein.

Nach Vollendung sollen wir streben, nach Vollendung allein. Nicht nach Erneuerung, der Lieblingslosung moderner Weltverbesserer. Nach Erneuerung streben, heißt das Heil von einer neuen Sondergestalt erwarten — einem neuen Mythos, einer neuen Lebensform, einem neuen Menschentypus, der aus dem alten hervorgehen soll. Wenn aber etwas gewiss ist, dann ist es dies, dass das Heil von dort her nicht mehr kommen wird. Das Ideal der Erneuerung bedeutet nichts anderes, als die äußerste Sublimierung des Fortschrittsideals; es konnte fördern, solange der Mensch das Wesen unmittelbar zu sehen noch nicht gelernt hatte. Damals bedeutete die Geburt einer neuen Form in der Tat die Offenbarung eines neuen Inhalts. Vom antiken Heidentum zum Christenglauben fand äußerlich zwar nur ein Fortschritt statt, aber dieses Fortschreiten bedingte gleichzeitig ein Vollenden insofern, als sich die Masse in dieser neuen inneren Form viel tiefer ihrer selbst bewusst wurde. Immerhin: schon damals bedeutete Bekehrung ungefähr das, wie in der Geometrie eine Hilfskonstruktion; Marc Aurel stand, so wie er war, nicht niedriger als der heilige Ambrosius, hätte durch Glaubenswechsel nicht gewonnen; schon damals gereichte solcher nur Nicht-Wissenden zum Heil. Heute aber wissen die meisten viel zu viel, um durch Formveränderung zu gewinnen, zu viel, um eine Form noch soweit ernstzunehmen, dass diese ihre Gestaltungskraft voll ausüben kann. Es erstehe morgen ein geistliches Genie, das die bestmögliche Religion verkündete — seine Tat wird nicht annähernd mehr das bedeuten, wie diejenige Luthers; seitdem der Sinn an sich den Menschen bewusst zu werden beginnt, wird es Zeit für sie, die Aufgabe umzustellen. Es gilt nicht mehr, neue Formen in die Welt zu setzen, um sich vermittelst ihrer tiefer zu realisieren, sondern unmittelbar nach Wesenserkenntnis zu streben, das aber heißt: seinen tiefsten, innersten Gehalt in beliebigem Rahmen zum Ausdruck zu bringen. Strebt der Mensch nur nach Erfüllung, nach Vollendung, dann ergibt sich das weitere von selbst; dann kommt es mit Unvermeidlichkeit, je nach den Umständen, zur Erneuerung, zur Bekehrung, zur Wiedergeburt; dann ersteht ganz von selbst, wenn die Zeit es verlangt, auch die neue historische Gestalt. Mögen es der Zahl nach noch so wenige sein, welche wissend über Name und Form hinaus sind, unwissentlich sind wir’s alle; ein Endziel kann Gestaltung an sich uns nie mehr sein.

Nach Vollendung sollen wir streben, nach Vollendung allein. Als Abendländer sind wir spezifische Geschöpfe von ausschließlicher Anlage, die ihr Sonderschicksal erfüllen müssen. Nie werden wir unseren physiologischen Grenzen entrinnen, nie wird uns frommen uns selber untreu zu werden, jeder Versuch, aus unseren historisch bedingten Schranken auszubrechen, kann nur schaden. Wir sollen nicht zerschlagen wollen was wir erschufen, aus theoretischen Erwägungen heraus keine gewaltsamen Veränderungen vornehmen, sondern organisch fortwachsen dem Zustand entgegen, der unserem Sonderstreben als dessen Krönung winkt. Aber wir sollen jetzt, da wir erkannt haben, dass unser empirisches Ziel kein Selbstzweck ist und unsere Eigenart kein absoluter Wert, unmittelbar in und aus dem Wesen leben lernen. Dann erst, dann aber sicher, wird unser Fortgeschrittensein zum Ausdruck des Einen, was nottut werden, damit zur vorgeschobenen Etappe auf dem Wege zum Menschheitsziel. Dann wird sich erweisen, dass, so viel Unheil wir bisher über die Welt gebracht, dank unserem wahnwitzigen Streben, die ganze Schöpfung unserer Eigenart zu unterwerfen, es doch wahr ist, dass wir berufen sind zu einer hohen Mission. Dann wird sich nämlich, dank uns, die Einheit des Lebensganzen, sein unzerreißbarer wesentlicher Zusammenhang, wie nie zuvor im Reich des Erscheinenden ausprägen. Diese Ausprägung hat Indien nie überhaupt versucht. Chinas Leistung, sonst so bewunderungswürdig, krankte daran, dass es als Menschen nur Chinesen gelten ließ. Was aber des Westens frühere Universalitätsbestrebungen