Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Adyar: Vermännlichte Kultur

Mit dem Hinweise auf den weiblichen Charakter der Theosophie gegenüber dem ausgesprochen männlichen aller geistigen Mächte, welche Träger der modernen geschichtlichen Bewegung sind, ist wohl der Mittelpunkt des Problems berührt, was die Weisheit des Orients uns bedeuten kann und was nicht. Es liegt ein grundsätzliches Missverständnis darin, zu erwarten, dass die Theosophie unter uns eine geschichtliche Rolle spielen wird; sie enthält kein beschleunigendes Motiv. Sie predigt eine empfangend-abwartende Haltung gegenüber den höheren Mächten, die allwissend-weise die Geschicke der Menschheit lenken, und wo diese sich einmal zu selbständigem Tun entschlossen hat, dort wälzt sich das Geschehen rücksichtslos über alle Erwartungen hinweg. Männlicher, mannhafter von Epoche zu Epoche stellt sich der Geist des Westens dar. Immer weniger Unabänderliches lässt er gelten, mehr und mehr Verantwortung lädt er sich freiwillig auf, und die Idee der Prädestination verliert entsprechend von Epoche zu Epoche an Wahrheit. Die Theosophie lässt keine Neuentstehung gelten: alle Zukunft sei von Ewigkeit her vorgemerkt, jede Neubegegnung sei durch altes Karma vorausbedingt, alles geschehe nach vorgezeichnetem Plan. Der Geist des Westens geht immer mehr davon aus, dass kein Plan den schöpferischen Willen bindet: mit jeder freien Tat finde absolute Neuschöpfung statt. Vom Atman her gesehen, widersprechen sich beide Auffassungen vielleicht nicht; vielleicht stellen sie nur verschiedene Aspekte des absolut-seienden Verhältnisses dar und bedeuten das gleiche. Aber in der Erscheinungswelt und für unsere Begriffe bedingen sie den radikalsten Unterschied, der sich denken lässt: in unserer Welt hat die Vorsehung buchstäblich abgedankt zugunsten des freibestimmenden Individuums. Mythen sind oft wahrhaftigere Ausdrucksformen des Wirklichen als wissenschaftliche Fassungen: so kann man sagen, dass Gott immer nur dort persönlich eingreift, wo ihm nichts anderes übrig bleibt, weil niemand sonst die Verantwortung tragen mag, und dass er sich jetzt, wo die okzidentalische Welt gar so verantwortungsfreudig geworden ist, von den Geschäften ganz zurückgezogen hat. Jetzt handelt der Mensch als Gott, mit den gleichen Hoheitsrechten, und die Wendung der Dinge beweist, dass diese Stellung keine angemaßte ist. Wo der Mensch nun souverän geworden ist, dort verlieren die aus dem Geist der Abhängigkeit geborenen Ideale mehr und mehr an Bedeutung und Macht. Der Souverän sehnt sich weder nach Frieden noch nach Gnade, weder nach Trost noch nach Barmherzigkeit, denn er bestimmt; unterliegt er, so erkennt er sich selbst als schuldig an und trägt die Folgen in gelassenem Stolz. Das ist Mannesart. Das Weib erwartet, duldet, hofft, empfängt. Dementsprechend sehnt es sich nach Erbarmen, Gnade und Friede. Weil es sich so verhält, ist es im Recht, an die Übermacht des Schicksals zu glauben. Aber der Mann braucht sich um Gott und Teufel nicht zu scheren, weil seine Initiative ihn deren Macht entrückt. Wo nun der eine von zweien Initiative hat, der andere nicht, gerät dieser unweigerlich ins Hintertreffen. Deshalb haben alle weiblichen Religionsformen als historisch wirksame Faktoren ausgespielt, seitdem der Männergeist erwacht ist.

