Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Adyar: Okkultismus

Natürlich wird man der Theosophie nicht gerecht, indem man ihren Ideenkreis mit der Messiaserwartung des Adyarkreises in notwendigen Zusammenhang bringt. Allein ich fürchte, was ich über die Unwahrscheinlichkeit einer Weltmission der Theosophie bemerkte, besteht unter allen Umständen zu recht. Es ist gut möglich, dass ihr System in höherem Grade, als ich selber wahrhaben möchte, den wirklichen Verhältnissen entspricht, es ist sehr wahrscheinlich, dass es dereinst dem Geiste (wenn auch schwerlich dem Buchstaben) nach von der Mehrzahl der Menschen anerkannt werden wird, denn schon heute gilt dies unter noch so verschiedenen Namen in hohem Maße. Theo- und Anthroposophie, New Thought, Christian Science, die neue Gnosis, Vivekanandas Vedântismus, der neu-persische und -indisch-islamische Esoterismus, von dem der Hindus und Buddhisten zu schweigen, das Bahaitum, die Weltanschauungen der verschiedenen spiritualistischen und okkultistischen Zirkel, sogar die der Freimaurer gehen ja alle von einer wesentlich gleichen Grundauffassung aus und sicher haben alle diese Bewegungen mehr Zukunft, als das offizielle Christentum. Aber dies sichert der Theosophie als lebendiger Entelechie doch keine. Was diese zu dem macht, was sie heute ist, ist nicht ihr theoretisches Lehrgebäude, dessen Grundriss Millionen anerkennen, die um keinen Preis als Theosophen gelten möchten, sondern eine bestimmte Auffassung, Ausdeutung und praktische Anwendung desselben. Das Wort Theosophie bezeichnet heute die besondere Konfession eines bestimmten religiösen Verbandes, und dass dem eine Weltmission bevorstünde, bezweifele ich. Die Theosophie als Religion wird fortfahren viele einzelne glücklich zu machen, beschränkten Sekten einen Inhalt zu geben, allein im Leben als historische Bewegung wird sie keine bedeutende Rolle spielen. Ich will die wichtigsten prinzipiellen Momente zusammenstellen, die dem entgegenstehen.1)

Der erste Einwand gegen die Theosophie als Lebenskraft bezieht sich auf ihre Hinneigung zum Okkultismus. So wünschenswert ich es finde, dass die okkulten Kräfte, soweit es sie gibt, möglichst genau und eingehend studiert würden — der Gewinn wird der Wissenschaft, nicht der Religion und dem Leben zugute kommen. Übersinnliche Erkenntnis ist spirituell nicht bedeutsamer als sinnliche, und die Geheimwissenschaft als Religion oder als Weg zu ihr, wie sie von den meisten Theosophen angesehen wird, ist keinen roten Heller mehr wert als die energetische Weltanschauung Wilhelm Ostwalds. Sogar mittelbar werden die etwaigen Ergebnisse der Geheimforschung weit weniger für das Leben bedeuten, als ihre Adepten wähnen. Diese träumen von einem Zustand, wo die Telepathie alle äußeren Verständigungsmittel ersetzen, und Willenskraft alle physischen Energien überflüssig machen wird: das sind ebensoviel törichte Utopien. Mag das Physische noch so sehr durch die Psyche beeinflussbar sein: auf Jahrhunderte hinaus wird es billiger und insofern zweckmäßiger bleiben, das Körperliche, in allen akuten Fällen wenigstens, mit körperlichen Mitteln zu behandeln. Zur Erledigung der normalen Geschäfte dieses Lebens werden die normalen Kräfte nicht nur für immer ausreichen, sondern auch für immer als einzige in Betracht kommen, oder wenn nicht für immer, so doch sicher solange, als die Menschen sich nicht wesentlich verändert haben werden. Die verborgenen Sphären der Wirklichkeit, welche die Ausbildung der seelischen Organe erfahrbar machen soll, gehen uns hier nichts an; je weniger wir sie beachten, desto besser. Wir sind weiter als das Mittelalter hauptsächlich deshalb, weil wir den Glauben verloren haben an mysteriöse Verknüpfungen, was doch beweist, dass deren Anerkennung nicht fördert. Sie kann nicht fördern, weil sie nichts anderes bedeutet, als ein Rechnen mit Einflüssen, die, falls überhaupt wirksam, geringfügig sind gegenüber den banalen dieser Sphäre, und sie schädigt direkt, wo jene ursprünglich gar nicht erfahren werden, und nun alles daran gesetzt wird, sie erfahrbar zu machen. Wer darauf hinarbeitet, kommt notwendig herunter innerlich genau wie der, welcher ständig an seine Gesundheit denkt; er verliert zuletzt jegliche Unbefangenheit. Wir sollen möglichst geradeaus leben, möglichst mutig, möglichst unbeirrt von innen heraus, möglichst unbekümmert um alles Abliegende und Äußerliche; je mehr wir das tun, desto stärker und reiner werden wir. Je weniger der Mensch sich auf fremde Mächte verlässt, je mehr er auf sich nimmt, desto wohler will ihm die Natur. Das Ideal ist, nicht allen Verhältnissen Rechnung zu tragen, sondern so fest in sich gegründet zu sein, dass Verhältnisse gleichgültig werden. Der Okkultist nun schielt ständig seitwärts, vor- und rückwärts, er ist nie wirklich unbefangen. Also kann er kein Führer sein in diesem Leben, so nützlich er sich als Organ erweisen mag. Da nun das Streben nach psychistischer Entwickelung der Spiritualisierung, wie bereits auseinandergesetzt, nicht zugute kommt, sondern entgegenwirkt, so gehe ich schwerlich fehl, indem ich die Hinneigung zum Okkultismus der Theosophie vom Standpunkte einer möglichen Bedeutung für das Leben als schlechthiniges Passivum buche.

