Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Schopenhauer als Verbilder

Sphären des Bewusstseins

Was ist es denn, das zur Größe führt, wenn es nicht die Begabung als solche ist? Welcher Art war das Verhängnis, das Schopenhauer verhinderte, den Zenit seiner Möglichkeiten zu ersteigen? Um diese Frage recht deutlich zu beantworten, muss ich ein wenig weiter ausholen.

Es ist mit den Geistern wie mit den Maschinen: wie deren Leistungsfähigkeit unmittelbar nicht von der Kraft und Vollkommenheit der inneren Organisation abhängt, sondern davon, ob die Energie einer verlustlosen Übertragung nach außen fähig ist, so dass es sehr oft eine Kleinigkeit ist, die dem Großen zur Wirkung verhilft, so hängt die Ausdrucksfähigkeit großer Geister nicht selten von einem Moment ab, das als solches lächerlich klein, unwesentlich, ja zufällig erscheinen mag. Betrachten wir den grandiosen Zusammenhang der napoleonischen Intelligenz: hier gibt es keine Lücken; diesem Geist war alles gegeben, Phantasie, dämonischer Wille, Urteilskraft, Scharf- und Tiefblick, Gestaltungs- und Anpassungsfähigkeit. Wer sich Napoleon vergegenwärtigt, ist geneigt zu sagen: dieser Mann musste die Welt beherrschen, denn nur in größtem Rahmen konnte er sich ausleben, und er besaß alles, um diesen Rahmen sich zu schaffen; wenn je einer, konnte er das Schicksal zwingen. Und doch: hätte Napoleon nur ein kleines Talent gefehlt, sein Reichtum wäre steril geblieben; ich meine sein ungeheures anorganisches Gedächtnis, sein Gedächtnis für das Einzelne und Kleinste. Jedes Detail der Zivil- und Heeresverwaltung, jede statistische Einzelheit, ja die Lage jedes Dorfs in Europa stand ihm, wenn nötig, vor Augen, das Material zu seiner Tätigkeit lag ihm jederzeit fertig zur Hand. Aber dieses riesenhafte Gedächtnis bedeutet wirklich nicht mehr als ein kleines Talent, das oft die Dümmsten auszeichnet und schöpferischen Geistern gewöhnlich fehlt; es hätte Napoleon abgehen können, ohne an seinem Wesen das mindeste zu ändern. Die Welt jedoch hätte er ohne Gedächtnis zu erobern nicht vermocht. Das Zahnrad, welches die Maschinerie seines Geists in Geschichte umsetzen konnte, war gerade diese subalterne Fähigkeit. Ohne den beispiellosen Überblick, den diese ihm ermöglichte, wäre sein Wille blind, seine Phantasie phantastisch geblieben. Man möchte nun sagen: ohne Gedächtnis wäre Napoleon, wenn ihm alle sonstigen Gaben verblieben, eben in anderer Weise groß geworden. Aber das ist sehr unwahrscheinlich. Napoleon konnte nur Staatsmann im großen sein. Zu einer weltumfassenden Wirksamkeit, wie sie dem Denker, dem Schriftsteller offen steht, war sein Naturell nicht berufen. Er konnte nur zielbewusst denken, der schriftliche Ausdruck war ihm unnatürlich, er redete an sich vorbei. Ohne Gedächtnis wäre Napoleon eine jener problematischen Naturen geblieben, für die kleine Aufgaben zu gering, die doch keiner großen gewachsen sind.

