Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

I. Nach den Tropen

Im Indischen Ozean: Symbolische Bedeutung der Kleider

Kleider sollen ohne Bedeutung sein? — Bei Geschöpfen, die es gewohnt sind, gekleidet zu gehen, die überdies ihr Bild im Bewusstsein widerspiegeln, ist das Gewand nicht unwesentlicher als der Leib. Die bedeutenden Menschen dürften auch selten sein (so häufig die Esel sind), die ihren äußeren Stil nicht irgendeinmal gefunden und dann treu an ihm festgehalten hätten. Die Gottesgabe der Eitelkeit hat viel Gutes zur Folge: wer seine Tracht mit seiner Natur in Einklang gebracht hat, genügt damit nicht allein seinem persönlichen ästhetischen Bedürfnis, beweist nicht nur seinen Mitmenschen Rücksicht, er hat sich recht eigentlich ein Ausdrucksmittel geschaffen. Weshalb zieht sich der feinfühlige Mensch zum geselligen Beisammensein um? Weil er mit dem Gewand den Menschen wechselt. Im gleichen Sinn macht erst der gefundene äußere Stil den inneren Menschen ganz frei. Keiner ist wirklich ohne Eitelkeit, noch soll er es sein; jeder sieht sich selbst im Spiegel. Daher tritt er viel unbefangener auf, wenn seine Erscheinung seinem Wesen entspricht. Hiermit ist der Mode ihre Berechtigung nicht aberkannt, im Gegenteil: dem Durchschnitte wird immer sie die bestmöglichen Ausdrucksmittel verleihen, weil diesem das hervorragend Besondere fehlt, und die allgemeinen Umrisse eines Menschenschlages von der Mode meist vollkommen verstanden werden; und gleiches gilt vom bedeutenden Einzelnen, dessen Größe in der Vollendung des Typus liegt, einem Castiglione, einem Edward VII. Wenn jedoch Künstler mit abnormer Schädelbildung keine Mähnen trügen, so würden sie stillos sein und eben damit einen Teil ihrer Ausdrucksfähigkeit einbüßen. — Wie komme ich auf diese Betrachtung? An Bord ist heute Maskerade, der ich beiwohnen muss, ob ich mag oder nicht.

Verkleidungen sind doch lehrreich. Nicht zwar beim Komödianten, bei dem Erscheinung und Wesen von vornherein zwei Welten angehören, sondern gerade bei dem, der kein oder wenig Talent zum Schauspieler besitzt. Hier bleiben Schein und Wesen trotz aller Absicht in Gleichung gesetzt, und das führt zu wahren Offenbarungen. Ich will nicht behaupten, dass der, dem die Tracht des 18. Jahrhunderts am besten steht, damit beweist, dass dessen Geist ihn beseele, wohl aber ist es wahr, dass Verkleidung (die ja nichts anderes als Kleidung mit bestimmter Absicht ist) dazu verhilft, Wesenszüge zum Ausdruck zu bringen, die normalerweise im Hintergrund verbleiben. Auf diese Weise kann sie Steigerung sowohl als Herabminderung, sie kann geradezu Selbstverwirklichung bedingen. Herabminderung ist der häufigste Fall, weil der natürliche Ausdruck den meisten am besten entspricht; hier offenbart die Maskierung, was der Mensch zwar ist, jedoch nicht wesentlich ist; sie verrückt das Zentrum seines Seins. Steigerung bedingt sie bei denen, welchen ihren Beruf, ihr Milieu und dessen Suggestionen nur eine teilweise Selbstverwirklichung gestatten; diese sind in entsprechender Verkleidung mehr oder in besserem Sinne sie selbst, als sonst, in ihrem wirklichen Dasein. Der interessanteste Fall ist das Extrem des Zuletztbetrachteten — der Fall, wo der Mensch im Leben gar nicht er selbst ist und erst auf der Mummenschanz seine Geburt ins Dasein erlebt. Zweifelsohne passen so manche weder in ihre Zeit, noch in ihren Beruf, noch in die Welt hinein, der sie entsprossen sind; deren Wirklichkeit ist, metaphysisch betrachtet, Schein. Solche werden mitunter dank einer Maske echt. Vor mir bewegen sich zwei Weltmänner, die das Gewand von Apachen tragen: fast möchte ich schwören darauf, dass nicht ihr heutiges Spiel, sondern ihr gewohntes Leben vor Gott die Komödie bedeutet.

Hier muss ich an die in James Moriers unsterblichem Hadji-Baba of Ispahan so unvergleichlich dargestellte Umstellungsfähigkeit des Orientalen denken: der heute Großwesir, morgen Barbier und übermorgen Asket ist und sich in jeder Rolle vollkommen heimisch fühlt. Die Unbeständigkeit aller Lebenslagen im Orient legt es dort nahe, keine Gestaltung ganz ernst zu nehmen. Diesem Umstande tragen dann die Werturteile Rechnung: der Mann wird immer nur für das genommen, was er vorstellt, dementsprechend das Benehmen eine Wichtigkeit gewinnt, die der moderne Okzidentale kaum begreift. Wie sollte es anders sein? Wo die Erscheinung nicht wesentlich ernst genommen wird, muss der Schein hypostasiert werden. Wir Westländer glauben instinktiv an die Gottgewolltheit der äußeren Lebensstellung, weswegen wir einerseits viel weniger auf Form geben als der Osten, andererseits aber dort, wo sie uns notwendig scheinen, den Formen metaphysische Wirklichkeit zusprechen. Der Ritter muss sich in jeder Lage als Ritter gebärden usw. — Allein, was uns in Amerika möglich dünkt, beweist, dass auch wir es im Grunde besser wissen: über den Ozean verpflanzen wir unsere Forderungen nicht. Drüben darf auch der Ritter, dem es daheim nicht glücken wollte, als Kellner sein Brot verdienen; dort nimmt auch er, ohne Wimpernzucken, douceurs und Trinkgelder an …

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
I. Nach den Tropen
© 1998- Schule des Rades
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