Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Adyar: Glaubenskraft

Das Faszinierendste für mich an Adyar ist die Atmosphäre der Messiaserwartung. Unter den Residenten befindet sich ein — indischer Jüngling, von dem es heißt, dass der Heilige Geist sich seiner einmal als Gefäßes bedienen werde; das hätten die Meister geoffenbart. Er werde dem kommenden Zeitalter zum Heiland werden. Für einige Tage habe ich diesen Glauben übernommen, um möglichst alles zu erleben, was er bedingt, und gestehe, dass ich ihn ungern wieder abgelegt habe: denn es ist eine Lust zu leben unter solcher Voraussetzung. Welch’ ungeheuren Hintergrund gibt sie dem unscheinbarsten Dasein! Wie steigert sie das Selbstgefühl! Wie spannt und begeistert sie alle Kräfte! Ich bin überzeugt: wenn ich mit meinem ganzen Wesen diesen Glauben dauernd bekennte, ich würde zehnmal leistungsfähiger sein, und, sei er noch so unbegründet, zehnmal schneller meinem inneren Ziele nahekommen. Denn was bedeutet er? eine Objektivierung des Ideals. Nie ist es der Heiland als solcher, welcher erlöst, sondern das Ideal seiner Gläubigen, das er verkörpert. Gleichwie die Anschauung des Kreuzes oder eines Heiligenbildes die Konzentration der Aufmerksamkeit auf das Göttliche erleichtert und verstärkt, genau im gleichen Sinne, nur in höherem Grade, hilft ein fleischgewordenes Ideal. Jeder hat das im Kleinen erfahren. Aufschauen erhebt. Wen immer man verehrt und bewundert hat — solange man ernsthaft verehrte, hat auch das Missverständnis einen weiter gebracht. Es kommt eben nicht darauf an, was das verehrte Objekt an sich sei, sondern auf das, was es einem bedeutet. Hierher rührt es, dass unerreichbare Ideale — unerreichbar nicht allein weil sie transzendent wären, sondern weil ihre Träger fern oder tot sind — sich auf die Dauer am besten bewähren: deren Wirkung kann durch kein empirisches Versagen beeinträchtigt werden; hierher rührt es, dass es religiös so gleichgültig ist, ob ein Gottmensch je gelebt hat oder nicht.

Glauben im religiösen Sinne heißt nicht Für-wahr-Halten, sondern Streben nach Selbstrealisierung durch Konzentration der Gemütskräfte auf ein vorausgesetztes Ideal. Und die unvergleichliche Wirkung lebender Gottmenschen (wo von solchen die Rede sein kann), rührt daher, dass sie ihrer Gefolgschaft das ihre unvergleichlich deutlich machten und seine bildende Kraft dadurch in ungeheurem Maße steigerten. So bezeichnet der theosophische Messiasglaube zunächst ohne jeden Zweifel ein produktives Moment. Wie es später sein wird, steht freilich in Frage. Daran zweifle ich nicht, dass der betreffende Jüngling, falls er lebt und sonst kein Unglück geschieht, zum Religionsstifter werden wird: das würden viele werden untergleich starker Suggestion. Aber sollte sich sein Kaliber als zu klein erweisen, so dass er der Kritik gar nicht stand halten kann, so könnte das desaströse Folgen haben. In früheren Zeiten, wo Heilande, wenn nicht zu den alltäglichen, so doch den nicht allzu seltenen Gästen gehörten, war die Glaubenskraft der Menschen so groß, dass keine Entgleisung und Enttäuschung sie innerlich schädigte; desto weniger, als sie gar nicht wirklich enttäuscht werden konnten — sie glaubten trotz allem und durch alles hindurch. Das war ihr Glück: Glauben ist ein a priori,, eine selbständige schöpferische Macht, die sich als solche selber rechtfertigt. Diesen Glauben kennt der Moderne nicht; der seinige ist ein zartes Gewächs, das der geringsten Verwundung erliegen mag, und von allen Geschädigten ist der Enttäuschte am übelsten dran, weil der Verlust des Glaubens recht eigentlich entvitalisiert. Ohne ihn ist volles Selbstbewusstsein nicht möglich. Weil der Glaube fehlt, deshalb sehnen sich heute so viele nach einer neuen Religion: sie bedürfen eines äußeren Brennpunktes, um ihre inneren Kräfte zur Einheit zu sammeln, denn noch sind die wenigsten so weit, dies von innen her selbsttätig zu vermögen, ohne äußeren Halt enttäuschungsunfähig zu sein. Die jüngste, so tiefsinnige Ausdeutung des Christenglaubens auf den einen Spruch hin, dass das Himmelreich inwendig in uns sei, geht im allgemeinen noch auf kein vertieftes Selbstgefühl zurück, sondern die Erkenntnis einer dem Leben vorausgeeilten Vernunft. Insofern ist die Zeit, da religiöse Führer nützen können, auch für Europa noch nicht vorüber. Aber wie gesagt: die Glaubenskraft ist heute gar zu schwach, und wird ein bestimmter, glücklich erwachsener Glaube auf einmal zerstört, so kann das allen Glauben ruinieren, was unabwendbar zu Nihilismus und Zersetzung führen würde. So sehe ich dem Schicksal des neuen Welterlösers, der im übrigen meiner Sympathie gewiss ist, wie jeder, der ein beschleunigendes Motiv ins Leben bringt, nicht ohne ernste Sorgen entgegen.

