Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Benares: Aberglauben

Freilich wird der an Benares eine arge Enttäuschung erleben, der in der heiligen Stadt nur Heiligen und Weisen, nur dem Ausdruck echter Religiosität und tiefsten Verständnisses zu begegnen erwartet: nirgends auf der Welt, im Gegenteil, bekommt man mehr Aberglauben und mehr Unverständnis, mehr merkantiles Pfaffentum und wohlberechneten Schwindel zu sehen. Es ist nicht möglich, dass die Masse dort nicht abergläubisch wäre, wo das Sicht- und Greifbare so sehr dazu verleitet; nur der Entwickelte kann sicher unterscheiden zwischen Symbol und empirischer Wirklichkeit. Und es wäre unmenschlich, wenn sich keine Leute fänden, die solches Missverstehen nach Möglichkeit zu Geld machten. Unter den Yogis trainiert sich ein allzu großer Teil nicht aufwärts zu Gott, sondern abwärts zum Tiere zurück: denn wenn einer Macht über sonst dem Willen nicht unterworfene Muskeln gewinnt, z. B. den Herzschlag bewusst regulieren lernt, so bedeutet das, dass er in den Zustand des Wurmes zurückgerät; insgleichen, wenn einer sich auf Wochen, ohne Schaden zu nehmen, begraben lassen kann, dass er vermag, was des Winterschlafs fähige Tiere noch besser leisten. Diese Hatha-Yogis sind sämtlich stupid, und gelten auch dafür; die ganze Energie, über die ihr Intellekt allenfalls verfügen könnte, ist bei ihnen im Körper gebannt. Und wohl die meisten Pilger sind mehr oder weniger abergläubisch. Das muss so sein, wo das Psychische als das Primäre gilt, denn nur der Begabte und Gebildete hat genügend Selbstkritik, um ohne Hilfe von außen her wahrhaftige von falschen Vorstellungen zu unterscheiden. Der Masse, soweit sie vorwärts kommen soll in dieser Welt, bekommt eine roh-realistische Veranlagung doch am besten; deshalb macht die der Christen und der Mohammedaner einen so viel reelleren Eindruck als die der Hindus. Jene lassen nur das Greifbare gelten; das ist ein Wirkliches, kein Eingebildetes, ein wie geringer Teil immer der ganzen Wirklichkeit; während diese, nur zu häufig, auf Unwirkliches bedacht, dann selber unwirklich werden.

Aber gerade darin erweist sich die Tiefe der indischen Weltanschauung, dass diese den Irrtum überall als Ausdruck der Wahrheit versteht, und so nichts ausschließt am Leben. Der Indergeist hat längst die Bedingtheit aller empirischen Bildungen erkannt; er weiß, dass es von Äußerlichkeiten abhängt, ob einer falsch oder richtig denkt, das Gute oder das Schlechte tut, an Wirkliches oder Unwirkliches glaubt; er weiß, dass es Zufallssache ist (vom Standpunkte eines gegebenen Lebens gesehen, ohne Rückbezug auf die Totalität der verflossenen), ob einer sich als Heiliger oder Verbrecher darstellt: im letzten bedeuten alle Erscheinungen das gleiche. Verrückt sich ein Rädchen im Gehirn, so wird aus dem Weisen ein Narr; besonders günstige äußere Umstände lassen einen Kleinen groß erscheinen; eine zufällig nicht gemachte Erfahrung enthält dem Gottsucher die letzte Erleuchtung vor: wer mag da behaupten, dass Gestaltung zum Wesen in notwendiger Beziehung steht? So bedeutet es kein willkürliches Konstruktionsprodukt, wenn der Glaube an Falsches dem an Wahres metaphysisch gleichgesetzt wird: der Verständnisunfähige muss sich in anderer Form mit der Gottheit in Gleichung setzen, als der Erkennende. Exoterismus und Esoterismus stehen in Indien in wesentlichen Beziehung, als innerhalb des Katholizismus. Letzterer statuiert nur ein pragmatisches Band zwischen höheren und niederen Ausdrucksformen; das heißt, exoterische und esoterische Wahrheiten gelten für gleichwertig, insofern sie den gleichen Zweck erfüllen. Die gleiche Beziehung statuiert der Inder natürlich auch; aber er weiß überdies, dass der Irrtum nicht allein im pragmatischen, sondern auch im ontologischen Sinne der Erkenntnis gleichwertig sein kann: unter bestimmten empirischen Bedingungen — unzulänglicher Verstandesbegabung, Erziehungsmangel, ausgesprochener Emotivität usf. — tritt eben das metaphysische Wirklichkeitsbewusstsein in Form des Glaubens an Unwirkliches zutage, das sich dem großen Geiste als reine Erkenntnis offenbart. Es ist ganz gleichgültig im Prinzip, ob die Verknüpfung von Sondervorstellungen mit ihrem letzten objektiven Sinn von Anfang her bestand, oder erst nachträglich hergestellt wurde; fast immer war wohl letzteres der Fall: metaphysische Verknüpfungen bestehen unabhängig von der Geschichte. Es geschähe, was da wolle, aus welchen Ursachen immer, gleichviel zu welcher Zeit: immer und überall werden die Ereignisse die von den Rishis erkannte Wahrheit bestätigen.