betrifft, so scheiterten sie daran, dass er trotz richtiger allgemeiner Tendenz den Ansatz verfehlte, aus dem Allgemein- und Sonderprobleme auf einmal zu lösen sind. Die der Spätantike mündeten in Eklektizismus und Synkretismus ein, innerhalb des Christentums verdichteten sie sich zur Wahnidee, dass eine Kirche das ganze Menschengeschlecht umfangen könne; im 17. Jahrhundert gewannen sie in der ungenauen Vorstellung Form, dass alle Denk- und Glaubensgestaltungen Erscheinungen eines einheitlichen, jedem gleichmäßig eingeborenen natürlichen Lichtes seien, und versiegten im 18. in schaler Gleichmacherei. Wir nun besitzen den Ansatz, aus dem allein alles Einzelne vom Ganzen her bestimmt werden kann: in der Objektivierung, welche die geistigen Mächte durch uns erfuhren, ist die einzig haltbare Verbindung geschaffen worden zwischen Ideen- und Erscheinungswelt. Unsere Erkenntnisse sind objektiv; die Beziehungen, die zwischen den verschiedenen Phänomenen entdeckt wurden, bestehen unabhängig von allem Meinen; die Gesetze, welche wir feststellten, gelten an sich: also kann es gelingen, das Leben nicht mehr einer persönlichen Formel gemäß, sondern seinem Eigen-Sinn nach zu verstehen und zu gestalten. In uns hat die Menschheit die Bewusstheitsstufe erstiegen, welche Name und Form notwendig übersieht. Damit ist geistiger Ausschließlichkeit für immer der Boden entzogen, ein allgemeiner Zustand angebahnt, wo alles Einzelne, bei überzeugter Verfolgung seines Sonderziels, sich doch als Glied des Ganzen wissen wird.

Schon heute ist es jedermann möglich, sich über Sinn und Bedeutung jeder Erscheinung im Zusammenhang Gewissheit zu verschaffen, folglich auch möglich virtuell, sich im Zusammenhang zu behaupten; schon heute braucht einer anderes nicht mehr abzulehnen, um unbefangen er selbst zu sein. Dies alles muss schließlich zu einer in der Geschichte unerhörten Verbreiterung der Lebensbasis führen, zugleich zu einer niedagewesenen Vertiefung jeder einzelnen Lebenstendenz. Wenn es vormals hieß: Nationalgefühl oder Weltbürgertum, so wird bald eines das andere bedingen; die verschiedenen Kultur- und Glaubenstypen werden einander mehr und mehr als Ergänzungen achten lernen; das Er oder Ich früher Stufen wird sich in immer vollerem Maße in bewusstes Zusammenarbeiten umsetzen. Und dies beinahe unabhängig von allem guten Willen, weil das Leben an sich ein zusammenhängendes Ganzes ist und das Bewusstgewordensein eines wirklichen Verhältnisses mit Notwendigkeit dessen gesteigerte Darstellung nach sich zieht, dank immer inniger vermittelnden Objektivationen. Schon sind in Gestalt der Wissensinhalte, des Geldes, der wechselseitigen ökonomischen Abhängigkeit Grundlagen da, auf denen Verständigung im Prinzip unvermeidlich ist; bald wird Gleiches von den Rechtsbegriffen gelten. Die Objektivationen wirken ihrerseits auf das Subjektive zurück. Mehr und mehr führende Geister verleugnen alle nationalkulturelle Ausschließlichkeit, täglich machtvoller wird das Zusammenhangsgefühl aller arbeitenden Massen; eines gebenedeiten Tags wird sich die Menschheit durchaus solidarisch wissen, durch allen notwendiger Kampf und Gegensatz hindurch. Diese bessere Welt herbeizuführen — nicht die ganze Schöpfung zu verwestlichen — ist unsere Westländermission; unsere besondere Physiologie, unsere Geschichte beruft uns wie niemand sonst dazu, in Leben umzusetzen, was Inder bisher am tiefsten erkannten. Aber unsere Lebensformel bleibt doch eine unter anderen, und wenn wir auch glauben dürfen, dass sie die vom Standpunkte der Geistesverwirklichung glücklichste ist, weil sie einerseits vollkommene Durchdringung der Erscheinung durch den Sinn postuliert, anderseits in der Idee die umfassendste Gestaltung zulässt, so dürfen wir doch niemals vergessen, dass kein Phänomen die anderen resümiert, kein Wert alle erschöpft, eine Art der Vollendung die übrigen ausschließt, dass Totalität das Ziel aller Entwickelung ist und dem Einzelnen nie mehr gelingen kann, als sich innerhalb enger Grenzen zu vollenden.

