Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Madura: Bedeutung der indischen Götter

Es wundert mich nicht, dass europäische Besucher der drawidischen Kunst so schwer gerecht werden: denn keiner unserer gewohnten Maßstäbe ist hier anlegbar; nichts vielleicht am Tempel von Madura ist von der Vernunft her zu verstehen. Kein einheitlicher Grundriss liegt dem Bau zugrunde, keine leitende Idee hat Ausführung und Ausschmückung beherrscht, kein geistiger Gehalt beseelt das Ganze. Seine Größe, seine Monumentalität ist ohne symbolische Bedeutung: sie ist das Zufallsergebnis reicher Mittel. Seine Zinnen scheinen planlos hervorgesprossen, wie die Arme eines Korallenstocks, seine Ornamente wildem Fleisch gleich hervorgewuchert zu sein. Von allen Vergleichen der gegenständlichste ist der, welcher diesen Tempel zu einem Knospenagglomerat in Beziehung setzt: allenthalben wachsen, drängen, stoßen Einzelgebilde aneinander in überschwenglicher Fülle; die nur undeutlich erkennbare Gesamtgestalt wirkt als Naturspiel fast im gleichen Maße, wie die Form einer gotischen Kathedrale, die hie und da in den Riffbergen Tirols des Steigers Auge überrascht.

Aber wer die eigensten Voraussetzungen dieser Kunst erfasst hat, dem erscheint sie tief bedeutungsvoll. Sie ist der Höchstausdruck physischer Imagination. Gestern schrieb ich vom Sinn der indischen Göttergestaltung: in ihr hätten die Urtriebe Körper gefunden, wie sie entsprechender kein anderes Volk erdichtet; und fügte hinzu, dass solche Schöpfung nur einer unvereinheitlichten Psyche gelingen konnte, einer Psyche, die noch wesentlich vielfältig ist, unverdichtet zur geistigen Einheit; die hinduistische Plastik als Ganzes bedeutet die Wiedergeburt in der Phantasie der Gesamtheit unintellektualisierter Lebenskräfte. Das Wenigste am Leben ist von Hause aus vernunftgemäß, lässt sich ursprünglich auf einen geistigen Grund zurückführen; Begierden, Empfindungen und Gefühle, Impulse und Wollungen, Wachstumsdrang und Altersverzicht sind wesentlich irrationale Phänomene, und man nimmt ihnen ihre Eigenart, indem man sie rationalisiert. Diese Eigenart kommt in der indischen Kunst in einzigartiger Unverfälschtheit zur Geltung. Der Tempel von Madura scheint entstanden, wie ein primitiver Organismus erwächst: planlos, ziellos, ohne Selbstkontrolle, jedem Drang blind folgend, jäh umschlagend von einer Phase in die andere, in seinen Grenzen nur vom Schicksal zusammengehalten; dafür desto unbefangener sich darstellend in jeder Stimmung, unverkümmert durch Verzicht und Vorurteil, voll ausgeschlagen, vollblütig und farbig. So wirkt das Ganze notwendig unvollkommen, aber das Einzelne ist meistens schön. Die Meisterschaft der Hindus in der Detailarbeit gegenüber ihrer Unzulänglichkeit im Planvoll Großen hat hier ihren tiefsten Grund.

In Ceylon verweilten meine Betrachtungen oft beim vegetationsartigen Charakter tropischer Geistesschöpfung; und ich sprach die Vermutung aus, der Hinduismus in seinem unübersichtlichen Reichtum sei wohl auch als vegetativer Vorgang zu verstehen. Ich hatte recht im Prinzip; aber damals wusste ich nicht, welch’ ungeheure Potenz dessen Geiste innewohnt: auch dort, wo er tropische Menschen besaß, hat er, in allen positiven Phasen seines Lebens, seine bestimmende Kraft in hohem Grade bewahrt; was vom ceylonesischen Buddhismus durchaus gilt, ist beim Hinduismus nur insoweit wahr, dass es das Grundgewebe seines Körpers bildet. Aber freilich handelt es sich auch bei ihm um kein freies Geistesschaffen: es handelt sich um animalisches Werden. Um ein genau so Naturhaftes wie bei der Vegetation, nur aktiver, selbstbestimmter, zielstrebiger. Ein energischer Geist liegt hier dem Wachstum zugrunde, was dessen Gebilden eine Kraft, eine Gespanntheit gibt, die den buddhistischen fehlt. Ich gedenke der ungeheuren Übertreibungen, die alle indische Mythenbildung auszeichnen: hier trinkt ein Weiser das Weltmeer aus, dort ehelicht ein Fürstensohn zehntausend Jungfrauen in einer Nacht; viele Lakhs von Geburten hat Gautama durchgemacht, ehe dass er zum Buddhatum reif ward, Millionen von Armen schwingt Krishna mit einem Mal. Ich gedenke des überschwenglichen Reichtums an Göttern, die das indische Pantheon zusammensetzen, der unübersehbar vielfältigen Vorschriften des tantrischen Rituals; der Überzahl an Worten, Begriffen und Vorstellungen mit denen das Inderdenken operiert: das sind freilich Wucherungserscheinungen und insofern vegetativ, aber eine so fruchtbare Imagination steckt hinter ihnen, und sie selbst sind so lebendig, so bewegt, dass man an Tierleiber zum Vergleiche denkt, nicht an noch so wildwuchernde Gewächse. Mir ist beim Anblick der indischen Formenwelt, als hätte die Phantasie des Fleisches sie erschaffen, als hätte die Einbildungskraft eines großen Dichters sich den Körperzellen eingebildet, so dass jetzt der Körper im gleichen Sinne produziert, wie jener sonst in der psychischen Sphäre. Was geschähe, wenn eine freieste Phantasie unentrinnbar an Fleisch gefesselt wäre? — Es entständen eben solche Gebilde, wie sie für den indischen Mythos charakteristisch sind. Die Idee der Allmutterschaft stellte sich, genau wie am Haupt-Gopuram des Maduratempels, in unendlichem Über- und Aneinandersprossen milchstrotzender Brüste dar, die Allmacht verkörperte sich in hunderttausend Organen, und so fort. So schüfe der Körper, wenn er dichten könnte. So hat der Hindugeist in seiner größten Zeit geschaffen. In seiner Kunst erscheint er ganz unintellektualisiert, unvereinheitlicht, ohne Einheitsbedürfnis; eben deshalb aber auch ausdrucksfähiger, wo es Irrationelles darzustellen gilt, als irgendein anderer. Ihm allein vielleicht ist es geglückt, an sich Unsichtbares überzeugend in die Welt des Sichtbaren hinauszustellen. In ihm haben eben die dunklen bildenden Kräfte mit der gleichen Unbefangenheit gewirkt, wie sonst nur im Körper, wo der Drang fast mit Unvermeidlichkeit zur entsprechenden Organschöpfung führt. Im einen tanzenden Shiva steckt mehr Göttereigenart als im ganzen Heere der Olympier.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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