So klafft denn kein Bruch zwischen indischem Irrtum und indischer Weisheit; allerorts erscheint es möglich vom einen zum anderen hinüberzugelangen. Bei uns ist das anders, weil wir noch immer festhalten an der Substantialität von Name und Form, noch immer ferner mit dem Intellekte der Ganzheit des Lebens gerecht werden wollen. So scheint uns die Wahrheit den Irrtum zu widerlegen, der vollkommene Ausdruck den unvollkommenen aufzuheben, und wo zwei Vorstellungen sich logisch widersprechen, dort wähnen wir, nur eine von ihnen könne richtig sein. Wir befinden uns in dieser, wie in so vielen Hinsichten, in einem rudimentäreren Entwickelungsstadium. Deswegen ist die Mehrzahl unter uns noch außerstande, die ganze Tiefe der indischen Weisheit zu verstehen. Die Bhagavad-Gîta z. B., dies vielleicht schönste Werk der Weltliteratur, gilt vielen als philosophisch wertloses Kompilat, weil allerdings viele Denkrichtungen in ihm gleichzeitig zu Wort gelangen. Dem Inder erscheint es absolut einheitlich im Geiste. Shankaracharya, der Begründer der Advaita-Philosophie, des radikalsten Monismus, den es jemals gab, war praktisch zeitlebens Dualist, d. h. ein Anhänger der Sânkhya-Yoga, und als religiöser Praktikant Polytheist. Wie war das möglich? — Shankaras logische Kompetenz steht außer Frage. Er war aber mehr als ein bloßer Logiker. So dünkte es ihn selbstverständlich, dass zu verschiedenen Zwecken verschiedene Mittel angewandt werden müssen. Über den Dualismus gelangt praktisch keiner hinaus; es ist unmöglich, das Mindeste zu denken, zu wollen, zu erstreben, zu tun, ohne implizite eine Zweiheit zu setzen. Wozu es also leugnen? Das ändert an der Sache nichts. Aber andrerseits beweist die praktische Unüberwindlichkeit des Dualismus nicht, dass er dem Wesen anhaftet; aller Wahrscheinlichkeit hängt sie vielmehr nur ab von der Beschaffenheit des Erkenntnisinstruments. Das Wesen mag trotzdem Eines sein, ohne ein Zweites; was aber seinerseits nicht verhindert, dass es sich in der Mannigfaltigkeit manifestiert. So mag ein extremer Monist doch zu vielen Göttern beten, wofern ihm das die Realisierung des Einen leichter macht. — Shankaras Auffassung stehen andere gegenüber: es gibt Schulen, die auch dem Wesen Zweiheit zusprechen, wieder andere, die es sowohl als Einheit wie als Zweiheit vorstellen; es gibt theistische, pantheistische, atheistische Ausdeutungen. Sofern sie unmittelbare Ausdrücke des metaphysisch Wirklichen sein sollen, gelten sie sämtlich als gleichberechtigt und orthodox: es sei doch unmöglich, jenseits des Machtbereiches der Vernunft eine gültige Entscheidung zu treffen; hier können alle Philosophien nur Ausdrucksformen sein. Für praktische Erkenntniszwecke wird ausschließlich die Sânkhya-Yoga anerkannt, denn alles praktische Erkennen setzt nachweislich Dualität voraus. Als Gläubiger endlich mag jeder es halten, wie er will, denn hier kommt ausschließlich der Wahrheitsbegriff des Pragmatismus in Frage. Sind die Inder also Eklektiker? Beileibe nicht; sie sind bloß das Gegenteil von Rationalisten; sie leiden nicht am Aberglauben, dass metaphysische Wahrheiten in irgendeinem logischen System einer erschöpfenden Verkörperung fähig wären; sie wissen, dass spirituelle Wirklichkeit nie durch eine, sondern allenfalls durch mehrere intellektuelle Koordinaten bestimmt werden kann. Dass Monismus und Dualismus sich widersprechen, bedeutet in diesem Zusammenhang ebensowenig, wie der Widerspruch zwischen dem Fuß- und Metermaßsystem. Natürlich gibt es Leute, die auf die eine oder die andere Maßeinheit schwören: das ist ihre persönliche Angelegenheit. Es ist sogar unbestreitbar, dass zu diesem oder jenem Behuf e die eine vor der anderen Vorzüge aufweist: ein Narr ist, wer sich diese nicht zunutze macht. Aber nie, nie sind die indischen Weisen — ich rede nur von den Weisen, die Pandits, die Schriftgelehrten meine ich nicht — unserem typischen Irrtum verfallen, irgendeine intellektuelle Gestaltung metaphysisch ernstzunehmen. Diese Gestaltungen sind nicht dichter, nicht wesenhafter, als nur irgendein Māyāgebild. Sie können das Eigentliche in mehr oder weniger deutlicher und überzeugender Symbolik zum Ausdruck bringen — dieses mehr oder weniger entscheidet über ihren Wert — wesenhaft an sich sind sie nie. Um das Wesen allein aber ist es den Indern zu tun. Sie sehen es in allem, aus allem hindurch, trotz allem. So lassen sie sich nicht irre machen durch intellektuelle Unzulänglichkeit, durch Widersprüche niemals beirren. Sie lesen die Gita buchstäblich als des Erhabenen Gesang, als den Ausdruck eines göttlichen Geistes, denn Er ist es, der aus noch so brüchigem Körper zu ihnen spricht.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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