Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Vorrede

Wirklichkeit der Seele

Wenn ich in einem Satz zusammenfassen soll, worin meine Lehre sich meiner Ansicht nach von der anderer moderner Philosophen unterscheidet, so muss dieser lauten: sie geht von der lebendigen Seele im Unterschied vom abstrakten Menschen aus; alle Fragen stellt sie von ihr her um. Der abstrakte Mensch war die Erfindung des 18. Jahrhunderts. Sie hatte, als Arbeitshypothese, ihre Vorzüge wie jede andere, denn es ist nicht möglich, ganz Falsches zu ersinnen. Der abstrakte Mensch bezeichnet, mathematisch ausgedrückt, das Integral der menschlichen Intellektseite. Die ist wesentlich unpersönlich; für sie gibt es nur Allgemeines, nichts Besonderes. Und soweit vom Intellekt her oder auf ihn hin gedacht und gelebt wird, hat sich die Voraussetzung seiner als letzter Wirklichkeit bewährt. Dafür sind die theoretischen und praktischen Errungenschaften des Fortschrittszeitalters ein einziger Beweis. Andererseits jedoch haben die Ereignisse der letzten Jahrzehnte erwiesen, dass es vom intellektuellen Menschen her kein Weiterkommen mehr gibt; dass, wer heute im Sinn des 18. oder 19. Jahrhunderts fortschrittlich erscheint, in Wahrheit rückschrittlich ist; ja, dass weiteres Fortschreiten auf der bisherigen Bahn geradezu ins Verderben führt. Wie jede historische Etappe war eben auch die Entwicklung des 18. und 19. Jahrhunderts eine einseitige. Die moralische und spirituelle Seite des Menschen verblieb außerhalb des Fortschrittsprozesses. Und nachdem dieses durch das experimentum crucis von Weltkrieg und Weltrevolution offenbar geworden war, ward es allgemein als Zeitaufgabe erkannt, den Bedeutungsakzent auf die Seele zurückzulegen. Leider aber wurde die Aufgabe zunächst in rückschrittlichem Sinn verstanden, der Wahrheit der Einsinnigkeit des Lebensprozesses uneingedenk. Die Errungenschaften der letzten zweihundert Jahre wurden verleugnet. Demgegenüber suche ich zu zeigen, dass die richtig verstandene Zeitaufgabe eine rein fortschrittliche ist; es gilt gar nicht, sofern wir weiter vorwärts und aufwärts wollen, den abstrakten Menschen mitsamt seinem Können zu verleugnen, sondern ihn in die Totalität des lebendigen Menschen zurückzubeziehen. Das aber bedeutet: es gilt die Wirklichkeit der Seele, als eines lebendigen Organismus, auf höherer Erkenntnisebene neu zu realisieren, die bessere Wirklichkeitserkenntnis des Mittelalters — denn dieses war sich der wahren Wirklichkeit allerdings bewusster als die Moderne — auf vorgeschrittener Verstehensstufe zu restaurieren.

Aber wenn keine einzige echte Errungenschaft des Fortschrittszeitalters preiszugeben ist, so müssen doch alle Hypostasierungen fallen, die ihren Ursprung aus der Verwechselung des abstrakten mit dem lebendigen Menschen herleiten. Um nur einige davon hervorzuheben: es gibt keine reine Vernunft im Sinne Kants, keinen reinen Willen im Sinne Cohens, keine Substanz Bewusstsein und auch kein substantielles Unbewusstes. Es gibt in Wahrheit nur lebendige Seelen, deren verschiedene Fähigkeiten Abstraktion wohl für sich betrachten mag, sowie solche den lebendigen Leib in anatomische, physiologische und biologische Elemente zerlegt, die aber nicht für sich lebendig existieren. Das Mittelalter verstand das Menschenwesen in der Tat viel tiefer als die moderne Zeit, viel tiefer vor allem auch deshalb, weil es dessen göttliche oder metaphysische Wurzel mit dem empirischen Ausdruck in eins zusammenschaute. Es gibt nämlich auch keine im lebendigen Tatbestand begründete Scheidung zwischen Metaphysischem und Empirischem im üblichen Verstand, und keine solche zwischen Körper und Geist: grundsätzlich haltbar ist einzig die zwischen Sinn und Ausdruck, welche Scheidung allerdings zwischen Äußerlichem und Innerlichem eine Grenze setzt, aber doch nicht so, dass gewisse Gebiete nun ein für alle Male materiell und andere spirituell wären, sondern insofern, dass alles Sinn zum Hintergrunde hat, alles Sinn verkörpert und doch nichts seinen ganzen eigenen Sinn zu realisieren braucht.