Wenn je ein Mensch von Grund aus Genie war, so gilt dies von Goethe; aber auch er verdankt seine historische Mission einer Gabe, die in bezug auf sein inneres Wesen nicht mehr als einen äußeren Umstand bedeutet: seiner Ausdrucksfähigkeit als Dichter. Es ist ganz falsch zu behaupten, zwischen Goethe und seiner Dichtung lasse sich nicht scheiden, denn der Mensch war viel größer als sein Dichtertalent. Wohl aber wäre der Mensch, ohne dieses Talent, zu keiner durchschlagenden Wirkung gelangt; er hätte das Postament nicht erstiegen, von welchem er der Menschheit sichtbar geworden ist. Ohne Faust und Iphigenie wäre er einer von denen geblieben, die ihre Zeit für ein Größtes hielt, ohne dieses Urteil für die Nachwelt begründen zu können, wie deren in jüngster Zeit Franz Liszt einer war, der sein Unsterbliches mit ins Jenseits hinüber genommen hat. Und Shakespeare! Dieser konnte überhaupt nur als Dramatiker wirken. In jeder anderen Tätigkeit wäre er undeutlich geblieben, wie denn das allzu Große immer undeutlich ist. Er konnte sich nur zum Universum konzentrieren. Die, welche seine Werke nicht kannten, mögen ihn daher für einen gewöhnlichen Menschen gehalten haben.

Wir würden in die Welt des Geists um vieles tiefer blicken, wenn uns das Vorurteil der Einheit des Ich nicht verblendete. Wir urteilen zwar nicht, wie die Griechen, was schön ist, müsse auch gut sein, doch bekennen wir uns zu einer Reihe ähnlich kurzsichtiger Verknüpfungen, z. B.: wer gut denkt, müsse auch gut schreiben, eine aktive Natur sollte unter allen Umständen handeln, Geistestiefe verbürge die Ausdrucksfähigkeit usw. Hegel war ein sehr großer Geist, aber sein Stil war entsetzlich, und der glänzende Schriftsteller Schopenhauer war als Denker neben ihm klein. Lord Byron war ein Mann der Tat, der nur als Pfuscher handeln konnte und unsterbliche Dichtungen schuf. Der Mensch ist ebensowenig rund und aus einem Guß, wie die Welt, und Lichtenberg hatte mehr recht, als er es je geglaubt hat, wenn er sagte:

das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis.

Wir werden wohl einmal zur Erkenntnis gelangen, dass es eine Individualität im vulgären Verstand überhaupt nicht gibt. Es gibt nur verschiedene Schichten und Sphären des Bewusstseins, frei schwebende Anlagen, wirr durcheinander fließende Strömungen, welche in ein festes Bett zu lenken wohl der Erziehung, schöpferischer Selbsterkenntnis oder äußeren Umständen hie und da gelingt, die in den meisten Fällen jedoch unzusammenhängend bleiben. Blickten wir tiefer, wir würden uns nicht über die Kontraste und Widersprüche in der Menschenseele wundern, sondern im Gegenteil über die Möglichkeit ihrer Ausgleichung. Es ist die Regel, dass im selben Menschen Edelmut und Gemeinheit, Berechnung und Idealismus, Liebe und Eigennutz, Klugheit und Dummheit unvermittelt nebeneinander wohnen. Das Chaos ist das Ursprüngliche. Das einheitliche Ich ist kein notwendiges Prinzip, sondern ein mögliches Resultat.

