Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Delhi

Aus der Barbarei sehe ich mich ohne Übergang in eine Stadt versetzt, die vor wenigen Jahrhunderten erst als unerreichtes Kulturzentrum galt, und doch spüre ich keine starken geistigen Schwingungen: inmitten der Herrlichkeiten Delhis fröstelt mir. Sie sind ganz ohne Eigen-Sinn, ohne tieferen Ausdruckswert, was besonders von den Moscheen gilt. Mohammed hatte recht, gleich seinem Vetter im Geiste, Calvin, aus den Gotteshäusern allen Sinnenreiz zu verbannen: diesem Gott ist kein Kunstwerk gemäß. In der wilden Natur, in der Feldschlacht, in der Macht und Gerechtigkeit des Kalifen offenbart sich sein lebendiger Geist; das Kunstschöne ist ihm kein mögliches Ausdrucksmittel. Das tritt hier, wo die indischen Künstler ihren ganzen Feinsinn und ihre ganze Geschmeidigkeit in den Dienst des Muselmannes gestellt haben, mit schmerzhaft wirkender Deutlichkeit an den Tag. Diese Kunst bedeutet hier gar nichts, so reizvoll sie sei; ihr fehlt der Hintergrund, den sie an indischen Fürstensitzen hat. Die Mohammedaner haben in Indien nur als Herrscher geistige Bedeutung. Daher besitzen auch nur die Monumente Atmosphäre, die dem Imperium Ausdruck verleihen: die Festungen, Ringmauern, Mausoleen; und an den sonstigen Kunstschöpfungen ihre Pracht an sich, ihre Größe, ihre äußere Möglichkeit. Das Künstlerisch-Schöne als solches kann kein unmittelbarer Ausdruck des Imperiums sein; von sich aus sagen die Prunkbauten des Großmoguln nicht mehr, als dass diese die Macht hatten, sie aufzuführen. Wirklich gehaltvoll ist imperialistische Kunst nur dort, wo sie als vollendete Zweckmäßigkeit zutage tritt Daher der ungeheuere Ausdruckswert der römischen Aquädukte, von denen jeder Bogen mehr Seele hat als das schönste nach Griechenmuster errichtete Monument; daher in unseren Tagen der Umstand, dass nur Eisenkonstruktionen, die Bahnhöfe, Brücken und Tunnels lebendigen Kunstwert besitzen. So finde ich denn in Delhi wie in Rom mein höchstes Gefallen daran, in der Landschaft weit umherzuschweifen, ohne allzuviel ins Einzelne zu gehen. Diese Landschaft ist der Champagne nahe verwandt, trotz aller konkreten Verschiedenheiten. Hier wie dort weht ein Geist des Weiten, Ganzen, Großen und doch fest Verknüpften — der Geist des Imperiums.

Beziehe ich freilich — was ich eigentlich nicht darf — die Schönheit der Moscheen und Paläste Delhis nicht auf die islamische Herrschaft, sondern auf die einzelnen hervorragenden Männer, welche diese verkörpert haben, dann erhält sie einen tiefen Sinn. Und führe ich gar Weltmacht und Schönheit zusammen auf die Seele eines Einzelnen zurück, dann stellt sich dieser in einer Größe dar, die in der Geschichte leicht nicht ihresgleichen findet. Es hält schwer, hier richtig zu urteilen: aber heute will mir wohl scheinen, als ob die Großen unter den Großmoguln als Typen die größten Herrscher gewesen seien, welche die Menschheit hervorgebracht. Es waren Gewaltnaturen, wie es die Nachkommen eines Dschingis Khan und Timur sein mussten, raffinierte Diplomaten, erfahrene Menschenkenner, und gleichzeitig Weise, Ästheten und Träumer. Diese Konstellation ist im Westen nie vorgekommen, nie wenigstens zu gutem Ende. Marc Aurel z. B., der Vielgepriesene, hat einen ausgesprochenen Stich ins Lächerliche dank des an falschem Ort zur Schau getragenen Philosophenmantels (das Reiterstandbild auf dem Kapitol, das mich jedesmal, wo ich es ansehe, zum Lachen bringt, ist seinem Urbild sicher ähnlich); Friedrich II. jedoch, der Hohenstaufer, der einzige europäische Herrscher, der sonst zum Vergleich in Frage käme, war wohl ein äußerst interessantes Individuum, aber nicht entfernt so bedeutend als Herrscher. Bei allen überreichen Naturen, die im Westen auf den Thron gekommen sind, bedingte Vielseitigkeit Vieltuerei; ein Talent griff auf das andere über; so dass der Dichter seine Kriege verträumte oder Dichtungen zu verwirklichen strebte, der Weise den Handelnden lahmlegte, der Diplomat sich dem Philosophen aufprägte und der Mensch zuletzt — das Wichtigste an einem Herrscher — seiner Wirkungseinheit verlustig ging. Bei einem Akbar lag diese Einheit jenseits von allem, was er tat, was er erkannte, und was ihm widerfuhr; sein Reichtum ist immer gesammelt geblieben. Als Kaiser stand er über dem Dichter, dem Träumer, dem Gottsucher, dem skeptischen Weisen. Deshalb trägt jede Arabeske, die er inspiriert, den Stempel des Kaiserlichen. Eine gleich überlegene Menschheitssynthese hat kein weltlicher Fürst des Westens je verkörpert. Nur einige Päpste haben dies getan. In der Tat strahlen die Prunkbauten des päpstlichen Roms einen Geist aus, der an Delhi erinnert. Bei den Päpsten hat eben die äußere Stellung Ähnliches bewirkt, wie die Naturanlage bei den Nachkommen Timurs. Der Papst als Statthalter Gottes, als undiskutierter Beherrscher der Christenheit, als unfehlbarer Entscheider alles Streites, erlangt, wenn er nur einigermaßen zum Papst berufen ist, unwillkürlich etwas von der Überlegenheit und inneren Gespanntheit, welche Akbar ausgezeichnet hat. Auch dessen Größe war nicht durch Naturanlage allein bedingt: die meisten der Hilfsmittel, über die unter westlichen Herrschern allein der Papst verfügt, zumal die Undiskutierbarkeit seiner Macht und der selbstverständliche Gehorsam der Untergebenen, werden jedem Selbstherrscher Asiens zuteil. Immerhin hat es nur eine große Mogulndynastie gegeben, und unter dieser nur einige Große und einen Größten, so dass ich wohlberechtigt bin, in Akbar den größten Kaiser zu verehren, von dem ich weiß. Es ist wunderbar, wie alle nur denkbaren Ausdrücke der Mogulnmacht in der Seele dieses Mannes ein eindeutiges Zentrum gefunden haben. Die herbe Größe, die Universalität, der überlegene Gerechtigkeitssinn; und zugleich die duftigen Farben einer fast weiblichen Salonkultur, das Allverstehen des Philosophen, die vibrierende Sinnlichkeit des Dichters. Ja, dieser Mann erscheint übermenschlich groß, wenn man erkannt hat, dass er vor allem ein Liebender war: eine zarte, verwundbare Seele von überschwenglichem Sympathievermögen. Das erinnert an das Idealbild des Christengottes: den allmächtigen, allgerechten Vater, der mit eherner Hand die Geschicke der Welt regiert und zugleich eitel Liebe, eitel Erbarmen ist; welcher schwerer an der Sünde des Sünders trägt, als der reuigste könnte und dessen Leben als endlose Tragödie verläuft, da er nie genug vergeben kann.