Diese hier nur flüchtig skizzierten Wahrheiten von der Grundlage aller bisherigen Errungenschaften her zu fassen, zu begründen und dem Leben einzubilden, ist, meiner Auffassung nach, der eigentliche Sinn meines Wirkens. Aus diesem besonderen Sinn, der aus sich heraus besondere Ziele setzt, ergibt sich denn notwendig die Erforderlichkeit einer besonderen Methode. Ich will in letzter Instanz nicht neue Erkenntnis herausstellen, sondern die Einstellung der Menschen wandeln. Beim Einzelnen hat diese Methode, wie jeder Menschenbildner weiß, in besonderem Eingehen auf seine Eigenart, unter Verzicht auf allgemeines Theoretisieren zu bestehen. Wie ist aber das gleiche Ziel bei vielen auf einmal zu erreichen? In der lebendigen Rede hält es nicht allzu schwer, soweit Grundsätzliches allein in Frage steht. Insofern verdanke ich meine schon jetzt sichtbare Wirkung fast ganz meinen Vorträgen. Schreibend hält es dagegen sehr schwer. Da sehe ich überhaupt nur einen Weg, mein Ziel zu erreichen: durch ständigen Wechsel des konkreten Gesichtspunkts und des konkreten Ziels, bei konsequentester Einhaltung meines inneren Standpunkts, meine Leser zu zwingen, ihrerseits die erforderliche innere Umstellung vorzunehmen. Wer meine Schriften wirklich verstehen will (was übrigens bisher sehr wenige tun), der muss sich, wohl oder übel, dazu bequemen, von dem Gesichtspunkt auszugehen, welchen ich wirklich einnehme. An anderer Stelle schrieb ich, es gäbe zwei Arten klarzumachen, was Licht sei: die eine ist physikalische Definition; dank solcher wird aber niemand etwas sehen. Die andere ist, zu zeigen, was und wie es belichtet. Meine Methode ist die letztere. Im Reisetagebuch zeige ich in der Anwendung, wie von einem bestimmten Verstehensniveau aus sonst als letzte geltende Erkenntnisinstanzen durchsichtig werden. In der Schöpferischen Erkenntnis wende ich mich, um die zur Erreichung dieses Niveaus erforderliche Umstellung im Einzelnen einzuleiten, ad hominem. In Wiedergeburt stelle ich die großen Lebensprobleme der neuerforderlichen Verstehensstufe entsprechend um. In der Neuentstehenden Welt zeige ich, wie die werdende Wirklichkeit, von tieferem Verstehen her belichtet, aussieht, und wie es möglich ist, durch Sinngebung das Geschehen zu verwandeln. Was soll nun dieses Buch? Es soll ganz deutlich machen, inwiefern alles Abstrakte letztlich konkret bedingt ist, d. h. inwiefern auch im Fall scheinbar abstraktesten Erkennens die Seele die letzte Instanz ist, und nicht der abstrakte Mensch.

Zu dem Ende beginne ich mit einer Selbstanalyse, aus der hervorgeht, dass mein geistig-Bestes unmittelbar Funktion meines empirisch-Unzulänglichen ist. In dieser Einführung geht mein ganzes Bestreben dahin, die Vorurteile des Idealismus zu zerstören und recht klarzumachen, dass das sachlich Gute nur in Funktion persönlicher Interessiertheit zustande kommt. Das Sachliche steht nicht über dem Persönlichen. Es tut dies grundsätzlich nicht. Da ich mich selbst besonders gut kenne, so konnte ich in meinem Fall mit geringster Irrtumsgefahr, der Intention des Kapitels entsprechend, den Akzent auf das Allzumenschliche legen.

Das zweite Kapitel zeigt am Beispiel Schopenhauers, wie die reichste Anlage bei falscher Einstellung und Selbstkultur doch letztlich unfruchtbar bleibt. Hier zerstöre ich, soweit ich’s vermag, das Vorurteil, als gäbe es so etwas wie eine Substanz Genie oder den großen Mann an sich, der nur aus dem Geist großer Worte heraus zu verstehen sei und demgegenüber alle nüchterne Beobachtung versage. Das dritte Kapitel zeigt am Beispiel Spenglers, inwiefern Einstellung auf die Tatsachen — die typische Gelehrteneinstellung — Sinneserfassung physiologisch unmöglich macht. Hier fällt das Vorurteil, dass einer schon deshalb Prophet ist, weil er als solcher schreibt. Am Beispiel Kants suche ich den Sinn richtigen Sinnverstehens deutlich zu machen und zugleich die letzte Gleichgültigkeit des Systems sowie die wahren Bedingungen der Unsterblichkeit zu demonstrieren. Das Beispiel Jesu endlich dient zur Lösung des Problems, wie sich herausgestellte Erkenntnis zur wesentlichen verhält, wie allein Geist Leben schöpferisch beeinflusst, und was die menschliche Grundlage von Impulsgebern wie Jesus ist, wobei sich denn herausstellt, dass es diese zu jeder Zeit gibt und dass der magische Mensch zu aller Zeit der alleinige Initiator war. Die Leser, die dieses Buch aufmerksam studieren, werden aus ihm hoffentlich lernen, dass der lebendige Mensch, und nicht der abstrakte, wirklich und in allen Fällen die Voraussetzung alles Tun und Denkens ist. Woraus denn folgt, dass manche Wertmaßstäbe entsprechend revidiert werden müssen.

Die Menschen als Sinnbilder sind im Lauf des letzten Jahrs in organischem Zusammenhang mit der Neuentstehenden Welt und Wiedergeburt entstanden. Nur Schopenhauer als Verbilder stammt aus früherer Zeit. Ihn schrieb ich schon 1909. Dennoch habe ich ihn ohne auch nur eine Gedankenveränderung in den neuen Zusammenhang hineinnehmen können, was wohl beweist, dass meine nach Ansicht der anderen neueste Art, die Dinge zu sehen, schon in meiner Jugend in mir lebendig und bestimmend war. — Dann habe ich noch vorauszubemerken, dass sich die Länge der Einführung im Verhältnis zum übrigen Inhalt des Buches daraus erklärt, dass ich diese vermutlich einzige Gelegenheit, über mein Leben zu schreiben, auch dazu benutzen musste, die Wünsche derer zu erfüllen, welche mehr von dessen Tatbestande wissen wollen. Im Fall aller anderen behandelten Geister sind die entsprechenden Daten, soweit sie bedeutsam sind, ja allbekannt.

Darmstadt, im Sommer 1926 Hermann Keyserling
Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Vorrede
© 1998- Schule des Rades
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