Dies bringt mich auf das zweite Hauptmoment, welches die Wirkungsfähigkeit eines Geistes bedingt: war das erste die Übertragbarkeit seiner Energie, so ist das zweite die Art des Zusammenhangs und das gegenseitige Verhältnis seiner Bestandteile; je nach der Zentrierung kann ein gleicher Geisteskomplex harmonisch oder verzerrt erscheinen, je nach dem Verhältnis seiner Elemente steril oder fruchtbar sein. Betrachten wir zuerst die Zentrierung. Jede komplizierte Natur gewährt uns das bedeutsame Schauspiel, dass sie bald schön und bald häßlich, bald groß und bald klein erscheint, ohne dass sie sich dabei wesentlich zu wandeln brauchte: je nachdem, welcher Zug ihres Wesens vorherrscht, ist das Gesamtbild ein anderes. Und solche Umlagerungen betreffen nicht bloß Phasen und Stimmungen, sie führen oft dauernd von der Flachheit zum Tiefsinn, vom Stümper zum Meister, vom Verbrecher zum Heiligen, vom Lüstling zum Asketen, sie entscheiden geradezu über die Fruchtbarkeit oder Unfruchtbarkeit einer Natur. Hier ist Goethes Beispiel besonders belehrend. Der Schlüssel zum Problem seiner Vollkommenheit ist der, dass Goethe, nach mancherlei Irrungen, sämtliche Richtungen seines Wesens auf das Sein bezog. So gewann alles, was er unternahm, hohe symbolisch-menschliche Bedeutung. Aber wie, wenn er den Mittelpunkt in irgendeine Tätigkeit verlegt hätte, wozu es ja bei ihm an Ansätzen nicht gefehlt hat? Das Bild wäre ein wesentlich anderes geworden. Goethes Spezialbefähigungen waren, die literarisch-poetische ausgenommen, eigentlich alle dilettantischer Natur. Weder als Naturforscher, noch als Denker, noch als Staatsmann oder gar als bildender Künstler war er zur Größe berufen. Zum Naturforscher fehlte ihm die analytische Intelligenz, zum Denker die Intensität der Ideenbildung, zum Staatsmann die Zähigkeit des Wollens und zum Bildner das schöpferische Auge; denn nur seine Metaphern sind lebendig erschaut, sein unmittelbares Sehen war nicht produktiv. Er gewann jedoch die schöpferische Synthese all seines Könnens und Nicht-Könnens in seinem Sein. Hier wurde auch das, was an sich unzulänglich war, im höchsten Sinne wirksam. Goethe ist es gelungen, durch richtige Wahl seines Ansatzpunkts und stetiges Festhalten an ihm aus einem geborenen Dilettanten den vollendetsten Menschen der Neuzeit zu gestalten. — Oder denken wir an Wagner. Er selbst bekennt:

Meine Fähigkeiten, jede einzeln genommen, sind gewiss nicht groß, ich bin und leiste nur dann etwas, wenn ich im Affekt alle meine Fähigkeiten zusammenfasse und rücksichtslos sie und mich darin verzehre. Worauf mich dann mein Affekt hinweist, das werde ich — so lange als nötig —, sei es Musiker, Dirigent, Schriftsteller oder was sonst. So war ich auch einmal spekulativer Kunstphilosoph. Nebenbei — neben diesem Hauptstrome — kann ich aber nichts schaffen und treiben, außer mit höchstem Zwange, und dann würde ich nur etwas ganz Schlechtes machen und die Geringfügigkeit meiner Spezialfähigkeiten zum Erschrecken aufdecken.

Das ist vollkommen richtig: nur wäre hinzuzufügen, dass Wagner sich nicht in verschiedenen, sondern nur in der einen Form des Musikdramas als Genie zu offenbaren fähig war. Nicht allein, dass er in seiner Existenz, als Schriftsteller oder Denker sich selbst nicht darstellen konnte: auch als absoluter Musiker oder als reiner Dichter hätte er sich nicht vollwertig auszudrücken vermocht; er war auf die Erfindung des Musikdramas geradezu angewiesen. Solche Fälle sind bei den vieldeutigen Naturen, die man gemeinhin die romantischen nennt, beinahe die Regel. Ich kenne einen merkwürdigen Menschen, mit dem Gehör eines großen Musikers und von schöpferischem Auge, der aber weder als Bildner noch als Tondichter produzieren kann. Er scheint impotent; aber in einer Situation ist er Genie: wenn er Wagners Schöpfungen in Szene setzt. Hier können ihm Auge und Ohr im Zusammenhange schaffen, und was er dann darstellt, das ist staunenswert. In jedem Geiste gibt es höchstens einen ideellen Punkt, von welchem aus er als Ganzes wirken kann: Ehrlichkeit, Einsicht und Ehrgeiz lehren ihn bestimmen. Wie steht es denn mit jenen Künstlernaturen, deren es neuerdings so viele gibt, die mit viel Talent, aber ohne inneren Beruf, ein zweideutiges Dasein fristen? Es sind solche, die ihr geistiges Zentrum nicht zu finden wissen, denen es mindestens an Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber, an Überblick und Urteil fehlt. Als Menschen sind sie undeutlich, moralisch meist minderwertig, dem Leben gegenüber hilflos, unfähig zur Konzentration — das haben sie schließlich mit manchem Meister gemein. Denn wer sich in Phantasiegebilden darstellt, hat leicht zur Realität kein Verhältnis. Aber der wahre Künstler fasst sich eben in seiner Schöpfung zusammen. Dem halben gelingt das nicht. Er kennt wohl Momente der Erleuchtung, aber den Augenblick kann er nicht halten, auf der Höhe kann er nicht bleiben und sein Geisteszentrum wird nie zum Mittelpunkte seines Seins.