Das zweite, mit dem vorher betrachteten zusammenhängende Moment, das gegen sie spricht, ist die Veräußerlichung, welche der religiöse Trieb mit Unvermeidlichkeit in ihr und durch sie erleidet. Gesetzt, es sei alles das wahr, was die Theosophie über die Hierarchie der Geister, die Götter, Halbgötter und Meister, die Führung des Menschengeschlechts usw. lehrt — sicher tut es diesem nicht gut, sich allzuviel um sie zu kümmern. Aller religiöser Glaube hat nur den einen Sinn, der Selbstverwirklichung zuzuführen; er bezeichnet den imaginativen Exponenten des Seins, das Spiegelbild des Seinszentrums im Bewusstsein. Der unentwickelte Mensch muss an Äußerliches glauben, weil es für ihn kein anderes Mittel gibt, seine Kräfte auf einen Mittelpunkt zu beziehen, zu dynamischer Einheit zu verdichten; der entwickelte glaubt an sich selbst — den Gott in sich —, oder er glaubt überhaupt nicht, sondern ist einfach, denn wo das Seinsbewusstsein voll entfaltet ist, fallen Sein und Glauben zusammen. Welcher Art das Äußerliche ist, das jener glaubt, ist an sich gleichgültig; aber da es eben nur ein Mittel ist, kein Zweck, da religiöses Glauben mit Für-wahr-Halten im theoretischen Sinne nichts zu tun hat, und der Existenz oder Nicht-Existenz eines Glaubensobjektes in der Wirklichkeit keine Bedeutung zukommt, so ist es gut, wenn dieses möglichst unerwiesen ist. Man braucht nicht so weit zu gehen, wie Tertullian, der da verkündete credo quia absurdum, aber sicher ist es günstig für die Religion, wenn sich die Frage der Existenz ihrer Götter möglichst wenig stellt. Im Hinduismus wird sie bewusst ungestellt gelassen; dort gelten die Divinitäten offiziell als Manifestationen des Allerhöchsten Einen — sie mögen im übrigen empirisch wirklich sein oder auch nicht. Den Theosophen hingegen wird das Dasein übermenschlicher Wesen von ihren Führern als wissenschaftlich erwiesen dargestellt. Glauben sie an Götter, so neigen sie sich vor Äußerlichem; sie folgen, halten für wahr, beten an im Sinne der Fetischisten und entsprechend verkümmert die echte Religiosität. Sie macht recht eigentlich Aberglauben Platz, denn jeder Glaube an das Nicht-Selbst ist Aberglaube, und verkörpere dieses die absolute Wahrheit in Person.

