Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

II. Ceylon

Kandy: Fledermäuse und Krabben

Gestern, um Sonnenuntergang, sah ich Vögeln von Schreiadlergröße zu, welche scharenweise, in reiherartigem Flug, taleinwärts zogen; und erkannte dann plötzlich, dass es nicht Vögel, sondern — Fledermäuse waren; fliegende Hunde. — Wie wenig einen inmitten der tropischen Natur das Unerwartete doch überrascht! Augenscheinlich ist die Psyche hier in gleichem Maße auf die stärksten Gegensätze eingestellt, wie dies der Körper auf die zwischen Licht und Schatten ist, so dass das Seltsamste normal erscheint. Würde es mich überraschen, wenn mir im Dschungel ein Gott entgegenträte? Kaum. Denn unglaubwürdiger könnte er kaum wirken, als es so viele Geschöpfe tun, die täglich vor mir ihr Wesen treiben. Die Spannweite des Möglichen ist in den Tropen so groß, dass der Mensch das Überrascht- und Entsetztsein bald verlernt. Der objektiv schroffste Gegensatz, den ich bisher gewahrt, ist der zwischen dem lieblich blauenden Meer, das gegen die Palmenbestände von Mount Lavinia anplätschert, und den furchtbar gepanzerten, boshaften schwarzen Krabben, die zu hunderten am Gestade seitwärts einherchassieren. Kein Tier figurierte besser in der Hölle; sicher riefe es am nordischen Strand in meiner Seele die schrecklichsten Bilder wach. An dem von Ceylon konnte ich mich seiner nur freuen. Ich mochte mir die Krabben vielhundertmal vergrößert vorstellen — im allgemeinen das sicherste Mittel, um das Gruseln zu erlernen — sie wurden dadurch nicht furchterweckender. So werden die Riesenechsen der Vorwelt, die, in unsere Natur hereinversetzt, Angst und Schrecken um sich verbreiten würden, in ihrem natürlichen Milieu, das noch viel stärkere Kontraste in sich beschlossen haben muss, als heute die Tropenwelt, vielleicht als liebliche Erscheinung gewirkt haben.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
II. Ceylon
© 1998- Schule des Rades
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