Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

I. Nach den Tropen

Im Suez-Kanal

Die Luft, die hier weht, regt meine Einbildungskraft gewaltsam an … In der blaugrauen Mondnacht scheint die veilchenfarbene Wüste im Osten über alle Horizonte hinüberzugreifen. Über mir, in schwindelerregender Höhe, weit höher, als ich sie früher gesehen, kreisen blinkend die Sterne, und hoch, hoch über diesen erst wölbt sich das Firmament. Unglaubwürdig weit erscheint der Raum, fast ins Unrühmliche hinübergesteigert. Eine Art horror vacui überkommt mich. Mir ist, als schriee diese tote Welt nach Leben; krampfhaft drängt es mich, wie den Dschinn aus der Flasche, die ihn einschloss, aus meinem Körpergehäuse hinaus, zu wachsen, mich auszudehnen, bis dass die Leere ausgefüllt wäre. Und siehe! Aus meinen Wehen heraus verdichtet sich, vor mir, über mir, zwischen Himmel und Erde, begrenzt und doch allerfüllend, eine ungeheure Gestalt. Die Gestalt Eines, dessen Leib einer Gewitterwolke gleicht, dessen Wesen die Gespanntheit verhaltener Gewalttätigkeit ist. Noch kürzlich war Er gar nicht da; und doch, so wie Er da ist, erscheint Er als Mittelpunkt der Welt. Er, der allzupersönliche, als Seele dieses unpersönlichen Alls. Also bedeutet das große Schweigen nur das Anhalten des Atems vor dem Sturm, diese tiefe, feierliche Stille nur das Aussetzen jähen Verhängnisses. Was geschieht, wenn Der da oben in Zorn entbrennt? — In der Wüste erhebt sich der Samum, fegt der Sandsturm die Dünen fort…

Das ist der Gott, zu dem die Wüstenvölker beten. Es ist nicht Allah, nicht Jahveh; es ist keiner der historischen Götter, die aus dunklen Anfängen, dank sich häufenden Erbschaften, vom Duodezfürsten zum Himmelsgebieter aufgerückt sind. Aber er liegt ihnen allen zugrunde, lebt in allen fort, gleich wie der Ahn in seinen fernen Enkeln fortlebt. Und manchmal, von Zeit zu Zeit, immer wieder, tritt er in eigenster Gestalt hervor. Als das verschmachtende Israel sich in der Wüste gezüchtigt glaubte, war Er es, den es drohend über sich schaute; wenn der Beduine sich vor dem Samum verbirgt, dann ist Er es, vor dessen Grimm er bebt.

Das ist der Wüstengott. Überall, wo der phantasiebegabte Mensch sich hineinlebt in das ihn umgebende All, bringt dieses Götter und Geister hervor. Je nach der Sonderart der Eltern werden besondere Wesen geboren; bald überwiegt das mütterliche, bald das väterliche Blut. In Griechenland sind die Götter nach dem Vater geraten; bei ihnen treten die Züge der Mutter nur undeutlich hervor; fast scheint es, als hätte sie beliebig sein können. Im Falle der Wüstengottheiten hat die Mutter den Charakter bestimmt. Unaufhaltsam, wie naturnotwendig, strahlt die Sandfläche die Gebilde gewalttätiger Himmelsdespoten aus. Dieses tote Universum schreit nach Leben, dieses starre, ewige Gleichgewicht nach Willkür zur Ergänzung, diese Stille ankt nach dem Sturm. Ich weiß nicht, ob die Stämme der Wüste viel Einbildungskraft besitzen: wie einfach, ja dürftig sind doch die Charaktere ihrer Divinitäten! Allein der geringste Keim, von der Wüste dem Himmel eingepflanzt, entfaltet sich zu riesiger Gestalt, so dass ein noch so einfaches Gebild, der Pyramide gleich, durch seine Dimensionen Großheit gewinnt.

In diese Natur passt das ungeheure Menschenwerk, der geradlinige Suez-Kanal, der die Wüste so grausam durchschneidet, gar wundersam hinein. Auch er ist ja ein Willkürprodukt; ein Verhängnis, von überlegener Macht der Wüste aufgedrungen. Hier hat der Mensch wahrhaftig im Sinne Gottes geschaffen.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
I. Nach den Tropen
© 1998- Schule des Rades
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