Hierher rührt im letzten und tiefsten die größere Effikazität des Westens dem Osten gegenüber. Nun schreitet der westliche Geist auf seiner Bahn unaufhaltsam vorwärts, und wird selbstbewusster von Tag zu Tag. Immer entschiedener bekennt er sich zur Mannesart. Es hat lange gedauert, bis er die überkommenen weiblichen Ideale zu verleugnen wagte. Für eine kurze Spanne Zeit erschuf er sich wohl eine Form, in der er ganz aufrichtig er selbst sein und sich gleichzeitig aufrichtig vor jenen neigen konnte: das war die Zeit des Marien- und Minnedienstes. Aber diese Form entseelte sich bald. Jahrhunderte lang schleppte er nun Überzeugungen mit sich fort, die zu seinem intimen Wollen wie auch oft zu seinem Gebaren und Tun in schreiendem Widerspruche standen. Noch heute gestehen es sich nicht viele vielleicht ein, dass ihnen an Frieden gar nichts liegt, noch an Entrückung aus diesem Jammertal; dass sie in Erbarmen und Liebe kein Höchstes sehen und entschlossenes Tun unter allen Umständen höher werten als Hinnehmen und Dulden. Aber so ist es in Wahrheit; und mehr und mehr, oft durch krampfartige Krisen hindurch, wird sich der Westländer seines eigentlichen Seins bewusst. Den schwersten Krampf bezeichnete Friedrich Nietzsche. Es mag sein, dass er der letzte war; dass die Entwicklung fortan ohne Rückstauungen ihren Lauf nehmen wird. Aber sicher ist es nicht. Jedesmal, wo ich die inneren Gärungen unserer Zeit überschaue, wundere ich mich darüber, wie wenig klar sich die Menschen noch immer über ihr eigentliches Wesen und Wollen sind. Sie tappen nach neuen Glaubensinhalten, Glaubensformen, haschen nach neuen Idealen nah und fern. Die Wahrheit ist, dass sie selbst, als persönlich handelnde Wesen, an die Stelle aller möglichen Ideale getreten sind; dass die Zeit äußerer Exponenten vorüber ist, dass die Brennpunkte der Ellipse zu einem Kreiszentrum zu verschmelzen beginnen, dass Glaube und Sein zu eins werden und es nun gilt, vollkommen ernst zu machen mit der Selbstbestimmung. Wären wir nicht unbewusst schon selbstbestimmt, wir suchten nicht vergeblich nach Idealen außer uns. Zurzeit befinden wir uns, wie Hegel sagen würde, im Zustande des unglücklichen Bewusstseins. Aber machen wir ganz ernst mit der Wahrhaftigkeit, dem Mut zur Entscheidung und Verantwortung, dann wird es früher oder später ganz von selbst einem glücklicheren Platz machen. Ist dieses nun geschehen, dann wird sich erweisen, dass wir keine der alten Ideale, wie Nietzsche wähnte, zu verleugnen haben, dass wir im Gegenteil viel fähiger sein werden, als vorher, ihnen Genüge zu tun. Es gibt männliche Äquivalente für das weibliche Mitleid, die weibliche Liebe und Barmherzigkeit. So steht nicht zu befürchten, dass unsere Kultur durch bewusste Schwenkung zum Männlichen zu eine Einbuße erleiden wird.

Aber freilich: die Menschen, welche die Geschichte machen, die allein vielleicht für deren Lauf in Betracht kommen, sind nur ein Teil der Menschheit. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass weil der Zug der Zeit nach wachsender Vermännlichung geht, das Weibliche deswegen abstirbt: dieses beweist deutlich genug die ungeheure Werbekraft der Religionen des Ostens unter uns. Viele zieht es zu ihnen, wie den Mann zum Weibe; aber die meisten doch wohl, wie die Frau zur verstehenden Frau. Je männlicher der Zeitgeist einerseits wird, desto bewusster wird sich der weibliche Teil seiner Sinnesart. Und das ist gut. Denn so vertieft er sich wiederum dem Weiblichen zu. Die weibliche Anlage ist dem Verständnis günstiger; sie ist die tiefsinnigere im eigentlichen Sinne des Worts. Die Verständnisarbeit wird bis zum Jüngsten Tag die weibliche Menschheit am besten leisten. Unser in der Geschichte einzig dastehendes Erkenntnisstreben rührt ja nicht daher, dass wir von Hause aus weise, sondern dass wir unweise sind; wo Wissen schon vorhanden ist, entsteht keine Wissenschaft; wir sehnen uns nach Licht aus unserer Tatmenschen-Blindheit heraus. Deshalb ist es trotz allem zu bewillkommen, dass die Gesinnung der Theosophie in immer weitere Kreise des Westens dringt. Der Erkenntnis kommt dies uneingeschränkt zugute: als theoretische Seinslehre steht die indische Weisheit, deren Lehren die Theosophie, wenn auch noch so missdeutet, vertritt, jenseits des Gegensatzes von Mann und Weib; sie bezeichnet unstreitig das Maximum bisher erreichter Wesenserkenntnis, wie der Westen mehr und mehr einsehen wird, je weiter er auf seinem Wege gelangt; was ich an ihr als weiblich bezeichnete, ist nicht diese Weisheit an sich, es sind die Folgerungen, welche Inder und Theosophen aus ihr für das praktische Leben gezogen haben. Diese Folgerungen können Männer nicht anerkennen, brauchen es auch nicht; sie sind nicht notwendig, nicht verbindlich; aber die Weiber mögen es tun. Um so mehr, als wenig Gefahr besteht, dass weibliche Ideale unter uns je wieder zur Vorherrschaft gelangen werden.