Hieraus erhellt denn, einen wie verhängnisvollen Fehler die Theosophie begeht durch ihre Wiedererweckung des antiken Polytheismus. Sie hätte aus ihrer Entdeckung, dass es wirklich Götter gibt (sofern solche objektiv vorliegt), die entgegengesetzte Konsequenz ziehen sollen, wenn es ihr um die Stiftung einer neuen Religion oder Vertiefung der bisherigen zu tun war. Jeden Gott, den sie wissenschaftlich nachwies, hätte sie straks aus ihrem Pantheon verbannen sollen, als hinfürder religiös bedeutungslos. Es mag noch so viel Götter und höhere Wesen geben, mit noch so großer Machtfülle ausgestattet — sofern wir spirituelle Wesen sind, auf spirituellen Fortschritt bedacht, gehen sie uns gar nichts an. So hat denn der New thought — dieses Wort nicht als Sektenbezeichnung, sondern als Inbegriff der geistlichen Bewegungen verstanden, die auf den amerikanischen New thought ursprünglich zurückgehen — die Lehren des alten Mystizismus unstreitig in glücklicherem Sinne fortgebildet als die Theosophie. Er sieht in allen Vermittelungen nur Vorstufen; er weist alles Geheimwissen ab, verneint den Lebenswert okkulter Ausbildung und des Hinausstrebens aus der Erdgebundenheit und legt Nachdruck einzig auf individuelle Selbstverwirklichung in diesem Leben. Das ist in der Tat das einzige, was nottut. So sehr es der wissenschaftlichen Erkenntnis zugute kommen mag — das neuerwachte Interesse am Okkultismus bezeichnet für das religiöse Leben unserer Zeit eine direkte Gefahr, wahrscheinlich die ernsteste von allen, denn sie droht eine Veräußerlichung herbeizuführen, die viel verhängnisvoller (weil schwerer bekämpfbar) werden kann, als alle durch Materialismus bedingte. Ein erwiesener Gott, fortan als Tatsache verehrt, wäre ein schlimmerer Fetisch als das goldene Kalb. Je mehr wir erfahren von den verborgenen Kräften in der Natur, desto notwendiger wird es, einzusehen, dass nur Selbstverwirklichung in Betracht kommt, dass es spirituell ganz gleichgültig ist, nicht allein ob wir hellsichtig oder blind sind, sondern auch ob es Götter gibt oder nicht. Mehr denn je gilt es heute zu beherzigen, was Buddha und Christus gegen die Wunderwirker gesagt: beide haben wieder und wieder hervorgehoben, dass es auf psychistische Ausbildung nicht ankommt, sondern auf ein Anderes, in anderer Dimension belegenes. Jedes Schielen nach dem Wunderbaren schädigt. Nur der Unbefangene kommt vorwärts. Und unbefangen sind die Theosophen nicht nur nicht — sie können es, wie gesagt, gar nicht sein. Dazu werden sie viel zu sehr von ihren Führern angehalten, zu bedenken, wie sie den Meistern gefallen, die okkulten Mächte richtig behandeln, üblen Einflüssen entgehen möchten. Deshalb steht der durchschnittliche Theosoph, soviel näher er der Wahrheit sein mag, spirituell meist unter gläubigen Christen. Ich erblicke im New thought, speziell in der Gestaltung, welche Adela Curtis ihm gegeben hat2) wirklich die einzige auf Mystizismus fußende religiöse Bewegung unserer Zeit, die sich der Mehrzahl förderlich erweisen wird. In ihr allein wird sowohl verständig als methodisch auf Verinnerlichung und Spiritualisierung hingearbeitet; in ihr allein ist das Wesentliche klar erkannt, bestimmt es durchaus Mittel und Wege; in ihr allein, das ich wüßte, werden keine psychologischen Fehler begangen.

Jedesmal, wo ich die Schriften der Begründerin der Schute des Schweigens wieder lese, staune ich aufs neu über die Tiefe der Selbsterkenntnis, die sie beseelt. Sie hat so tief Wurzel gefasst in ihrem Wesen, dass ihr persönlicher Glaube ihr nur ein Ausdrucksmittel ist, dass man ihr zustimmen kann, auch wo man keine ihrer christlich-dogmatischen Voraussetzungen teilt. Was sie lehrt ist wesentlich wahr, trotz aller Fehler auf intellektualem Gebiet; desto mehr, als der Weg, den sie angibt, schnurgerade zum einen was nottut führt. Und diese Mystik hat vom Standpunkte des Westens vor der Theosophie noch einen weiteren Vorzug voraus, einen Vorzug zwar zufällig-empirischen Charakters, der aber eben deshalb für den empirischen Erfolg entscheidend ins Gewicht fallen dürfte: sie bezeichnet eine logisch mögliche Fortbildung des Christentums, ist, obschon auf der Weisheit des Ostens fußend, von ihr inspiriert, rein christlich dem Geiste nach und verwendet keine oder fast