Nein, die Begabung als solche gewährleistet keine entsprechende Ausdrucksfähigkeit. Bei vielen liegt das Zentrum, auf welches bezogen ihre Gaben allererst zu Kräften werden, geradezu außer ihnen, in den äußeren Umständen. Wie kam der Gewaltmensch Napoleon darauf, Josephinen zu schreiben:

Ich bin vollkommen von den Ereignissen abhängig, habe keinen Willen und erwarte alles von ihrem Ausgang.?

Gourgaud gegenüber auf St. Helena zu äußern:

Mein Fall war gleich dem Mohammeds. Ich fand alle Bausteine bereit, um ein Kaiserreich zu gründen. Europa war der Wirrnis müde. Die Menschen wollten ein Ende machen.
Wäre ich nicht gekommen, so hätte vermutlich ein anderer gleich mir gehandelt. Frankreich hätte zum Schluss doch die Welt erobert. Ich wiederhole es: ein Mensch ist immer nur ein Mensch. Seine Macht ist Ohnmacht, wenn ihn Umstände und öffentliche Meinung nicht begünstigen. Glauben Sie, dass Luther es war, der die Reformation herbeiführte? O nein, es war die öffentliche Meinung, die den Päpsten entgegen war. Meinen Sie, dass Heinrich VIII. mit Rom gebrochen hat? Gewiss nicht; die öffentliche Meinung seiner Nation verlangte die Scheidung…?

Napoleon wusste, dass es ihm bei einer anderen geschichtlichen Konjunktur nie und nimmer gelungen wäre, seine sämtlichen Fähigkeiten schöpferisch zusammenzufassen und zu betätigen; was für Wagner das Musikdrama, das war dem Korsen die Weltlage um 1800. Von ähnlicher Bedeutung ist manchmal die bloße Tatsache der Geburt. Wäre Friedrich nicht auf Preußens Thron geboren worden, seine Größe wäre vermutlich nie zum Ausdruck gelangt. Denn alle seine Neigungen waren auf das Schöngeistige gerichtet, er hätte, seinen Impulsen überlassen, das Zentrum des Daseins sicher in diese verlegt. Und als Künstler wäre er nicht groß geworden. Und hätte ihn das Geschick auch ins aktive Leben verwiesen, jedoch ohne ihm die Krone zu gewähren, sein Genius hätte sich auch dann nicht geoffenbart: denn so, wie er war, konnte Friedrich nur als König Größe bekunden. Lieber als sich wider seine Natur aus Niederungen zur Höhe hinaufzuringen, hätte er als Dilettant seine Tage beschlossen, Tieferblickenden damit beweisend, dass er notwendig König war. Ja, die äußeren Umstände sind von wesentlicherer Bedeutung, als es den Anschein hat. Wie in der Artentwicklung das Organ durch den Gebrauch, so entsteht beim Menschen der Beruf oft durch das Problem. Die Aufgabe bildet den Verdichtungskern für den Nebel der schwebenden Anlagen, sie schafft die Synthese dessen, was sonst unvermittelt geblieben wäre, sie zeigt dem Menschen den Mittelpunkt, auf den er seine Fähigkeiten beziehen soll, welchen Punkt er sonst vielleicht nie entdeckt hätte. Und dann steckt eben doch ein tiefer Sinn in dem Spruch, dass die Reichen nicht in den Himmel kommen. Ohne ein Muss setzt kaum einer unter Millionen sein Äußerstes dran. Unter den Großen dieser Welt gab und gibt es Begabungen, deren Reichtum des Reichsten Neid erwecken könnte. Aber so wie das Leben sie gestellt hat, fehlt ihnen die Veranlassung, nach Vollendung zu streben. Sie tun das Nächstliegende, so gut es eben geht, sind ohne Ehrgeiz und diskret. Wenn sich’s gerade so macht, dann leisten sie freilich das Unwahrscheinliche …

