Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Agra

Daß es so etwas geben kann, hätte ich nicht für möglich gehalten. Ein massiver Marmorbau, ohne Schwere, wie aus Äther gebildet; vollendet rationell und doch rein dekorativ; ohne bestimmbaren Gehalt und doch sinnvoll im höchsten Grade: der Taj Mahal ist nicht nur eins der größten Kunstwerke, er ist vielleicht das größte aller Kunststücke, das der bildende Menschengeist je vollbracht hat. Das Maximum an Vollendung, das hier erreicht erscheint, ist allen Maßstäben, die ich wüßte, entrückt, denn Halbvollendetes auf der gleichen Linie gibt es nicht. Anlagen gleichen Planes liegen zu Dutzenden auf der weiten Ebene Hindustans verstreut, aber keine von ihnen lässt die Synthese auch nur ahnen, welche die Schöpfung Schah Dschehans in sich beschließt. Jene sind vernunftgemäß angelegte Gebäude, mit schönen Dekorationen obendrein; das Vernunftgemäße wirkt als solches, das Dekorative seinerseits, und über das Gesamtbild lässt sich von den gleichen Voraussetzungen aus urteilen, wie über alle sonstige Architektur. Im Falle des Taj liegt unverkennbar ein Dimensionswechsel vor. Das Vernunftgemäße ist im Dekorativen eingeschmolzen, welches bedeutet, dass die Schwere, deren Ausnutzung das Realmotiv aller sonstigen Baukunst ist, ihr Gewicht verloren hat; umgekehrt ist dem Dekorativen sein Arabeskencharakter genommen, da hier die Arabeske alle Vernunft in sich eingesogen hat und vom gleichen Gehalt durchgeistigt erscheint, den sonst nur Rationelles besitzt. So wirkt der Taj nicht nur als schön, sondern zugleich, so befremdlich dies klingen mag, als wunderhübsch; er ist ein erlesenstes Bijou. Ihm fehlt, bei vollendeter Schönheit, bei unerreichter Lieblichkeit und Anmut, jedwede Erhabenheit. Und nun was den Sinn betrifft: Ausdruckswert im Verstände der bekannten architektonischen Ausdrucksmöglichkeiten hat er keinen, nicht mehr als irgendein Kabinettstück der Goldschmiedekunst. Weder spricht aus ihm Geistigkeit, wie aus dem Parthenon, noch Sammlung und Kraft, wie aus den typischen mohammedanischen Bauten; seine Formen haben weder einen seelischen Hintergrund, wie diejenigen gotischer Kathedralen, noch einen animalisch-emotionellen, wie die drawidischer Tempel. Der Taj ist nicht einmal notwendig ein Grabdenkmal: ebensogut oder so schlecht könnte er ein Lusthaus sein, wie jeder erkennen wird, der sich durch die Zypressen ringsum und die tausenderlei geläufigen Kommentare seinen unbefangenen Blick nicht trüben lässt. Freilich ist es gar anheimelnd zu denken, dass dieser Bau ein Denkmal treuer Gattenliebe sei und die im Tode Wiedervereinten überwölbe. Allein die tote Königin ist mitnichten die Seele des Taj. Dieser hat keine Seele, keinen Sinn, der sich irgendwoher ableiten ließe. Eben darum aber stellt er das absoluteste Kunstwerk dar, das Architekten jemals aufgeführt haben.

Die Architektur gilt als unfreie Kunst; sie ist es insofern, als geistige Schönheit in ihr nur durch das Medium empirischer Zweckmäßigkeit dargestellt werden kann. Was schön erscheint ohne zweckmäßig zu sein, ist eben deshalb sinn- und gehaltlos — die Arabeske ist da und gefällt, doch sie bedeutet nichts. Daher der merkwürdige Antagonismus zwischen dem Rationellen und dem Dekorativen: im Fall vollendet rationaler Kunst, wie der hellenischen, wirkt dieses als überflüssig; je weniger Schmuck und Beiwerk, desto besser. Umgekehrt bedarf das Dekorative notwendig eines Objektes, das ihm Sinn verleiht. Am wesenhaftesten mutet es dort an, wo es ein ihm entsprechendes Leben voraussetzt, wie in den Palästen Italiens und Indiens; je mehr selbständige Bedeutung es beansprucht, desto leerer und sinnloser wirkt es. Beim Taj nun erscheint der Geist nicht als empirisch gebunden und das Dekorative nicht als innerlich leer; dieser Bau ist absolut zwecklos trotz vollendeter Rationalität und vollkommen gehaltvoll trotz seines Arabeskencharakters. Er gehört eben einer besonderen Sphäre an. In dieser gelten die üblichen Kategorien nicht. Hier bedeutet das Dekorative ein ebenso Innerliches, wie sonst das Zweckmäßig-Schöne, und die Vernunft erscheint nicht tiefer als der Schimmer. Der Taj ist wohl das absoluteste Kunstwerk, das es gibt; er ist so ausschließlich, dass seine Seele, gleich seinem Körper, keine Fenster hat. Wir können sie nur ahnen, nur verehren, wirklich hin zu ihr führt kein Weg.

Und was ist es, das diese Einzigkeit bedingt? Es ist das Zusammenwirken vieler Kleinigkeiten; das Dasein von Nuancen, denen man es nimmer zutrauen würde, dass sie so Ungeheures bedeuten könnten. Der allgemeine Plan des Taj liegt hunderten indischer Mausoleen zugrunde, die völlig gleichgültig wirken; die Chromatik ist hundertfach nachgeahmt worden, mit keinem besseren Erfolg, als dass die also geschmückten Gebäude den Eindruck von Konditorwäre machen. Man verschiebe nur ein wenig die Proportionen, man ändere um ein Jota die Dimensionen, man nehme ein anderes Material; man versetze den Taj, wie er ist, in einen Gegend von anderen Luftfeuchtigkeits- und Lichtbrechungsverhältnissen: er wäre nicht mehr der Taj Mahal. Ich habe den gleichen weißen Marmor keine hundert Kilometer entfernt von Agra zu Moscheen verwandt gesehen: dort hat er nichts vom Schmelze des Taj. An diesem Kunstwerke wird einem besonders deutlich, was es mit der Individualität für eine Bewandtnis hat. Man stelle noch so viel Kausalreihen her, weise noch so viel Beziehungen nach: nie wird man das Eigentliche fassen; irgendein geringfügig scheinender Umstand falle weg und das Wesen erscheint alsbald verwandelt. Dies spricht wenig zugunsten der metaphysischen Wirklichkeit des Individuums; wie sollte etwas metaphysisch wirklich sein, was so augenscheinlich von empirischen Verhältnissen abhängt? Es beweist andrerseits jedoch die Absolutheit des Phänomens. Dieses ist schlechterdings einzig, auf nichts anderes und Äußeres zurückzuführen. Und manchmal, zu Zeiten platonisierender Stimmung, neige ich zum Glauben, dass es insofern an Metaphysisch-Wirklichem doch teil haben könnte. Ein bestimmter Aspekt des ewigen Geistes kann nur unter bestimmten empirischen Bedingungen sichtbar werden. Diese Bedingungen als solche sind nichts Wesenhaftes und in ihnen erschöpft sich das Individuelle. Allein der Geist, der es beseelt, existiert an sich selbst, gleichviel ob und wie er sich äußert. So mag das Urbild des Taj von Ewigkeit her die Welt der Ideen geziert haben.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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