Vernunftgemäßer Voraussicht nach müsste die Symphonie des Geistes auf Erden fortan immer schöner erklingen. Immer reiner müssten die Einzelstimmen tönen, immer besser untereinander harmonieren, auf immer vollere Grundtöne abgestimmt; die ursprünglich chaotische, zeitweilig barocke, dann wieder überdifferenzierte Schöpfung müsste zuletzt in vollendeter Klassik ausklingen, jener monumentalen Einfachheit, die allen Reichtum in sich beschließt. Wandel ist des Lebens Weg, immer neu ist es erschienen; wird seine Entwicklung fortan vom immer tiefer bewussten Geiste gelenkt, so müssten vorläufige Formen immer mehr endgültigen Platmachen, müsste die Differenziation langsam umschlagen in Integration. Allein, Vernunfterwartungen werden nicht immer erfüllt. Die altgriechische Vorstellung, nach der es Hauptabsicht der Götter sei, alles Edele auf Erden auszurotten, wird dem Charakter der Wirklichkeit leider besser gerecht, als die Vorsehungsidee. Ein dummer Zufall mag die Entwickelung irgendwann abschneiden, Katastrophen, Seuchen, Barbaren mögen wieder und wieder den Geist seiner besten Träger berauben, bis zum Erduntergang mag es bei Ansätzen bleiben. Dieser Planet war von je eine Stätte der Anfänge, nicht der Erfüllungen. Mit der Spätantike schien ein Zeitalter endgültiger Universalität hereinzubrechen und es erfolgte Barbarisierung; individualistische Kultur blühte in Hellas, im Italien der Renaissance, blüht heute wieder, und wie die früheren alle plötzlich abstarben, so mag es auch diesmal kommen. Die Evolution des Geistes hat kein zuverlässiges Mittel an dieser Welt, in der tausend verschiedensinnige, einander feindliche Entwicklungsreihen sich kreuzen. Sein eigentliches Ziel liegt überhaupt nicht in ihr. Das Unendliche, das wir ins Endliche zu bannen trachten, entrinnt uns ewig; die Vollendung, der alles Lebendige als seiner höchsten Erfüllung nachstrebt, ist keine Erfüllung im irdischen Verstand, denn Verfall folgt ihr und Tod, kein Ideal ward jemals restlos verwirklicht — käme es aufs Erreichen an im Rahmen von Zeit und Raum, dann wäre aller Idealismus sinnlos. Aber er ist es nicht. Sein Sinn liegt in einer anderen, geistigen Welt, der wir wesentlicher als dieser angehören, und alles Streben hienieden dient nur dazu, im Geist zu wachsen: auf dem Wege zum Ziel, das ein zeitlich-Imaginäres ist, wird unser Eigentliches wirklich. Wir sollen das Himmelreich auf Erden begründen wollen; je näher wir dem kommen im Überwinden materiellen Widerstands, desto mächtiger wird der Geist; auf einer vollkommen gemachten Erde könnte er sich vielleicht vollkommen manifestieren. Aber die Vollkommenheit der Erde ist nicht Selbstzweck: dies gilt es zu begreifen, um der Wirklichkeit nicht Unrecht zu tun. Freilich endet alles Leben mit dem Tod, ist alle Vollendung hinfällig, kurzfristig und die meiste vom zeitlichen Standpunkt zukunftslos. Aber es kommt nicht an auf die Zeit. In jeder vollkommenen Lebensverwirklichung aktualisiert sich das Ewige, wird das Wesentliche erreicht, zu dem zeitliche Entwickelung nur das Mittel war. Insofern kann man sagen, dass der Fortschritt in der Idee ein Wesentlicheres ist als der reale Fortschritt, obgleich jener sich nur in diesem realisiert, und dass es nicht wesentlich darauf ankommt, ob- kosmische Zufälle dem Geist volle Verwirklichung auf Erden gestatten. Wir dürfen Meister Eckhart Glauben schenken, wenn er verheißt: Gebricht dir’s nicht am Wollen, sondern allein am Vermögen, wahrhaftig! vor Gott hast du alles getan.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VIII. Amerika
© 1998- Schule des Rades
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