Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Adyar: Glauben

Ich lasse mir viel erzählen, was in anderen Welten passiert, und wie es in ihnen aussehen soll. Die meisten meiner Unterredner glauben nur, aber einige sind überzeugt, dass sie wissen und berichten über unerhörte Erlebnisse so sachlich-ruhig, wie ein Naturforscher über seine jüngsten Experimente referiert. Ich befinde mich ihnen gegenüber in eigentümlicher Lage: ich weiß nicht, wieviel objektiv wahr an ihren Behauptungen ist, und kann sie nicht nachprüfen. Aber als unmöglich kann ich sie nicht abweisen, nicht einmal mit einiger Zuversicht ihre Unwahrscheinlichkeit behaupten, da mir jeglicher Maßstab dafür fehlt, was in anderen Sphären vorgehen kann. Ich verspüre auch kaum Neigung hiezu: wieder und wieder vernehme ich Aussagen, deren innere Wahrscheinlichkeit mich frappiert, wieder und wieder sagt mein Innerstes: selbstverständlich; es kann ja gar nicht anders sein, und du weißt es ja eigentlich selbst. Aber diese Anamnesis wage ich nicht ernstzunehmen, da ja Märchen, als Geist von seinem Geist, dem Menschen immer wahrscheinlich vorkommen, viel wahrscheinlicher, als die Vorgänge in der unmenschlichen Natur, weil ferner in jedem lebendigen Gemüt die Sehnsucht nach dem Wunderbaren lebt. So schalte ich zur inneren Beruhigung für ein Weilchen den Mann der Wissenschaft aus und gebe mich mit kindlicher Unbefangenheit den neuen Eindrücken hin. Jede Erzählung lasse ich in mich hinein; jede Idee nehme ich rückhaltlos auf; und lasse es gern geschehen, wenn Chiromantiker die Linien meiner Hand, Phrenologen meine Schädelform und Astrologen meine Nativität untersuchen.

Wie reich muss doch das Leben derer sein, die an alle die Zusammenhänge glauben, deren Dasein die Theosophie behauptet! Schon banal-abergläubische Menschen sind mir in häufigen Stimmungen ein Gegenstand des aufrichtigen Neids; eine Zeitlang habe ich mich selbst dazu abgerichtet die Superstitionen meines jeweiligen Aufenthaltsorts für die Zeit meines Dortseins zu übernehmen, denn wunderbar farbig wird das Leben durch das Anerkennen mysteriöser Verknüpfungen. Das System der Theosophie nun hat den ferneren Vorzug, dass es nicht nur die Einbildungskraft, sondern auch den Verstand erfreut. Wenn es der Wahrheit entsprechen sollte, so erschiene dieses Dasein damit vor der Vernunft in hohem Grade gerechtfertigt. Mich persönlich macht freilich gerade die übergroße Rationalität des theosophischen Weltenplanes stutzig. Die Vernunft reicht sonst so wenig tief in das Herz der Dinge hinab, alles Wesentliche ist sonst so irrational, Theorien erweisen sich sonst als desto unzulänglicher, je Wesentlicherem sie gerecht werden sollen — sollte da wirklich ein dermaßen simplistisches Schema dem Sinn der Wirklichkeit gemäß sein? Tut es das, so würde ich persönlich es bedauern… Allein, was kann man wissen? Vielleicht hat die Theosophie trotz meiner Philosophenbedenken recht. Alles stimmt doch nicht zusammen in dieser Welt. Ich indessen hoffe und glaube bis auf weiteres, dass die Theorien der Theosophie nicht mehr als grobe Allegorien bezeichnen.

