Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

II. Ceylon

Kandy: Der Tausendfuß und die Vollkommenheit

Morgen trete ich eine Wagenfahrt durch das Innere Ceylons an. Die letzten Tage über habe ich ausschließlich der Naturbeobachtung gelebt, um nicht gar zu unerfahren und ungewitzigt in den Dschungel einzuziehen. Ich finde es über Erwarten schwierig, im Lichte der Tropensonne zu sehen: die übergroße Belichtung gleicht alle Nuancen dermaßen aus, dass noch so bunte Geschöpfe sich vom farbigen Hintergrunde kaum abheben. So scheinen die Wälder um Kandy mir unbelebter zu sein, als alle, die ich bisher sah.

Heute ist es mir nun endlich geglückt, nachdem ich an die hundert Steine umgewälzt und viele faule Baumstämme durchgestöbert, einen jener großen Tausendfüßler aufzuscheuchen, die in den Tropen heimisch sind. Es ist ein scheußliches Tier. Alles an seiner Gestalt widerstrebt den positiven Tendenzen der Menschennatur; jede seiner Eigenschaften, dem Menschen angedichtet oder ins Menschliche hinüber transponiert, würde ihn zum Ungeheuer machen; und es nimmt mich wunder, dass die Primitiven des Buddhismus, welche die Vogelspinne so weise zur Ausstattung ihrer Hölle zu verwenden wussten, dieses Untier übergangen haben. Ja, scheußlich ist die Skolopender; und doch könnte es mir nicht einfallen, ihre Existenzberechtigung in Frage zu stellen, wie dies verfehlten Exemplaren der Menschheit gegenüber mein erster Gedanke ist: sie ist vollkommen in ihrer Art. Gesteht man die Voraussetzung dieser Schöpfung zu, dann muss man auch einräumen, dass sie vortrefflich ausgeführt ist.

Woher weiß ich, dass der Tausendfuß vollkommen ist? Besondere Gründe kann ich nicht anführen; aber der Sachverhalt ist evident, wird jedem evident erscheinen, der die Fähigkeit hat, sich in andere Wesen hineinzuversetzen. Es ist etwas überaus Merkwürdiges um diese Evidenz, welche aller Vollkommenheit eignet: denn sie drängt sich innerhalb gebührender Grenzen auch dem Uneinsichtigsten auf. Kein Beispiel erweist dies wohl deutlicher, als das des Engländers. So oft ich mit Vertretern dieses Volkes zusammen bin, frappiert mich der Gegensatz zwischen der Dürftigkeit ihrer Anlage, der Begrenztheit ihres Horizontes mit der Anerkennung, die sie mir wie jedem anderem abnötigen. Selbst die bedeutenderen unter ihnen (die hochbedeutenden bleiben hier wie überall natürlich außerhalb des Rahmens genereller Betrachtung) sind als geistige Wesen schwer ernst zu nehmen, sie wirken auf mich wie die Tiere, die mit einer Anzahl unfehlbarer Instinkte ausgestattet, einen Ausschnitt der Wirklichkeit vollkommen beherrschen, im übrigen aber blind und unfähig sind. In ungeheurem Maße fehlt es ihnen an Originalität, so ursprünglich sie andererseits sind; einer denkt, empfindet, handelt wie der andere, keines Seelenleben birgt Überraschungen. Aber genau im selben Sinne wie die Tiere, muss ich auch die Briten unbedingt gelten lassen: sie stellen, so wie sie sind, die vollendete Erfüllung ihrer Möglichkeit dar; sie sind ganz, was sie allenfalls sein könnten. Dies ist denn der Grund ihrer Überzeugungskraft, ihrer Überlegenheit über die übrigen Völker Europas (die sich zurzeit vernünftigerweise nicht bestreiten lässt) des ansteckenden Charakters ihrer Eigenart: sie allein unter allen Europäern sind in ihrer Art wirklich vollkommen, und vor der Vollendung beugt sich jedermann. Des Deutschen so viel reichere Naturanlage hat ihre Form noch nicht gefunden: so wird er ohne zwingenden Grund noch nirgends gelten gelassen. Dass Vollendung aber auch für ihn im Bereich des Möglichen liegt, beweist der eine, einzige Typus des Deutschen, der bisher einen vollkommenen Ausdruck bezeichnet: der österreichische Aristokrat. Dieser mag nicht allzuviel taugen; bei ihm mag, wie dies bei Kühen so leicht geschieht, die Züchtung auf Form die Leistung beeinträchtigt haben: immerhin ist er vollkommen in seiner Art. So wird er denn auch allerorts wie selbstverständlich gelten gelassen, er wird umschmeichelt, nachgeahmt, hochgeschätzt, und der hochmütige Brite als erster bewirbt sich um seinen Verkehr.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
II. Ceylon
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME