Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

II. Ceylon

Am Minneri-See: Formen des Auffassungsvermögens

Noch einmal bin ich auf den Spielplatz der Tiere hinausgewandert. So manchen prächtigen Adler habe ich beschlichen, Legionen von Wasservögeln aufgescheucht. Jedesmal aber, wo ich aus dem Sumpf in den Dschungel einbog, ward es lebendig in den Baumkronen von langgeschwänzten Affen, die in flugartigen Sätzen vor mir die Flucht ergriffen.

Wunderbar, wie viel man durch solche Stunden ausschließlichen Schauens gewinnt! Vom Geiste her betrachtet, liegen eben die Bilder der Wirklichkeit auf einer Ebene mit den Schöpfungen der Phantasie, so dass zwischen Erfahrungen und Einfällen kein wesentlicher Unterschied besteht. Wer offenen Sinnes beobachtet, ist eben so lange produktiv; wer alles bemerkt hätte, der hätte aus eigener Kraft die Welt noch einmal erschaffen. Nun braucht aber die Seele eine reiche und mannigfaltige Nahrung, wenn sie gedeihen und sich aufsteigend entwickeln soll, und kein Gehirn ist so produktiv, dass es solche aus sich heraus in genügender Menge beschaffen könnte: deshalb kann keiner es sich unbeschadet leisten, von seinen Einfällen allein zu existieren. Äußere Erfahrung ist unbedingt vonnöten, auch noch deshalb, weil der Geist nie frei wird, wo er sich ständig von eigenen Produkten umgeben sieht. Alle die, welche sich ganz in ihre eigenen Welten einspinnen, verkümmern, und seien diese Welten noch so weit; ihr Innenleben wird nicht reicher, sondern ärmer; sie verknöchern mehr und mehr in ihrer Eigenart. Das habe ich an mir selber erfahren. Während der Jahre, die ich in Großstädten zubrachte, hatte ich mich des Schauens beinahe entwöhnt, da deren Getriebe mein Interesse nicht fesselt. Die Folge davon war, dass meine Ideen auszukristallisieren begannen, so dass ich Gefahr lief von ihnen eingekerkert zu werden. Beinahe wäre ich, mit siebenundzwanzig Jahren, in einem selbstverfertigten System erstickt… Glücklicherweise ward ich der Gefahr noch, ehe es zu spät war, gewahr. Jetzt zwinge ich mich zur Beobachtung, auch wo ich wenig Neigung dazu verspüre; jetzt pflege ich das bisschen Neugierde, das mir noch übrig geblieben ist und weiß jedem Eindruck Dank, der meine Hirngespinste zerreißt.

Ja, man muss schauen können… kann ich’s wirklich? In dem Sinn und Maße, wie ich wollte, kann ich’s nicht. Mehrfach habe ich die Absicht gehabt, irgendeines der erschauten Wunder zu beschreiben, und dann jedesmal erkennen müssen, dass ich dazu nicht imstande bin. Also habe ich sie nicht wirklich erschaut. Gewiss ist es nicht wahr, dass Empfinden Ausdrucksfähigkeit bedingt — Erlebens- und Schöpferkraft gehören verschiedenen Dimensionen an — wohl aber liegen, wie ich’s schon niederschrieb, Anschauungen und Einfälle, vom Geist her betrachtet, auf einer Ebene, so dass einer nur das wirklich auffasst, was ihm auch hätte einfallen können. Mir nun fielen Einzeldinge niemals ein, also kann ich sie auch außer mir als solche nicht sehen. Meine Einbildungskraft führt das Einzelne reflektorisch auf seinen inneren Grund zurück, von welchem aus nicht das Ding als das Eigentliche erscheint, sondern dessen Möglichkeit. Dass diese Deutung meiner Auffassungsart richtig ist, erweist die Gegenprobe, die am Erinnerungsvermögen angestellt werden kann. Schon vor Jahren meinte ein geistreicher Freund, ich würde auf dem Jüngsten Gericht mit einem Sekretär zu erscheinen haben: so schlecht wäre mein Gedächtnis für die Episode. Ich kann wirklich nichts Einzelnes behalten, keine Fabel, keinen fait divers; umgekehrt aber scheine ich außerstande, einen allgemeinen Zusammenhang zu vergessen. Nur im Augenblick der produktiven Spannung stellt sich Gedächtnis für Einzelheiten ein. — Was habe ich nicht gegen diese Beschränkung angekämpft! Wieder und wieder habe ich versucht, zu Besonderem ein inneres Verhältnis Zugewinnen, mich in ein Einzelwesen, ein Bild, eine Zeit vollkommen und dauernd einzubilden; wieder und wieder habe ich mich dem Einflüsse von Geistern hingegeben, welche das, was mir abgeht, vermochten — es war umsonst. So habe ich mich bei der Erkenntnis bescheiden müssen, dass es ein Missverständnis bedeutet, seine empirischen Grenzen als solche sprengen zu wollen; man muss zusehen, wie weit man in ihnen und mit ihnen kommt.

Es herrscht noch viel Unklarheit unter Psychologen und Ästhetikern über die verschiedenen Arten des Auffassungsvermögens, Malern wird häufig Tiefsinn zugesprochen, Philosophen malerische Anschauungskraft. Solche Urteile sind meistens falsch. Wer die Erscheinung vollkommen darstellt, wie dies der große Maler und Dichter tut, bringt eben damit auch ihren geistigen Gehalt zum Ausdruck — doch seine Seele braucht nichts davon zu wissen. Wer umgekehrt den inneren Sinn erfasst, übersieht implizite die Erscheinung — aber er braucht ihrer nicht faktisch gewahr zu sein. Das interessanteste Beispiel dieser Art bietet Leo Tolstoy. Ich kenne keine tiefergreifende Darstellung des Menschenlebens als dessen Epos vom großen Franzosenkrieg, doch ich weiß, dass Tolstoy als Person jeder philosophische Tiefsinn gefehlt hat. Wie den meisten Russen (und allen noch jungen undifferenzierten Rassen) fehlte Tolstoy die Gabe der intensiven Abstraktion, die Fähigkeit, das Besondere im allgemeinen zusammenzufassen, welche Fähigkeit den Tiefsinn definiert Dafür besaß er das Falkenauge des Wilden. Stellt nun einer eine Erscheinung, die er nur sieht, nicht versteht, vollkommen als solche dar, so wird der tiefsinnige Leser die Darstellung unweigerlich als tiefsinnig beurteilen — ja größere Tiefen in ihr entdecken, als bei an sich profunderen Poeten, deren Auge aber weniger scharf und unbefangen sah.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
II. Ceylon
© 1998- Schule des Rades
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