Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Delhi: Islam

Gewaltig ist die Gestaltungskraft des Islam. Sogar die Gesichter der Gläubigen, die unverkennbar dem Blut nach Hindus sind, zeigen den selbstbewussten, gelassen-überlegenen Ausdruck, der überall den Muslim kennzeichnet. Diese Inder sind keine Träumer, keine Halluzinanten, keine Fremdlinge in dieser Welt. Dementsprechend wirklicher wirken sie. Ihre Muskeln scheinen straff, ihre Augen kühn, ihre Haltung ist wie sprungbereit; ihre Physis hat viel mehr Ausdruckswert. Wie Recht tuen die Engländer, das islamische Element in Indien als das Ausschlaggebende zu betrachten und zu behandeln!

Unausgesetzt beschäftigt mich das Problem, woher dem Islam seine formende Kraft kommt, die soviel größer scheint, als die aller anderen Religionen. Die Reflexion auf das extrem Demokratische mohammedanischer Verbände hat mich heute endlich, wenn ich nicht irre, auf die richtige Spur gebracht. Der Demokratismus des Islam erklärt seine Werbekraft, zumal ein Indien, wo Bekehrung zu ihm die einzige Möglichkeit bezeichnet, der Kastenbestimmtheit zu entrinnen; und hier handelt es sich um echte Gleichheit — weit mehr so, als in den Vereinigten Staaten Amerikas —, denn die Muslim gelten nicht bloß, sondern halten sich wirklich für Brüder, unbekümmert um Rasse, Vermögen und Position. Aber dieser Demokratismus ist kein Letztes; er ist die Wirkung einer tief er liegenden Ursache, und die scheint mir den Schlüssel zu bieten zu allen Rätseln der Vorzüge des Mohammedanerglaubens. Der Islam ist die Religion absoluter Hingebung. Was Schleiermacher als Wesen aller Religiosität bezeichnete, definiert tatsächlich die des Muselmanns. Dieser fühlt sich jederzeit in der absoluten Gewalt seines göttlichen Herrn, und zwar in dessen persönlicher Gewalt, nicht in der seiner Minister und Knechte; er steht ihm jederzeit Auge in Auge gegenüber. Dies bedingt denn das Demokratische des Islam: in allen absoluten Monarchien herrscht bis zur Stufe des Throns der Geist der Gleichheit; von allen Ländern Europas war das Russland von gestern das demokratischeste, weil gegenüber der absoluten Gewalt des Zaren alle Unterschiede zwischen den Untertanen geringfügig erschienen. Aber es gibt Autokratien verschiedenen Geistes; je nach der Art des Herrschers erscheinen sie stark oder schwach. So beruht die einzigartige Gestaltungskraft des Islam auf dem einzigartigen Charakter seines Gottes. Allah, weit mehr als Jehovah, weit mehr als der Christengott, verdient den Namen eines Herrn der Heerscharen; er ist Autokrat im Sinne eines Generals, nicht eines Tyrannen. Hiermit hätte ich es denn: der Mohammedanerglaube bedeutet, als einziger der Welt, recht eigentlich militärische Disziplin. Es gibt kein Rechten mit Gott, kein Bitten, kein Verhandeln, kein Erschleichen; das bloße Absichtenhaben beim Beten (Schirk) gilt als Todsünde; der Mensch hat Ordre zu parieren wie ein Soldat. Nun wird keiner bestreiten, dass die Bewusstseinsform des gutgedrillten Soldaten von allen die größte Leistungsfähigkeit sichert überall, wo es sich um Ausführen, nicht um Ausdenken handelt. Die islamische Welt stellt eine einzige Armee dar von einigem, ungebrochenem Geist. Solch’ ein Geist schmilzt auf die Dauer alle Unterschiede ein; er macht alle zu Kameraden. Im Islam hat er alle Rassendifferenzen eingeschmolzen. Der Ritualismus dieses Glaubens hat einen anderen Sinn, als der von Hinduismus und Katholizismus; es handelt sich um Objektivierungen der Disziplin. Wenn die Gläubigen täglich zu bestimmten Stunden in der Moschee in Reihe und Glied ihre Gebete verrichten, alle gleichzeitig gleiche Gebärden vollführend, so geschieht dies nicht, wie im Hinduismus, als Mittel zur Selbstverwirklichung, sondern in dem Geist, in welchem der preußische Soldat vor seinem Kaiser vorbeidefiliert. Diese militärische Grundgesinnung erklärt alle wesentlichen Vorzüge des Muselmanns. Sie erklärt zugleich seine Grundgebrechen: sein Unfortschrittliches, Anpassungsunfähiges, seine mangelnde Erfindungskraft. Der Soldat hat nur Ordre zu parieren; das übrige ist Allahs Sache.

Von hier aus gelingt es vielleicht der Gehorsamsforderung in der Religion, welche von der Moderne rein negativ bewertet wird, gerecht zu werden. Unter Soldaten gilt es als Binsenwahrheit, dass nur, wer gehorchen kann, zu Befehlen weiß. Warum? Weil Befehlen und Gehorchen eine identische innere Sammlung voraussetzen. Wer also zu gehorchen lernt, lernt zugleich recht eigentlich befehlen. So könnte nichts unverständiger sein, als die Gehorsamsforderung, wie dies heute oft geschieht, als Schule der Schwachheit zu verdammen: im Gegenteil, keine stärkt mehr. Nur darf solche Schulung nicht ins Unbegrenzte ausgedehnt werden; sie darf nicht länger währen, als bis der Mensch gelernt hat, sich selbst zu befehlen; wäre es anders, der Untermilitär verkörperte den menschlichen Idealtypus und der Jesuit stände über dem Weisen.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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