Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

I. Nach den Tropen

Aden

Von allen Erdteilen besitzt der schwarze die gewaltigste Bildungskraft: was Afrika entstammt, bleibt dem Geiste nach ewig afrikanisch. Noch im Museum hebt der Gorilla sich vom heimischen Grunde ab; Zebra und Strauß zaubern dörrende Steppenluft in die lieblichste Frühlingslandschaft hinein; der afrikanische Mensch aber hat das Land, in das er verpflanzt ward, mit der Psyche seiner Heimat so sehr durchtränkt, dass der Weiße dort heute Negerweisen singt, um seinem Herzen Luft zu machen. — Um das zu wissen, braucht man nicht in Afrika gewesen zu sein. Wohl aber hätte ich schwerlich ermessen, wenn ich in Aden nicht an Land gestiegen wäre, bis zu welchem Grade Afrika wirklich ist, diese scheinbare Abstraktion. Hier bilden Felslandschaft und Mensch, Sandflächen, Strauchhütten und Geier, Dromedare und die Lasten, die sie tragen, einen einzigen schmetternden Durakkord. Der Akkord ist durchaus das Ursprüngliche; aber jeder Teilton klingt andrerseits so rein und schwingt so sicher im Zusammenklang, dass man in jedem, bei dem das Ohr gerade verweilt, den Grundton zu vernehmen glaubt. Dieses Zusammenstimmen ist beinahe übertrieben; so groß, dass den Elementen überhaupt kein Spielraum gewährt erscheint; hier gibt es keine individuelle Eigenart. Dafür tritt der überindividuelle Sinn so unmittelbar und so stark in die Erscheinung, dass die Gleichheit alles Gleichartigen nicht als Stereotypie, sondern als höchste Typik wirkt, wie die Typik in der griechischen Kunst, und alle Wiederholung als rhythmisch.

Herrlich sehen die nackten Neger aus. Hier hätte Bildhauerei, allen Ernstes, keinen Sinn. Bei uns Europäern ist der Körper zumeist eine faule, träge Masse, dem Künstler liegt es ob, aus dieser Materie Ausdruckswerte herauszuhauen. Deshalb bedeutet dieser uns so viel. In Afrika lösen die Naturformen in mir wenigstens eine größere innere Steigerung aus, als die meisten Kunstwerke dies vermögen. Nur ganz wenige Bildhauer hat es gegeben, die besser gearbeitet hätten als die Natur, die in höherem Maße als sie die Möglichkeiten der Menschengestalt verwirklicht hätten. Die meisten sind hinter ihrem Vorbild, gerade was das eigentlich Künstlerische, die Suggestionskraft der Gestaltung betrifft, weit, weit zurückgeblieben. Nur die höchste Kunst hat die Bedeutung, die unsere Ästheten aller Kunst zuerkannt wissen wollen. Soll ich’s aussprechen? Ihre ungeheure Wertschätzung verdanken die Künstler einer Konjunktur, die, trotzdem sie vielleicht ewig fortbestehen wird, doch nicht weniger zufällig bleibt. Die Bildhauer dem Umstand, dass unser Leib dank jahrhundertelangem Gekleidetgehen den ihm innewohnenden Ausdruckswert nicht mehr verwirklichen kann, weshalb wir es als Offenbarung empfinden, wenn ihn der Künstler an seinem Abbild realisiert; die Dichter dem, dass die meisten Menschen von sich aus fast nichts empfinden; ihnen muss ein fremdes Gefühl gezeigt werden, auf dass ein ähnliches in ihrer Seele anklinge.

Alle Menschen, die ich hier sehe, sind schön; die Neger vor allem als Gestalten, die Araber, die wieder und wieder auf edlem Roß die sandigen Gassen entlangsprengen, als Charakterköpfe. Diese Menschen sind ebenso schön wie Tiere; sie sind als Körper ebenso ausdrucksvoll. Das ist, weil sie alle typisiert sind. Schönheit ist nie ein Ausdruck des Individuellen: ihr Begriff umschließt die Vollendung der Formtendenzen, deren Ausdruck die Gattung umgrenzen; in ihr vollendet sich also etwas, das mehr ist als das Individuum. Hierauf beruht ihr zwingender, allgemeingültiger Charakter vom Standpunkt aller, in welchen gleiche Formtendenzen lebendig sind, denn jede begrenzte Möglichkeit ist nur einer äußersten Verwirklichung fähig. Für den Menschenleib ist kein höherer Grad harmonisch allseitiger Ausbildung denkbar, als die Plastik der Griechen sie zur Darstellung bringt, also sind deren Gestaltungen absolut schön. Hier, und hier allein, fußt der Objektivitätscharakter ästhetischer Urteile: ob diese Naturformen oder deren künstlerische Abbilder oder bloße Arabesken betreffen — in der ganzen Natur herrscht eine gleiche Mechanik und eine gleiche Stereometrie, so dass überall Verhältnisse denkbar sind, die unter Voraussetzung der Schöpfung, wie sie ist, ein objektives Optimum verkörpern. Bei diesen Urteilen kommt Subjektivität gar nicht in Frage. Im Falle nationaler Schönheitstypen (gleichwie im Fall spezifischer Kunststile) ist die Objektivität auf ein engeres Gebiet beschränkt; sie gilt nur für die, welche gewisse besondere Voraussetzungen zugestehen, über deren Wert sich vielleicht streiten lässt. Sind diese aber einmal zugestanden, dann spielt der Geschmack auch hier keine Rolle mehr. Die Neger von Aden sind absolut schön, weil sich der Rassetypus in ihnen vollendet.

Aus der gegebenen Bestimmung geht eindeutig hervor, dass Schönheit im Sinne körperlicher Vollendung für das Individuum niemals symbolisch ist; hinter keiner der prachtvollen Araberstirnen steckt ein nur annähernd gleichwertiger Intellekt. Nicht umsonst war Sokrates der Griechen Häßlichster, nicht ohne Grund überrascht uns Geist bei einer vollendet schönen Frau: körperliche Schönheit und individuelle Bedeutung gehören nicht allein verschiedenen Dimensionen an, sie widerstreiten sich insofern, als überall in der Natur, wo die Gattung dominiert, das Individuum entsprechend zu kurz kommt. Schönheit im eigentlichen Sinn ist immer überindividuelle d. h. typische Schönheit, und der Typus wird von starken Individualitäten meist zersprengt. Am deutlichsten tritt dies bei unfertigen Völkern zutage, den Deutschen z. B. und den Russen, als wo der bedeutende Einzelne gewöhnlich vom physischen Rasseideal mehr abweicht, als dies vom Durchschnitt gilt; am undeutlichsten bei auskristallisierten, wie den Briten. Dass letzteres jedoch meine Grundbestimmung nicht Lügen straft, erhellt daraus, dass der Ungewöhnliche innerhalb fertiger Rassen fast ausnahmslos weniger ungewöhnlich ist, als innerhalb unfertiger. Das heutige England wird keinen Shakespeare hervorbringen.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
I. Nach den Tropen
© 1998- Schule des Rades
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