So beschaffene Größe bedingt notwendig ein Über-den-Nationenstehen, wie dies auch darin zum Ausdruck kommt, dass die indischen Kaiser, gleich den Imperatoren und Pontifices Roms, beliebiger Abstammung waren. Die grandiose Toleranz eines Akbar erscheint, wenn man ihm sein Wesen einmal zugestanden hat, als ein ebenso Selbstverständliches, wie die relative Großzügigkeit des Aristokraten der Kleinlichkeit des Plebejers gegenüber. So beruht auch die Duldsamkeit, die der Muslim allgemein, wo er nicht gerade einer fanatischen Sekte angehört, dem Andersgläubigen gegenüber bekundet, auf nichts anderem als seiner größeren Vornehmheit. Je mehr ich vom Islam sehe, desto mehr beeindruckt es mich, wie überlegen dieser Glaube die Menschen macht. Nichts ist offenbar dem Menschen ersprießlicher, als sich für auserwählt zu halten. Jeder, der an sich glaubt, wer immer er sei, steht höher als der Unsichere. Die Unvornehmheit des typischen buchstabengläubigen Christen beruht auf seiner plebejischen Bangigkeit. Die Gegenprobe anzustellen fällt nicht schwer: die ursprünglichen Calvinisten haben sich im selben Sinn für auserwählt gehalten, wie die Muslim, und unter ihnen sind zweifelsohne die überlegensten Typen zu finden, welche die Christenheit hervorgebracht hat. Zwar waren sie nie so vornehm, wie die Muslim; sie waren eben deshalb auch intolerant. Welcher Pastor war je so weitherzig wie Mohammed, von dem der Ausspruch überliefert ist: Die Meinungsverschiedenheit in meiner Gemeinde ist ein Zeichen göttlicher Barmherzigkeit? Allein sie standen doch hoch über den Lutheranern, die in ständiger Angst vor dem Ungewissen lebten, und kaum weniger hoch über den Katholiken, denen die Kirche ihr Verantwortungsgefühl nahm. — Ja, an überlegener Toleranz steht nicht allein der brahmanische und buddhistische, sondern gerade auch der islamische Orient über dem Okzident. Wie kommt es nun, dass dieser nirgends charakterlos ist, was Europäer doch regelmäßig werden, wo sie ihre nationalen Vorurteile abgelegt haben? Das weiß ich mir noch nicht zu erklären. Der Nationalcharakter erscheint freilich verwischt, wo immer der Halbmond die Landschaft beleuchtet, was zumal hier in Indien sehr auffällt, wo die Typen sonst so scharf umrissen sind. Aber seine Stelle nimmt ein universellerer und doch nicht weniger bestimmter Charakter ein: derjenige des Muselmannes. Jeder einzelne Mohammedaner, den ich frage, wes Blutes er sei, erwidert mir: ich bin ein Muselmann. Warum hat diese Religion allein es verstanden, die Nation durch ein Weiteres zu ersetzen? Und durch ein Weiteres, das nicht minder stark und eindeutig ist? Wie kommt es, dass der Islam, der kein entsprechendes Dogma aufstellt, das Ideal der allgemeinen Fraternität realisiert, worin das Christentum, trotz seiner Ideale, versagt hat? Das muss an intimen Beziehungen liegen zwischen den Grundlinien dieses merkwürdigen Glaubens und den Grundzügen der Menschennatur, über die ich heute noch ganz im Unklaren bin.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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