keine fremdländischen Vorstellungen. Selbstverwirklichung ist nur im Rahmen vertrauter Vorstellungen möglich; in fremder Sprache kann man sich nicht ausdrücken, muss man überdies zu viel Aufmerksamkeit auf die Mittel verwenden. (Deshalb haben weder Buddha noch Christus das vorhandene Gesetz aufheben sondern nur erfüllen wollen.) Nun sind uns Westländern die indischen Vorstellungskreise fremd; die meisten sind unfähig — gerade die Theosophen beweisen dies — ein inneres Verhältnis zu ihnen zu gewinnen. Ferner sind wir alle physiologisch Christen, ob unser Bewusstsein dies anerkennt oder nicht. So hat jede Lehre, die im christlichen Geiste fortbaut, mehr Aussicht unser Innerstes zu ergreifen, als eine noch so tiefsinnige von fremdem Stamm. Ich persönlich glaube nicht, dass das Christentum jemals aussterben wird; in fortschreitender Umdeutung und Neuverkörperung wird es fortleben im Westen bis zum jüngsten Tag. Ich glaube auch nicht an die Notwendigkeit, kaum an die Möglichkeit einer neuen Religion. Wir sind prinzipiell über das Stadium hinaus, wo wir Formen metaphysisch ernst nehmen können, was sich erweisen wird, sobald eine neue sich Geltung verschaffen will. Die Besten unter uns sind nicht mehr bekehrungsfähig. Dagegen werden die meisten und gerade die Einsichtigsten noch lange bereit bleiben, die überkommenen Vorstellungen und Gestaltungen als Ausdrucksmittel weiterzuverwenden, weil diese ihnen die Selbstverwirklichung erleichtern. Das Geschrei unserer Tage nach einer neuen Religion ist kaum ernstzunehmen; es entspricht meist mangelhafter Selbsterkenntnis. Die vorgeschrittensten werden sich mehr und mehr ohne Konfession zu behelfen wissen; die konfessionsbedürftigen nach wie vor an den alten ihr bestes Medium finden. Die, welche am lautesten nach neuen Glaubensformen schreien, sind, so weit ich urteilen kann, wesentlich areligiös. Sie werden, wenn sie reifer werden, erkennen, dass es ihnen nicht um einen neuen Glauben, sondern eine neue Seinsgestaltung zu tun ist; dass solches Streben nicht notwendig religiöse Färbung trägt und dass sie sich selbst viel schneller finden würden, wenn sie ihr Wesen ohne Seitenblicke auf Gott in der Erscheinung auszuprägen versuchten. Man nennt viel zu vielerlei in unseren Tagen Religion; wer sich irgendwie zur Geltung bringen will, bildet sich deshalb schon ein, religiöses Gefühl zu beweisen. Nur das Streben nach Selbstverwirklichung ist religiös, das auf spirituelle Durchdringung der Erscheinung aus ist. Wer sich bloß kraftvoll betätigen, nur schöpferisch gestalten will, der ist eben ein Kraftmensch, ein Organisator, vielleicht ein Dichter, aber nichts wesentlich anderes und nicht mehr.

Das dritte und wohl wichtigste Moment, das einer möglichen Weltmission der Theosophie im Westen entgegensteht, ist ihr Bekenntnis zu Idealen, die historisch betrachtet, abgewirtschaftet haben. Der neue Erlöser wird als Herr des Erbarmens vorausgepriesen, die Tugenden der Demut, des Gehorsams, der Dienstbeflissenheit, des Mitleids, der sanftmütigen Liebe werden als äußerste hingestellt. Es sind wohl vielleicht die äußersten weiblichen Tugenden, aber männliche allein haben bis auf weiteres historische Zukunft. Schon sind wir im Begriff das Mitleid zu überwinden, den so verhängnisvollen Aberglauben, dass Glücklich-Machen an sich verdienstlich, Altruismus als solcher ein Wert, Attachiertsein ein Zeichen von Spiritualität und Dulden besser als Ummachen sei, durch die allgemeine Erkenntnis zu ersetzen, dass nur das Produktive ethisch gerechtfertigt ist: also Leidenmachen besser als Mit-Leiden, sofern jenes aufwärts führt, Nichtberücksichtigung fremder Gefühle besser als Rücksichtnahme sofern jene töricht sind und so fort. Und dies nicht aus Gefühllosigkeit, sondern weil wir (hinauszuwachsen beginnen über die Bestimmtheit durch emotionelle Zusammenhänge, weil wir aufhören uns mit unserem Empirischen zu identifizieren und nur das noch als absolut wertvoll anerkennen, was nicht den gegebenen Menschen zufriedenstellt, sondern diesem, mit noch soviel Schmerzen, hinaushilft über sich selbst. Das ist die männliche, produktive Form der Humanität, im Gegensatz zur weiblichen, konservierenden, deren Ideale die Theosophie in extremer Form vertritt. Männliches aber und Weibliches