Natürlich wollen es die orthodoxen Theosophen ebensowenig wahrhaben, wie die Christen, dass die empirische Tatsächlichkeit eines Heilandes nicht sein Wesentliches sei. Und scheinbar mit Recht, denn zweifellos kommt es darauf an, wer der ist, dem man sich gläubig hingibt. Ein erleuchteter Geist kann noch dunkele Existenzen erhellen, ein Genius der Liebe noch verhärtete Herzen erweichen, was Geringere, die noch so starken Glauben finden, nicht vermögen. Aber das ändert nichts an der Wahrheit meiner Behauptung. Kein Lehrer vermag zu geben, was nicht latent in einem vorhanden war: er vermag nur das Schlummernde zu wecken, das Verschlossene zu befreien, das Verborgene hervorzuziehen. Das genügt, um ihm den Rang zu sichern, den ihm die Menschheit immer zuerkannt hat, denn allzu selten geschieht es, dass einer sich beistände los seiner selbst bewusst werden kann; ohne Hilfe von außen her wird das Latente nur ausnahmsweise manifest. Aber nie darf dies doch so gedeutet werden, dass Lehrer geben, was man von sich aus nicht besaß; sie sind immer nur Auslöser, nicht Schenker. Und was einmal da ist, kann im Prinzip auf tausend Weisen zutage gefördert werden. So haben die Menschen auch von je auf vielen Wegen sich selbst gesucht und gefunden. Die Stärksten ohne äußere Hilfe, weniger Starke mit geringer, noch Schwächere mit größerem äußerem Aufgebot; dementsprechend gibt es Systeme der Asketik von monumentaler Einfachheit abwärts bis zur äußersten Komplikation, Religionsformen mit und ohne Vermittler, auf Autorität oder auf Selbstbestimmung aufgebaut. Sinn und Zweck sind überall die gleichen. Da die Masse nirgends selbständig ist, so haben alle Religionen überall, wo sie der Gesamtheit ein Evangelium sein wollten, den Nachdruck auf die Vermittelungen gelegt; im modernen Hinduismus spielt Sri Krishna und im nördlichen Buddhismus Amidha-Buddha genau die Rolle, wie Jesus innerhalb des Christentums. Gleiche Nöte erheischen gleiche Heilmittel. Aber das ist ein Aberglauben, dass die Heilande als solche, als bestimmte Menschen, die Erlöser wären: persönlich kommen sie nur als Auslöser in Betracht. Und von den meisten, vielleicht von allen, gilt nicht einmal so viel, da ihre eigentliche Wirksamkeit erst spät nach ihrem Tode begonnen hat: sie wirkten als reine Verkörperungen des Ideals. Hier komme ich denn nochmals auf den Vorzug unerreichbarer Ideale vor erreichbaren zurück: was die Phantasie unbehindert idealisieren darf, ist das bei weitem zuverlässigere Gefäß. Im glaubenskräftigen Orient mag ein gebrechlicher Mensch trotz aller Schwächen als Avatar verehrt werden; dies geschah jüngst erst Ramakrishna Paramahamsa, dem ekstatischen Heiligen von Dakshineswar. Unter modernen Europäern, selbst unter Theosophen, wird solches schwer mehr zustande kommen. Wie denn auch Ramakrishna nur seitens eines kleinsten Kreises bei Lebzeiten gottgleiche Verehrung genoß und erst jetzt, über dreißig Jahre nach seinem Tod, zum katholischen Heiligen auszuwachsen beginnt.