Im übrigen steckte ich nicht ungern in deren Haut, welche willkürlich von einer Ebene des Daseins auf andere hinübergleiten: deren Leben muss gar abwechselungsreich sein. Was habe ich mein Lebtag darunter gelitten, dass ich immer den gleichen Körper tragen, mit immer gleichen äußeren Organen zur Welt in Beziehung treten muss! Die, welche es gelernt haben, ihrem Leib zu entschlüpfen, und nun mit anderen Sinnen, in anderer Form die Bilder der Natur in sich aufnehmen, haben es besser. Sie können ihres Daseins nicht leicht überdrüssig werden. Leider kranken diejenigen unter meinen Bekannten, die sich der Fähigkeit, ihre Daseinsform zu verändern, mit dem größten Anschein von Berechtigung rühmen, an der Krankheit aller Spezialisten: sie überschätzen die Bedeutung ihrer Kunst; sie wähnen dem Atman näher zu kommen, indem sie ihren Aufenthaltsort wechseln und behaupten, jede verstiegenere Sphäre verkörpere einen höheren Grad der Wirklichkeit. So können sie meine Frage nicht recht würdigen, ob die Verkündigung Jesu, die Ersten würden einmal die Letzten sein, vielleicht buchstäblich wahr sei in dem Verstand, dass jede Sphäre besondere Ausdrucksgelegenheiten bietet, dank welchem der, dem es auf Erden am besten gelingt, sich in der Astralwelt vielleicht am hilfslosesten erweisen wird, in deren dünner Luft die Träumer hingegen, die Untüchtigen im irdischen Verstände, sich desto wohler befinden werden? Ich neige stark zum Glauben, dass dem so ist, vorausgesetzt natürlich, was ich nicht weiß, dass es eine Astralwelt gibt. Aber nie werde ich glauben, es sei denn, man bewiese es mir, dass die, deren wahre Heimat nicht die Erde ist, deswegen die wertvolleren seien; entweder ist eine Anlage die andere wert, oder aber die Ausdrucksfähigkeit auf Erden bestimmt den Rang. Ich persönlich bin fest überzeugt, dass alle Hauptentscheidungen auf Erden fallen, dass die, welche das Leben nach dem Tode als das vollere beurteilen, im Irrtum sind. Da ich über dieses aus eigener Erfahrung nichts weiß, kann ich kein assertorisches Urteil fällen; aber ich habe die Berichte anderer aufmerksam studiert, und diese sprechen doch sehr für meine Auffassung. Unser vielgeschmähtes Erdendasein hat den einzigen Vorzug, ernsthafte Widerstände zu bieten. Nur aus widerstehenden Medien können substantielle Gebilde geformt werden, nur wo Widerstand ist, kann Fortschritt stattfinden: insofern gewährt dieses Leben von allen die reichsten Gelegenheiten. Die heiligen Schriften der Inder lehren denn auch ausdrücklich, dass von allen Geburten die ins Menschenleben hinein die günstigste sei, so sehr, dass selbst die Götter als Menschen wiedergeboren werden müssten, wenn sie über das Göttertum hinausgelangen wollten; in ihrer allzu leichtflüssigen Welt blieben sie ewig, was sie sind; der Mensch hingegen, dem es ernst ist, könne unmittelbar ins Nirwana hinübergelangen. Wohl kann ich mir vorstellen, dass es Menschen gibt, die in anderen Welten besser zu Hause sind als hier; aber das sind die Impotenten, die Schwachen. Wer sich deutlich ausdrücken kann, ist im absoluten Verstände mehr, als der, welcher bloß meint und stammelt. Zum Träumen, zum Ahnen, zum Schwelgen in Gefühlen und Stimmungen gehört nicht viel. Erst wenn das Wort Fleisch geworden, ist es vollkommen realisiert. Und diese Realisierung gelingt am besten auf Erden. So bekenne ich mich für meine Person, je mehr ich von anderen Lebensmöglichkeiten höre, desto entschiedener zur äußersten Ausnutzung dieser. Das, was in ihr vollbracht werden kann, ist so bedeutend, dass es wenig verschlägt, wenn der auf Erden Ausdrucksfähige hinterher in anderen Sphären entsprechend versagen mag. Hätte Odysseus den klagenden Schatten Achills gefragt, ob er, zum Gewinn eines besseren Leben nach dem Tode, sein Heldendasein rückgängig machen wollte, dieser hätte ihm verächtlich den Rücken gekehrt.

Die meisten Theosophen sind Spekulationen dieser Art nicht hold. Sie glauben, wollen dass alle glauben, und verhalten sich kaum weniger feindlich zu jedem Versuch der Kritik an ihrem Dogmenbau, wie nur irgendein religiöser Verband. So wenig wird der Grundcharakter des Menschen durch ein noch so weitherziges Bekenntnis verändert! Die meisten Theosophen verkennen eben, dass unter allen Religionsformen auch die ihre nur auf relative Gültigkeit Anspruch erheben kann. (Denn die Theosophie ist eine besondere Religion, trotz aller Statuten der Gesellschaft, und muss es sein, sofern sie lebendig wirken will.) Wird die Menschheit nie über die Vorstellung hinauswachsen, dass ein bestimmter Glaube allein selig macht? Fast fürchte ich es, denn sie liegt allzu nahe und ihre vermeintliche Wahrheit scheint allzu evident. Wahrscheinlich entspricht ja die Theorie, dass nur der Gläubige erlöst werden kann, dem Tatbestande wirklich insofern als nur der, dem sein Unsterbliches bewusst ward, der das göttliche Licht in sich entzündet, Aussicht hat, den Tod bewusst zu überdauern. Da nun jeder Religionsstifter aus Erfahrung nur ein Mittel kennt, dieses Licht zu entzünden, so kann ihm nicht verdacht werden, wenn er verkündet: wer mir nicht glaubt, verfällt dem Gericht.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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