Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Adyar: Reinkarnationslehre

Immer wieder versichert man mir, die Reinkarnationslehre sei keine Interpretation, sondern der unmittelbare Ausdruck eines nachweisbaren Tatbestandes. Ich kann diese Versicherung nicht nachprüfen, enthalte mich daher des Urteils: Immerhin ist sie eine Theorie, und Theorien sind keine Tatbestände. Mich wundert, dass es noch keinem Reinkarnationsgläubigen aufgefallen ist, dass sein Glaube praktisch auf das gleiche hinausläuft, wie der entgegengesetzte an die gottgewollte Einfürallemaligkeit jeder Lebensstellung, wie Konfuzianismus und lutherisches Christentum sie voraussetzen. Denn auch er behauptet ja nicht, dass eine gleiche Person von Verkörperung zu Verkörperung fortschreitet (wie wenig dies der Überzahl seiner Bekenner klar sein mag, die sich ja meistens aus Selbsterhaltungstrieb zu ihm bekehrt haben), sondern nur dass von innen -her ein objektiver Zusammenhang besteht zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen des Lebens. Eben das behauptet das Luthertum; nur das vereinigende Band interpretiert es anders. Darum wäre ich, als kritischer Philosoph, bis auf weiteres geneigt, den sich ausschließenden Theorien den gleichen Wahrheitsgrad zuzusprechen. Die eine drückt den Tatbestand in kinematischer, die andere in statischer Sprache aus.

Die kinematische Auffassung des Lebensprozesses hat nun unzweifelhaft sehr große Vorzüge. Wie keine andere rechtfertigt sie das Geschehen vor der Vernunft, sie nimmt ihm seinen trostlosen Charakter, stimmt das Herz Vertrauens- und hoffnungsvoll. Es sollte mich sehr wundern, wenn sie nicht früh oder spät auch im Westen zur Vorherrschaft gelangte. Trotzdem muss ich es jetzt, wo ich Reinkarnationsgläubige aus eigener Anschauung kenne, als die vielleicht größte bonne fortune der westlichen Menschheit ansprechen, dass sie ein paar Jahrtausende lang diesen Glauben nicht gehegt hat. Die weitaus meisten seiner Bekenner sind indolent. Kein Wunder: da sie Jahrtausende vor sich haben, um weiterzukommen, da der Weltprozess sie ferner von sich aus vorwärts treibt (denn der objektive Sinn des Geschehens gilt ihnen als ein aufwärtsgerichteter) so sehen sie keine Veranlassung zur Eile. Sie lassen sich mehr leben, als dass sie leben, verschieben auf übermorgen, was heute geschehen sollte, vertrauen in allem auf die allesvollbringende Zeit. Hiergegen der Christ, der nur ein Leben vor sich hat, eine kurze Frist, deren Ausnutzung unwiderruflich darüber entscheiden wird, ob er errettet werden kann oder ewig wird braten müssen: der hat wahrlich Veranlassung sein Äußerstes dranzusetzen, mit aller verfügbaren Kraft augenblicklich zu tun, was im Augenblick geschehen kann, denn eine Sekunde später ist es vielleicht zu spät. Seine Vorstellung vom Weltlauf ist entsetzlich, gewiss — aber wie sehr stählt sie! Wie verbrüht sie alle Sentimentalität! Wie spornt sie die Lebensgeister an! Wie sehr beschleunigt sie die Entwickelung! Und welches Pathos verleiht sie dem Dasein! Die ganze Dichtigkeit und Effikazität des Westländers, seine ganze Charakterstärke und Willensenergie, sein ganzer trotziger Mut und männlicher Stolz rührt daher, dass sein Glauben ihn dazu erzogen hat, die schwerste Verantwortung zu tragen und sich ohne Umschweife zu entscheiden. Der Europäer (wie übrigens auch der Muslim) stellt dem Inder gegenüber die viel potenziertere Lebenseinheit dar, er ist viel gespannter, vitaler. Das verdankt er zum nicht geringen Teil dem Glauben seiner Väter an das Jüngste Gericht. Auch ich meine, dass dieser seine Arbeit getan hat; dass er jetzt einem weiseren Platz machen kann. Fortan mag sich auch die Christenheit, wenn es ihr so gefällt, zum Wiederverkörperungsglauben bekennen, denn jetzt sind die Eigenschaften, die der alte ins Leben rief, schon so fest unserer Erbmasse eingebildet, dass sie sich ohne äußere Stützungen forterhalten werden. Immerhin ist es unwahrscheinlich, dass dieser Vorstellungswechsel ohne Verlust geschehen wird: das Pathos, das die Überzeugung vom einmaligen und entscheidenden Charakter des jeweiligen Lebens bedingt, geht verloren.

Aber wenn die Seelenwanderungslehre auch sehr große Zukunftsaussichten hat, so steht doch zu hoffen, dass sie niemals die Rolle spielen wird wie heute im Bewusstsein der Theosophen. Anstatt, wie die Inder, den vorausgesetzten Tatbestand gelassen anzuerkennen und im übrigen an anderes zu denken, beschäftigen diese sich unausgesetzt mit den Möglichkeiten der Vergangenheit und Zukunft. Sie studieren ihre okkulten Stammbäume mit einer Eitelkeit, die vielfach widerlich wirkt, arbeiten mit kleinlichster Vorsorge ihrem künftigen Leben vor und schweifen, was das Okkulte betrifft, in der Neugierde in einem Grade aus, der auf der Ebene des Manifesten mit Recht als unanständig gilt… Ich muss an Plato denken, auch einen Gläubigen der Seelenwanderung: wieviel angemessener war die lächelnd-weltmännische Art, mit der er die großen Probleme behandelte, als die irdisch-schwerfällige der Theosophen! Er sagte: freilich wird die Seele wiedergeboren — aber vielleicht wird sie es auch nicht? Wer kann das wissen? Ich selber weiß nicht, was ich weiß; es ist wohl nur eine Redensart, diese Theorie, oder ein schönes Märchen, an das man glauben mag oder auch nicht, je nach der Stimmung…

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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