Worauf beruht nun im Letzten, im Metaphysischen, der Trieb, sich einem Höheren hinzugeben, unser Glück, wenn wir Höheres schauen dürfen, die gewaltige innere Förderung, die es bedingt? — Sie beruht darauf, dass der Mensch in dem, was über ihm steht, einen wahreren Ausdruck seiner selbst erkennt, als er ihn selber darzustellen vermag. Jeder fühlt, nur zu sehr, wie unvollkommen er in seiner Erscheinung sein wahres Wesen realisiert. Er handelt nicht seinem Selbste entsprechend, denkt nicht so, wie er es meint, ist anders, als er sich innerlich sein fühlt. In jedem Individuum sind, mit seltenen Ausnahmen, so disparate Anlagen vereinigt, dass es ihm mit der vorhandenen Kraft nicht gelingen kann, sie sämtlich zu durchseelen. So sind Schöne meist dumm, große Täter selten verständnisreich, geistig produktive Naturen nur ausnahmsweise als Menschen der Vollendung fähig. Aber jeder weiß, dass er wesentlich mehr ist, als er zur Darstellung zu bringen vermag; und erkennt sich daher im Vollendeten besser wieder, als in der eigenen unvollkommenen Gestalt. So verstehen wir augenblicklich eine Wahrheit, die wir nimmer selbst gefunden hätten und sagen dabei: so meinten wir’s eigentlich. So fühlen wir uns wunderbar gesteigert, ausgeweitet, wenn wir vollkommener Schönheit gegenüberstehen, denn in vollendeter Gestalt erst findet das Wesen die ihm ganz gemäße Ausdrucksform. Im eben dem Sinne schaut der schwache Mensch beglückt in der großen Seele eines anderen sein endlich entsprechend ausgedrücktes Selbst. Wer je einem Großen begegnet ist, hat sich gesagt: den habe ich immer gekannt. Freilich hat er das. Hierher rührt denn im letzten die ungeheure Wirkung, die das bloße Dasein eines solchen ausstrahlt. Er zeigt den Menschen, was alle sein könnten, was alle im Tiefsten, im Geiste und in der Wahrheit sind. Und wie immer der klare Ausdruck dessen, was das Bewusstsein im Stillen und Dunkeln meint, nicht nur beglückt, sondern die Fortentwickelung beschleunigt, so hilft der antizipierte Ausdruck ihrer Selbst, das ein Großer allen bedeutet, ihnen allen zu beschleunigter Selbstverwirklichung. Hier wurzelt die alte Erkenntnis, dass das bloße Dasein eines Heiligen mehr Segen bringt, als alle guten Handlungen der Welt; hier wurzelt im Letzten die Bedeutung eines Heilands. Er gibt der Menschheit ein Beispiel; so hat es auch Christus gemeint. Damit tut er aber das Äußerste, was ein Wesen für ein anderes tun kann. Er zeigt den Menschen ihr tiefstes Selbst im Spiegel; er schafft ihnen Klarheit über ihr Ideal. Er verkörpert es sichtbarlich und gibt damit den schöpferischen Kräften, die vom Wesen her jeden himmelwärts treiben, das ersehnte Vorbild und Ziel. Nun wissen sie, wohin sie hinaussollen, nun wissen sie, was ihnen möglich ist. So kann es geschehen, dass das absichtslose Dasein eines großen Menschen dem Leben aller eine Wendung gibt

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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