Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

II. Ceylon

Anuradhapura: Poesie der Vergänglichkeit

Noch einmal durchwandere ich die gewaltige Ruinenstadt, mit ihren berggroßen Stupas, ihren ungeheuren Palastanlagen, ihren mächtig eingedämmten Teichen. Es wird Abend. Vor der Ruangweli-Daghoba beten fromme Pilger. Ein Mönch beginnt mit getragener Stimme die Liturgie, und die Laien fallen rhythmisch ein. Auf dem Altar stehen duftende Blumenspenden. Rings um das Heiligtum, soweit der Vorrat reichte, haben die Frommen Kerzen aufgestellt, und nun, wo sie angezündet sind und die Dämmerung zur Nacht wird, heben sie sich ab vom steinernen Grund, wie die Sterne vom dunkeln Himmelsraum. — Welch’ tiefe Poesie liegt im Reliquiendienst! Hier hat ein frommes Volk, von einem frommeren Herrscher geführt, in jahrlanger mühsamer Arbeit einen Berg über einem Andenken aufgetürmt, auf dass es nie und nimmer zu Schaden käme. Wahrscheinlich stammt die Reliquie nicht wirklich vom Buddha her: was tut es? Die Hauptsache ist, dass sie der Andacht einen Anhalt gebe. Der Liebende zieht oft ein wertloses Andenken dem kostbaren vor, weil jenes das, was es bedeutet, am reinsten, weil unvermengtesten zum Ausdruck bringt.

Es ist tief bedeutsam, dass der Reliquiendienst gerade innerhalb des Glaubens, der vom Vergänglichen am geringsten denkt, eine so große Entfaltung erlebt hat. Je vergänglicher ein Besitz, desto kostbarer erscheint er dem Menschen: so hat die Versicherung Buddhas, dass es nach seinem Tode mit ihm für immer zu Ende sein werde, zum Gegenteil dessen geführt was er beabsichtigt hatte: man hat desto mehr an dem festgehalten, was von ihm übrig blieb. Nicht nur alle seine Worte hat man treulich aufbewahrt, seine Lehren, die Geschichten aus seinem Leben: seine irdischen Reste sind zum Kultobjekt geworden, und er selbst ward zum Gotte verklärt. Das Volk kann die Nirwanalehre nicht so verstehen, wie der Erleuchtete sie verstanden wissen wollte: ihm bedeutet das Nirwana des Vollendeten, dass er der Zeit zwar entrückt, desto ewiger weiterdauert. Aber freilich weiß es dieses nicht gewiss; täglich belehren es ja die Mönche des Gegenteils. So hat das Gebet an den heiligen Stätten den Charakter der Panichide. Eine süße Schwermut durchzittert die Liturgie, wie die Trauer um ein teures Wesen, das man selig hofft.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
II. Ceylon
© 1998- Schule des Rades
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