Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Schopenhauer als Verbilder

Preisgabe der Person

Ein Freund erwiderte mir einst auf die Frage, ob er ein berühmtes Werk, das mich gerade lebhaft beschäftigte, gelesen hätte: nein, aber mein Vater hat es gelesen, so brauche ich’s nicht noch einmal zu tun. Das war eine feine Bemerkung. Es ist nicht immer notwendig, ein Buch zu kennen, um es erlebt zu haben; die Wirkung bedeutender Gedanken reicht weit über den Kreis derer hinaus, die sie unmittelbar vernahmen. Man versuche die Weltansicht des geistlosesten Philisters unserer Tage erschöpfend zu begreifen: es dürfte schwer gelingen ohne Voraussetzung der Kritik der reinen Vernunft. Eine Idee, die einmal lebendig aufgefasst wurde, welche einmal in die tieferen Schichten des Bewusstseins drang, wirkt fort als lebendige Kraft, unzerstörbar, dem Werden dauernd einverleibt, und bleibt trotz aller Wandlungen ihrem wahren Wesen treu. Kein Missverständnis kann sie töten. Denn sie lebt nun jenseits des Umkreises bewusster Reflexion und bedingt oft eben die Gedanken, die ihrem Verderben dienen sollen. Die Wirkung Schopenhauers ist freilich nie so tief gedrungen; sie fällt neben der eines Kant nur wenig ins Gewicht. Wohl war Schopenhauer zwei Jahrzehnte hindurch der gelesenste aller Philosophen, aber wirkliche Macht hat er nur auf einen geringen Kreis seiner Verehrer ausgeübt. Seine Philosophie ist zu unpraktisch, um ins Leben einzugreifen, zu unhistorisch, um ihrerseits Geschichte zu machen; sie ist so gar nicht anwendbar. Gleichwohl ist Schopenhauers Einfluss lebendiger, als man denken sollte — in dem Kreise nämlich, welcher abseits der Praxis steht; fast jeder deutsche Künstler — sei er Musiker, Dichter, Maler, Essayist oder Ästhet — ist bewusst oder unbewusst ein Jünger des Frankfurter Denkers. Denn ob er unmittelbar von Wagner oder von Nietzsche, von Tolstoi oder Ibsen ausgegangen ist: seine Grundideen entstammen dem Schopenhauerschen Ideenkreis, setzen dessen Dasein zum mindesten voraus. So dass Schopenhauer als der eigentliche Begründer oder Anstifter der Weltanschauung, die in Künstlerkreisen trotz aller Varianten doch ziemlich einstimmig herrscht, betrachtet werden muss. Wenigstens wüßte ich keinen, in welchem so viele der Leitlinien des modernen Künstlerlebens rückläufig konvergierten. In absolutem Verstand kann ja keine historische Konstruktion auf Richtigkeit Anspruch erheben.

Mit fortschreitender Entfernung erscheinen alle Zusammenhänge einfacher, großzügiger, und wo uns Spätgeborenen die einzige Gestalt eines großen Mannes einsam entgegenragt, dort gewahrte der Zeitgenosse ein unübersehbares Dickicht von Personen, Ideen, Einflüssen und Bedingtheiten. Die vergessliche, gewissenlose Nachwelt, die nur das Äußerste bewahrt und gelten lässt, dichtet die unbedingte Originalität, die Mitwelt erkennt sie nicht an und kann sie nicht anerkennen, da sie zu Vieles weiß und übersieht. Denn gerade große Ströme werden von vielen Quellen gespeist, sind im Oberlauf meist undeutlich, schwer zu bestimmen und graben sich erst später ihr eigenes Bett. Plato und Shakespeare galten ihrer Zeit als Plagiatoren, Goethe ward von einem Lessing als ganz gewöhnlicher Mensch hingestellt, und Schopenhauer gar ist von seiner Epoche so vielfach bedingt, dass seine frühesten Kritiker kaum einer seiner Theorien Ursprünglichkeit zuerkennen wollten. Und nicht ohne Berechtigung insofern, als sie dem genauen Kenner der Geistesströmungen jener Tage wirklich nicht unerhört vorkommen konnten. Heute aber sind wir vollauf im Recht, wenn wir den Geniekultus etwa, wie er heute gepflogen wird, über Nietzsche und Wagner auf Schopenhauer und nicht weiter zurückführen: denn der Geist, der ihn beseelt, ist schopenhauerisch und nicht goethisch oder schlegelisch. Gedanken als abstrakte Theoreme sind vogelfrei, ohne Rasse und Bestimmung, werden meist von vielen auf einmal gedacht und auch von vielen ausgesprochen: das Entscheidende, Ausschließende, die Ursprünglichkeit Schaffende ist die lebendige Seele, die im Gedanken wohnt. Eine Idee muss einen Geist verkörpern, von ihm recht eigentlich besessen sein, um sich als Kraft zu bewähren. Und dieser persönlich, lebendige Charakter springt bei den Ideen, welche die Welt bewegt haben, so sehr in die Augen, dass, um gleich das schlagendste Beispiel anzuführen, die sachliche Übereinstimmung der Weisheit Jesu Christi mit den Aussprüchen antiker Denker neben der Kraft, die jene allein verkörperte, kaum überhaupt merklich erscheint. In diesem Sinne ist auch die Beseelung, welche die Idee vom souveränen Genie durch Schopenhauer erfahren hat, so charakteristisch, so grundoriginell, dass der, welcher Schopenhauers Ursprünglichkeit durch den Nachweis seiner Bedingtheit zu beanstanden sucht, überhaupt nicht zur Sache spricht. Und doch muss zugestanden werden, dass die Zurückführung einer ganzen Weltanschauung auf eine bestimmte Persönlichkeit in jedem Fall eine Vergewaltigung bedeutet, des historischen Tatbestands sowohl als der Persönlichkeit: ihre Seele ist nie an allem schuld, was von ihr auszugehen scheint. Diese Vergewaltigung liegt indessen in der Natur der Dinge. Wäre Geschichte nichts als genaue Wiederholung des Gewesenen, die Vergangenheit bliebe uns gerade so unverständlich, wie es die Gegenwart ist. Sie ist eben nicht Wiederholung, sondern Verdichtung. Die Geschichte verdichtet das Vielfach-Einzelne zum Allgemeinen, die Tatsache zum Symbol, die zeitliche Episode zum ewigen Beispiel. Der große Mann ist ihr die Grenzscheide zweier Epochen, und Grenzen sind nur in der Mathematik genau. Er ist ihr das einfache Sinnbild verwickelten Geschehens, und Symbole sind nur im großen wahr. Man ist nicht umsonst unsterblich; man zahlt durch Preisgabe der Person.

Was ich über Schopenhauer und seine Wirkung sagen werde, wird sich notwendig mehr auf das Problem als den Menschen, mehr auf das Symbol als das Faktum beziehen. Gegen Probleme kann man nicht ungerecht sein, und symbolische Wahrheiten liegen jenseits aller Chronik.

Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Schopenhauer als Verbilder
© 1998- Schule des Rades
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