… Mann und Weib … Vielleicht ist es gut, wenn ich bei dieser Gelegenheit ausspreche, was es mit ihrem Verhältnis im Letzten für eine Bewandtnis hat. Man darf bei ihrer Entgegengesetztheit nicht verweilen; sobald man es tut, zerrinnt ihre Wahrheit, wie ein Wolkengebilde — wie denn wohl alle Gedanken nur von einer gewissen Distanz aus und innerhalb einer beschränkten Zeitdauer wahr erscheinen.

Es sieht so aus, als ob die Polarität der Geschlechter ein absolut Wirkliches wäre. Genauer und tiefer betrachtet, hält nicht allein ihr vorausgesetzter Sinn, sondern sogar die Tatsache selbst nicht stich. Es geht nicht an, in den polaren Koordinaten Absoluta zu sehen, wie dies von Empedokles ab bis auf Schelling und über diesen hinaus immer wieder geschehen ist. Was, in der Tat, bezeichnet die Eigentümlichkeit des Weiblichen dem Männlichen gegenüber? Dass es nur nach vorhergehender Empfängnis schaffen kann. Ist dem aber also, dann sind nicht allein sämtliche Künstler Weiber, alle Denker und Philosophen (insofern sie anregungsbedürftig sind), sondern auch die männlichsten unter den Männern: die Genies der Tat. Denn auch deren Lebenswerk hat immer darin bestanden, dass sie eine Idee empfangen und aus ihr ein Lebendiges gestaltet haben. Man wende nicht ein, dass sie Ideen nicht empfangen, sondern gezeugt hätten: erstens war letzteres nur selten der Fall, denn fast alle historisch Großen waren Träger präexistierender Tendenzen, dann aber handelt es sich, wo die Idee tatsächlich ihr Ureigenstes war, nicht um Zeugen, sondern um Parthenogenese, denn der männliche Samen als solcher hat keine Entwickelungstendenz. Als rein männlich wäre allenfalls Gott zu denken, insofern Er ohne vorhergehende Empfängnis schafft. Aber Er ist über den Geschlechtsgegensatz hinaus; und sucht man Sein Schaffen zu begreifen, so muss man, wenn man Ihn um keinen Preis mit weiblichen Eigenschaften ausstatten will, der Materie Präexistenz sowohl als alle die Fähigkeiten zuerkennen, die einem Mutterschoße eignen.

Es handelt sich eben bei der geschlechtlichen Polarität um keine Absoluta, sondern um ein formales Schema, innerhalb dessen sich das schöpferische Geschehen bewegt. Männlich nennen wir das variierende, weiblich das erhaltende Prinzip; männlich das Anregende, weiblich das Ausgestaltende; männlich das Handelnde, weiblich das Aufnehmend-Verstehende. Der Mann gestaltet die Erscheinung, das Weib verkörpert den Grund. Diese Pole treten auf die verschiedenste Weise in die Erscheinung, und in jedem Individuum sind beide in vielfachen Aspekten gegenwärtig. Jeder Mensch ist eine Synthese von Männlichkeit und Weiblichkeit und kann, je nach den Umständen, als Mann oder Weib in die Erscheinung treten. Zwar geht dies bei ihm nicht so weit wie bei den Echinodermen, als bei welchen das männliche Prinzip durch Chemikalien zu ersetzen ist, oder bei den Copepoden und Daphniden, die je nach den Witterungsverhältnissen ihr Geschlecht verändern; die Wandlungsfähigkeit erscheint hier, wie überall beim Menschen, auf die psychische Sphäre beschränkt. Hier aber tritt sie desto deutlicher zutage. Als Künstler, als Gestalter, als Versteher ist der männlichste Mann ein Weib. So handelt es sich, wo in der Weltgeschichte, wie heut, ein Prinzip die Alleinherrschaft zu erringen scheint, um weniger Extremes, als man denkt: auch in unserer noch so vermännlichten Kultur wird die Stimme des Ewig-Weiblichen vernehmbar bleiben.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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