Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Benares: Innere Wahrhaftigkeit

Vielleicht wäre das Herz des Yoga-Gedankens am zeitgemäßesten (denn in jeder besonderen Periode erscheint den gleichen Ideen eine spezifische Verkörperung am gemäßesten) in folgendem Satz auf europäisch wiederzugeben: es ist die Bestimmung des Menschen über das Menschentum als Naturbestimmtheit hinauszugelangen, und von ihm allein hängt es ab, ob und wie weit er sie erfüllt. Von allen Lastern ist Trägheit das Schlimmste: nie darf er sich ihm überantworten. Er soll nicht etwa arbeiten um jeden Preis, gemäß dem Imperativ des Westens — wie sinnlos käme den Rishis unsere Vergötterung der Arbeit vor! — sondern unentwegt darnach trachten, dem ewigen Geist, der ihn beseelt, zum Ausdruck zu verhelfen, indem er das Positive in sich potenziert und das Negative in Positives umwandelt. Im übrigen führt jeder Weg zum Ziel, und jeder kann es erreichen. Wie Sri Krishna zu Arjuna in der Bhagavad-Gîta sagt: wie immer die Menschen mir nahen, eben so nehme Ich sie an; denn alle Wege, die sie wandeln können, sind Mein. So ist es. Eine Urkraft durchströmt das Universum, alle Gestaltung bedingend, beseelend, in aller sich manifestierend; so ist jede nicht allein Ausdruck, sondern ein möglicher vollendeter Ausdruck des Göttlichen, und Vollendung ist das Ziel, jede Gestaltung ist fähig, nicht trotz sondern in ihrer Eigenart, die Gottheit zu realisieren; ob es ihr gelingt, hängt vom Geiste ab, aus dem heraus sie lebt. Lebt sie aus dem Geiste der Tiefe heraus, dem der äußersten inneren Wahrhaftigkeit, so kommt auch der Verbrecher zu Gott, denn nichtig ist der Unterschied vor Ihm zwischen guten und bösen Zuständen als solchen. Der Verbrecher, der im Geist der Wahrhaftigkeit Übles tut, erkennt früher oder später sein Missverständnis und verwandelt sich, wie der Schächer am Kreuz neben dem Heiland, wie die Marquise de Brinvilliers auf dem Schafott, und in der Verwandlung ist der alte Zustand aufgehoben. Solche Verwandlung besteht aber immer in Erkenntnis. Alle Wege führen zu ihr hin. Die kürzesten von allen sind die altempfohlenen der Liebe, der selbstlosen Arbeit, des Verstehenwollens, aber auch die des Egoismus und des Nicht-Wissen-Wollens führen hin, sofern sie im Geiste der Wahrheit betreten werden, denn früher oder später kehren die, so sie wandeln, um. Und alle münden ein in der Erkenntnis. Die Erkenntnis ist die Erlösung. Sobald die Kreatur ihr wahres Wesen erkannt hat, wird sie zum Ausdrucksmittel Gottes, und alles erglänzt in göttlichem Licht. Dann gibt es die Gegensätze von Gut und Übel nicht mehr, von Glück und Unglück, Freude und Schmerz; dann härmt kein Ungemach die Seele mehr; dann wird das Leben der Sonne gleich zu einem einzigen Quell reinen Gebens. Wohl und Übel sind Gegensätze nur vom Standpunkte der Unwissenheit. Freilich bestehen sämtliche Tatsachen, auf welchen der Unterschied im Urteil beruht, und werden fortbestehen solange wie die Welt, denn anders könnte es kein Geschehen geben. Welche Verblendung, auch nur zu hoffen, dass es einstmals objektiv anders würde! Was sich ändern kann, ist die menschliche Bewusstseinslage. Hat sich der Mensch endlich mit seinem wahren Wesen identifizieren gelernt, dann sieht er in den Widerwärtigkeiten des Lebens kein größeres Übel mehr, als in den Widerständen der Gefäße, dank welchen dem Blut sein Kreislauf durch den Körper allererst möglich- wird.

Ich habe in aller Unbefangenheit von Kind auf in vielen wesentlichen Hinsichten indisch gedacht; und wie mir dann die Upanishads in die Hände kamen, da freute ich mich nicht wenig, aber sagte mir stolz: was die wissen, das alles weißt du auch. Man erkennt sein Nicht-Wissen immer erst dann, wenn man zum Wissenden geworden ist. So kann ich erst jüngst, seit ich mit dem Geiste Hindustans persönliche Fühlung gewonnen und mich von seinem lebendigen Einflüsse habe durchdringen lassen, ermessen, wie Wenig ich damals wusste von dem, was die Inder eigentlich gemeint haben. Ich erkannte in den Upanishads mich selber wieder nur deshalb, weil ich mich selbst in sie hineingelegt hatte. Freilich ist der Geist der Tiefe wesentlich Einer überall; so meinen alle tiefen Geister wesentlich gleiches; so verstanden sich Yajnavalkya, Laotse und Eckhart sicherlich bei ihrer ersten Begegnung im Elysium. Aber die wesentliche Einheit schließt Unterschiede in der Erscheinung nie aus; was ich vorhin niederschrieb, war eine Übersetzung, nicht das Original; als Erscheinung ist die indische Weisheit ein ebenso Spezifisches, wie nur irgendeine individuelle Lebensform. Wäre sie das nicht, sie hätte niemals Leben schaffen können; nur durch Individuen, nicht durch Allgemeinheiten hindurch setzt sich das Leben fort. Jüngst erfuhr ich, dass der Familienguru jedem Hindukinde bei dessen Einweihung einen besonderen Namen schenkt, vermittelst dessen es zu Gott beten solle. Dieser Name ist sein schlechthiniges Eigentum; keinem teilt es ihn mit, keiner darf es nach ihm fragen; es wird vorausgesetzt, dass es allein im Weltall diesen Namen kennt, durch ihn in einzigartiger Beziehung zur Gottheit steht. Dies ist eine Illustration mehr der gleichen Wahrheit. Nur Eigenartiges, Individuelles, Persönliches, Ausschließliches kann ein lebendiges Gefäß des Universellen sein. So ist denn die indische Weisheit, trotz ihrer Universalität, eine Monade, in welche keiner eindringen kann, welchen sie nicht besitzt.

Mir ist, als besäße sie mich nun. Mehr und mehr erlebe ich auf indisch, sehe ich die Welt und das Leben im Lichte der geistigen Sonne Hindustans. Ich will diese letzten Tage, die mir für Benares noch übrig bleiben, damit verbringen, mir über die Sonderart der indischen Weisheit Rechenschaft abzulegen. Aber heute ist es zu spät, um zu beginnen. Schon schläft die ganze Stadt. Und morgen, beim Tagesgrauen, will ich wieder, wie so oft, auf dem Ganges sein, den Segen der ersten Sonnenstrahlen zu empfangen.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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