Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Tanjore

Viele Stunden lang habe ich heute den Tänzerinnen des Tempels zugeschaut. Sie tanzten vor mir, zur Begleitung jenes seltsamen Orchesters, das bei allen heiligen Zeremonien Indiens spielt, in halbdunkler Halle; und je länger sie tanzten, desto mehr faszinierten sie mich. Es wird erzählt, dass Nana Sahib, nachdem er das Gemetzel der englischen Gefangenen angeordnet hatte, sich vier Nautsch-Mädchen kommen ließ, und die ganze Nacht hindurch, regungslos dasitzend, ihren wallenden Bewegungen gespannt gefolgt sei. Vormals dachte ich, zu solcher Wahl der Erholung, zu solcher Ausdauer beim Genuss, bedürfe er eines besonderen Temperaments; heute weiß ich, dass bloßes Verständnis genügt: auch ich verlor angesichts des Nautsch jeden Zeitbegriff und fand mein Glück darin. Die Idee dieses Tanzes hat wenig gemein mit der, welche den unserigen zugrunde liegt. Es fehlen alle großen, breiten Linienführungen, es fehlt jede Komposition, die Anfang und Ende hätte; die Gebärden bedeuten nie mehr, als ein flüchtiges Gekräusel auf ebenem Wasserspiegel. Viele beginnen und enden mit den Händen, andere fließen langsam in den ruhenden weichen Leib zurück, und kommt es zu einer in sich vollständigen Zeichnung, so verschwimmt und verschwindet diese so schnell, dass sie gerade nur ein flüchtiges Aufmerken bewirkt und zu keiner anhaltenden Spannung führt. Die glitzernden Gewänder verhüllen und dämpfen die Bewegtheit des Muskelspiels, jede scharf anhebende Kurve klingt sanft in goldenen Wellen ab, in denen sich die Geschmeide wie Sterne funkelnd widerspiegeln. Diese Kunst enthält, so bewegt sie auch sei, kein einziges beschleunigendes Motiv. Daher kann man ihr endlos zuschauen. Unser Tanz bedeutet eine bestimmte endliche Gestalt, die in der Zeit beginnt und aufhört; der Zuschauer versetzt sich in das Linienspiel hinein, wobei er sich anstrengt, identifiziert sich mit dessen Sinn und ist die Zeichnung vollendet, dann sinkt er ermüdet in sich zurück, weil keiner dauernd außer sich leben kann. Es ist unmöglich dem vollendetsten westlichen Gebärdenspiel langandauernd zuzuschauen. Anders steht es mit dem Nautsch: dessen Anblick versetzt den Zuschauer nicht aus sich selbst hinaus in ein Fremdes hinein, er lässt ihn sich seines eigenen Lebens bewusst werden; er exteriorisiert, wie bei der Uhr die Zeigerbewegung, seinen intimen Lebensprozess, und dieses wird keiner je müde. Alle hastigen Bewegungen sinken, kaum hervorgesprudelt, zurück in das Bathos des ruhig dahinfließenden Lebensstroms, was diesen zum unmittelbaren Erlebnis macht. Denn den Lebensstrom als solchen spüren wir nicht; wir bemerken nicht den Kreislauf des Blutes. Unserer Dauer werden wir uns an den kleinen Vorfällen bewusst, die wieder und wieder, von der Oberfläche kommend, die tieferen Schichten in gelinde Wallung versetzen. Eben das bezwecken und erreichen die Bewegungen beim indischen Tanz. Sie sind gerade ausgesprochen genug, um den Menschen seiner selbst bewusst zu erhalten, es ihm leicht zu machen, sich leben zu spüren.

Dieses ist der Sinn des indischen Tanzes. Es ist der gleiche, der aller indischen Gestaltung überhaupt zugrunde liegt. Nur tritt er beim Nautsche deutlicher zutage als sonst. In der Plastik wirkt der Reichtum der Formen so verwirrend, das der Beschauer ihren Grund leicht übersieht. Hier wie dort ist es der dunkele Grund des Lebens, als solcher formlos, unfassbar, unverständlich. Es ist kein rationelles Prinzip, keine Idee, es ist ein rein Zuständliches. Von diesem zuständlichen Urgrund her betrachtet, wirkt alles Gegenständliche als zufällig, sinnlos, inkoherent, gesetz- und zwecklos. Als Erscheinung mag es immerhin wirklich sein. Wer aber nach dem Sinne fragt, der wird vom Inder aus aller Wirklichkeit fort in die namenlose Tiefe des Seins hinab verwiesen, welche die Gestalten gleich Blasen an die Oberfläche treibt.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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