können sich nicht auf einmal aktualisieren. Die westliche Menschheit hat sich nun bald zwei Jahrtausende lang offiziell zu weiblichen Idealen bekannt, und das war gut, denn nur dank dieser Erziehung im Frauengemach ist sie halbwegs gezähmt worden. Mehr vielleicht als irgendeinem anderen verdanken wir Nordländer unser heutiges Gesittetsein dem mittelalterlichen Mariendienst — jener wunderbar poetischen Abart des Christentums, der die Heilige Jungfrau alle Gottheit in sich aufgesogen hatte. Nicht als mütterliches Prinzip wurde sie damals verehrt, noch als Personifizierung des Ewig-Weiblichen, sondern als Königin, als hohe Frau, als grande Dame, die keine Roheit, keinen Verstoß gegen höfische Sitte duldete. Zumal im 13. Jahrhundert dominierte die weibliche Idealität so absolut, dass, wer nur seine Vorstellungen kennte und von seinen Taten nichts wüßte, allen Grund hätte, es als Periode der Effeminiertheit zu beurteilen. Die westliche Menschheit hatte sich damals, in unterbewusster Selbsterkenntnis, die Weltanschauung zurechtgemacht, die sie am meisten zu veredeln geeignet war. Heute nun hat sie ihren eigentlichen Charakter erkannt, wie Achill, als Odysseus ihn unter den Mädchen aufsuchte, und nun müsste sie lügen, wenn sie weiter weiblich dächte; nun wird sie desto schneller ihre Vollendung finden, je bewusster-männlich sie sich gibt.

So wird mir, durch Projektion auf den Hintergrund der Theosophie, der Sinn unserer westlichen Eigenart und unseres Westländerschicksals deutlicher als jemals früher. Unsere Fortschrittlichkeit beruht darauf, dass in uns zum allerersten Male das männliche Prinzip in seiner Reinheit zur Alleinherrschaft gelangt ist. Sintemalen wir nun fortschrittlich sind, kann es nicht fehlen, dass wir mehr und mehr zu Herren werden dieser Welt: wo Traditionalismus und Progressismus konkurrieren, muss dieser siegen, weil sein Prinzip über die empirischen Zufälligkeiten erhaben ist. In der Idee war der Katholizismus in dem Augenblicke als historische Vormacht niedergerungen, wo der nackte Geist des Protestantismus geboren ward. Dieser allein wird fortan dem Geschehen die Richtung geben, gleichviel in welcher Gestalt, ob zu gutem oder zu bösem Ende. Es nützt nichts, sich diesem Schicksal entgegenzustemmen; alle Erkenntnis der Nachteile, die es bedingt, wird es nicht ändern. Mit der Idee der absoluten Autonomie ist eine Kraft in die Welt gesetzt worden, die mächtiger ist als alles, was ihr entgegensteht und sich auswirken wird über alle Hindernisse hinweg. Sie wird auch das theosophische Subordinationsideal (unter allwissende Meister), wenn nicht entthronen, so doch an weiterer Wirksamkeit verhindern, wie sie denn das katholische schon unwirksam gemacht hat (in allen katholischen Ländern sind die meisten führenden Geister bezeichnenderweise fanatisch antiklerikal). Wir Westländer sind die Träger dieser Kraft. Wir haben uns zu ihr zu bekennen. Wir müssen erkennen, dass wir durchaus Männer sind, und nun auch durchaus Männer sein wollen. Unbeschreiblich armselig wirken alle modernen westlichen Apostel einer weiblich-sentimentalen Idealität (falls sie nicht selber Frauen sind), und das kann nicht anders sein: insofern sie weiblich empfinden, sind es minderwertige Typen. Alles Gute, was neuerdings aus dem Westen stammt, trägt den Stempel männlichen Geistes. In diesem Geiste, in diesem allein, werden wir auch ferner Großes und Gutes wirken.

1 Eine Ergänzung zum Folgenden bildet der Aufsatz: Für und wider die Theosophie, in meinem Buch Philosophie als Kunst, Darmstadt 1920.
2 Die Schriften Adela Curtis: The new mysticism, Meditation and Health, The way of Silence (zu beziehen von der School of Silence, 10 Scarsdale Villas, Kensington W. London) sind jedem zu empfehlen. Ihren vollen Wert wird freilich nicht der noch so aufmerksame Leser beurteilen können, sondern nur der, welcher die in ihnen enthaltenen Lehren eine Weile praktiziert; wie denn kein Mystiker auf anderem Wege wirklich verstanden werden kann. — Leider hat die Verfasserin seither begonnen, wie dies so häufig geschieht, sich selbst ad absurdum zu führen. Von der Lektüre ihrer späteren Veröffentlichungen rate ich ab.
Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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