Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Peshawar

Ich bin tatsächlich aus Indien hinausgeraten. Entblätterte Bäume, eine kalte klare Winterluft; breite staubige Landstraßen, auf denen Menschen einherwandeln, deren psychischer Typus mir wohlbekannt ist. Seltsam: zwischen Afghanistan und Russland liegt eine ganze Welt. Jedes Gebiet Zentralasiens ist von anderen Stämmen bevölkert, von anderer Geschichte und Kultur, hat andere Sitten und Gebräuche; und doch breitet sich heute eine geistige Atmosphäre vom Khaiber bis über den Ural aus. In dieser Atmosphäre verflüchtigt sich alle Bedeutsamkeit. In Peshawar wird täglich gemordet und bunte indische Tücher stehen zum Verkauf — doch was hat das zu sagen? Genau so gut könnte nichts geschehen, könnte alles ganz anders sein. Durch ein Ereignis mehr oder weniger, durch ein Ereignis so oder anders, wird der Sinn dieses Geschehens nicht gewandelt. In langen, endlosen Reihen ziehen die Kamele hintereinander her. In langem, endlosem Zuge folgt Jahrhundert auf Jahrhundert. Millionen gleichartiger Menschen sterben rhythmisch hinter einander ab, bald gewaltsam und bald wieder von selbst, mit der stereotypen Gebärde des Achselzuckens.

Mich ergreift jene bodenlose Schwermut, für die nur der Russe das rechte Wort besitzt: Unynie. Ich will nichts, vermisse auch nichts, erweisbare Gründe habe ich nicht, ich bin eben schwermütig. Meine Seele ist wie ausgehöhlt. Dieses Asien kennt keine Regungen geistiger Art. Die Schwingungen, welche ich selber ausstrahle, verflüchtigen sich im endlosen Raum, mir aber fehlt die innere Kraft sie aufzuhalten. Das Ergebnis ist ein Gefühl der Leere, das mich tiefelend macht. Dann aber dringen fremde, brutale Gewalten in mich ein — die Gedanken und Begierden, die in den wilden Herzen afghanischer Schafsdiebe hausen mögen. Ich kann mich ihrer kaum erwehren, so plötzlich überrumpeln sie mich. Und dann erkenne ich entsetzt, dass sie mir innerlich gar nicht so fremd sind, wie ich dachte: auch in mir steckt irgendwo, tief unten, ein roher Zentralasiate und ich verfluche die Luft, die ihn aus dem Schlummer erwachen ließ.

Freilich birgt diese Welt eine Möglichkeit zu einzigartiger Großheit. Wenn der Sturm sich über der Wüste entfesselt, dann werden ganze Sandgebirge aufgetürmt, die sich wellengleich fortwälzen. Solche Sturmgewalten sind etliche Male in Menschen verkörpert gewesen. Das waren Wesen ohne Seele noch Sinn, ohne eigentliches Ziel und ohne Wertgefühl; sie besaßen kaum menschliches Bewusstsein. Dafür wohnte in ihnen die Urkraft des Wüstensturms. Wie Sandkörner trieben sie die Völker vor sich her, wie unter Sandbergen begruben sie die Kulturen. Blieb aber der Sand nicht haften, dann war es wiederum, als wäre nichts geschehen, als wäre der Überfall ein böser Traum gewesen. — Diese Eroberer stellen schlechterdings ungeistige Mächte dar; aber Großheit, ja übermenschliche Großheit kann Attila und Dschingis Khan nicht aberkannt werden.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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