Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Schopenhauer als Verbilder

Quietistischer Voluntarismus

Die Kenntnis der Schopenhauerschen Weltanschauung setze ich bei meinen Lesern voraus. Auch betrachte ich es nicht als meine Aufgabe, mich kritisch mit ihr auseinanderzusetzen: so viele und scharfsinnige Männer haben sich eingehend mit ihr befasst, dass wenig Neues zu sagen übrig bleibt. Wem Schopenhauers Philosophie noch unbekannt sein sollte, der studiere seine Schriften; wer sich mit den Einwänden gegen dieselbe bekannt machen will, der lese Hermann Cohen, Rudolf Haym, Kuno Fischer, H. S. Chamberlain, Georg Simmel, der orientiere sich ferner in den Schopenhauer-Monographien, deren es mehrere treffliche gibt. Ich will nur die Grundzüge dieses Gedankensystems kurz darzustellen und zu würdigen versuchen.

Schopenhauer fasst die Welt, im Gegensatz zu allen früheren führenden Philosophen, als etwas Unvernünftiges auf. Ich sage absichtlich unvernünftig, nicht irrational, denn das letztere Adjektiv trägt neutralen Charakter, während Schopenhauers Weltbild zu allen, die im Kosmos ein Vernunftgemäßes anerkennen, in bewusstem Gegensatze steht. Der Wille, (das Ding an sich, der Urgrund aller Wirklichkeit), ist blind, alogisch, unbewusst, unergründlich, zweck- und ziellos. Was er schafft, ist zwar notwendig verkettet, doch fehlt der Kette selbst jeder wesenhafte Sinn. Denn die ganze Schöpfung ist, metaphysisch betrachtet, Schein. Nichts von dem, was uns als Wirklichkeit entgegentritt, ist wahrhaft wirklich, es ist nichts als Vorstellung, Trugbild, Gehirnphänomen; wirklich ist allein das dunkle, grund- und ziellose Wollen, das den Menschen als sein tiefstes Ich von Innen her bedingt und beherrscht. Illusion ist die Welt, Illusion die Individualität, Illusion alle Veränderung. Das Werden besitzt keine Realität, die Zeit ist Phantom, das Geschehen ein ewiges Einerlei. Auch das Menschenleben ist nichts als Wiederholung, auch beim Menschen ist aller Fortschritt Trug. Der Charakter ist unwandelbar, steigerungsunfähig; so wie er anfangs war, so muss er ewig bleiben. Die Welt als Wille ist eine Welt, bei der schlechterdings nichts zu wollen ist. Nur eine Erlösung gibt es: allem Wollen zu entsagen. Wer den Willen in sich ertötet, der hat die Welt überwunden. Willenloses Erkennen, die Lebensform des Genies, und Verneinung des Lebenswillens, wie der Heilige sie übt: das sind die einzigen Ideale, welchen diese Philosophie Berechtigung zuerkennt.

Schopenhauers Willensmetaphysik ist darin das genaue Gegenteil der Fichteschen, dass sie durchaus unethisch ist. Auch für Fichte bedeutet der Wille die letzte Instanz, Fichtes Ich ist wesentlich Wille, aber dieser ist schöpferisch, er bringt etwas zustande, schafft Wesenhaftes, Wirklichkeit. Fichtes Ich setzt das Nicht-Ich, das Subjekt schafft das Objekt aus sich heraus, der Mensch ist kraft seines Wollens seines Schicksals Herr. Schopenhauers Wille ist nicht schöpferisch; was er hervorbringt, ist Schein, und was er leistet, Blendwerk. Er ist bloß, er bringt nichts zu Wege. Schopenhauers Wille ist im Grunde die Negation des Willensbegriffs. Der Wille ist doch, wenn überhaupt etwas, das bewusst Bestimmende in uns, er ist dasjenige, was die Erscheinung zwingt, dem Unbestimmten die Richtung gibt. Ein Wille, welcher nichts vermöchte, welcher wäre, ohne zu wirken, lässt sich kaum konstruieren, geschweige denn vorstellen oder denken. Schopenhauer hat einen Weltwillen angenommen, der in sich beruhend ewig beharrte, der in ziellosem Gleichmut wirkungslos dauerte; er hat es fertig gebracht, auf voluntaristischer Grundlage ein quietistisches Weltbild aufzuführen. Schopenhauers Wille ist im tiefsten Sinne ohnmächtig: er strebt fort durch alle Ewigkeit, gleich wie ein Rad im leeren Raume abschnurrt.

Ein quietistisches Weltbild auf voluntaristischer Grundlage! Das ist der tiefste Sinn des Schopenhauerschen Systems. Aber dieser Sinn ist an und für sich schon ein Widersinn: die Schopenhauersche Welt ist ohne Gewaltsamkeit nicht zu denken. Es ist nicht zu begreifen, wie aus blindem Willen und wesenlosem Schein eine Wirklichkeit erwachsen könnte, wie sie uns handgreiflich entgegentritt, wie wir sie innerlich erleben. Wohl sucht Schopenhauer dem Verständnis nachzuhelfen; so erklärt er die Außenwelt als bloßes Gehirnphänomen. Aber das Gehirn gehört selber doch zur Außenwelt, kann diese daher nicht hervorzaubern; wo Schopenhauer verdeutlichen will, verstrickt er sich in heillose Widersprüche. Der vernunftlose Wille schaffe sich den Intellekt: da jenem keine Zielstrebigkeit innewohnen soll, ist diese Schöpfung schlechterdings nicht zu begreifen. Je weiter Schopenhauer vordringt, je mehr er nach Geschlossenheit strebt, desto deutlicher erweist sich die Unmöglichkeit, unter seinen Voraussetzungen zu einer stichhaltigen Weltanschauung zu gelangen. Es ist kaum zu glauben, welcher Inkonsequenzen, Widersprüche, gewaltsamer Verknüpfungen und schlauer Erschleichungen es bedurft hat, um der Welt als Wille und Vorstellung den Anschein einer organischen Einheit zu verleihen. Der wissenschaftliche Kritiker hat Schopenhauer gegenüber einen leichten Stand. Wenn Rudolf Haym am Schluss seiner tiefdringenden Untersuchung schreibt:

Unsere Kritik dieses Gedankengebäudes hat so wenig wie möglich die Hebel von außen angesetzt, durch seine eigenen Voraussetzungen hat es sich aus den Fugen gehoben, und es ist nicht zuviel gesagt, wenn wir behaupten, dass dabei kein Stein auf dem anderen geblieben ist,

so übertreibt er vielleicht, aber er übertreibt nicht viel. Schopenhauers Philosophie, die abstruseste von allen, welche je ein genialer Kopf ersann, ist recht eigentlich eine Monstrosität. Eine Monstrosität weniger ihres Charakters wegen als deshalb, weil ihr Schöpfer nicht allein glänzend begabt, sondern, so weit sein Bewusstsein in Frage kommt, zweifelsohne wahrhaftig und ehrlich war.

Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Schopenhauer als Verbilder
© 1998- Schule des Rades
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