So viel von der Zentrierung des geistigen Zusammenhangs. Wichtiger noch ist das gegenseitige Verhältnis seiner Elemente: denn wo dieses ein ungünstiges ist, kann keine Umlagerung und Umschichtung helfen. Ungenügendes Sprachvermögen drückt den Wert des Denkers herab, er kann sein Tiefstes dann nicht deutlich machen; übermächtige Kritik zerstört die Einbildungskraft. Wo aller Wille fehlt, bleibt jede Begabung steril, weswegen Genialität, wie es öfters ausgesprochen worden ist, weit mehr eine Charakter- als eine Geisteseigenschaft ist. Le génie, ce n’est qu’une longue patience, sagt Buffon. Nichtsnutzige Dilettanten sind häufig weit begabter als anerkannte Meister, aber sie bringen eben nichts zuwege; der Maschine ihres Geistes fehlt die treibende Kraft. Dieser Fall ist sehr häufig. Ungleich tragischer ist der andere, wo die Kraft wohl vorhanden, aber die Maschine so unglücklich zusammengesetzt ist, dass sie keine dem Aufwand entsprechende Arbeit zu leisten vermag. Da kann es vorkommen, dass gerade der Reichtum und die Komplikation der Anlagen die Wirkung beeinträchtigt oder lähmt. Geister dieser Art gelten ihrer Zeit wohl immer für groß, stellte das Schicksal sie an erhöhte Stelle, so üben sie auch großen Einfluss aus, aber unsterblich sind sie nicht. Ihnen fehlt der unmittelbare Ausdruck, und was sie auch tun und wie bedeutend ihr Tun an und für sich auch sei: es ist, als redeten sie eine fremde Sprache. Hier möchte ich in erster Reihe Herder anführen. Dieser große Mann, dessen Größe sich auf jedem Gebiet, auf dem er tätig war, geradezu beweisen lässt, lebt doch in keinem seiner Werke fort; er hat sich nach keiner Richtung hin ganz ausdrücken können. Wohl besaß er genügend Kraft, um seinen Geist zu bewegen, aber sobald er ansetzte, gerieten die Räder ineinander, und der Erfolg entsprach dem Antrieb nicht. Wie viele solcher tragischer Gestalten hat es nicht gegeben! Sie bilden die überwiegende Mehrzahl aller Hochbegabten. Bei geringen Geistern kommt es häufig vor, dass sie, um in Goethes Worten zu reden, mit einem Talent zu einem Talent geboren werden: bei reicheren Naturen bildet die glückliche Konstellation eine seltene Ausnahme. Sehr selten stimmen bei ihnen Fähigkeiten, Interessen und äußere Umstände dergestalt überein, dass sie zu vollwertigem Ausdruck gelangen. So mancher, den seine Zeit als Narr verschrie, war Narr vor berufsloser Weisheit, so manches verkommene Genie war das Opfer übergroßer Talente, die in keine wirkliche Gleichung eingehen konnten. Vielleicht war Rameaus Neffe von Hause aus mehr als Diderot … Den Grenzfall zur Vollkommenheit bezeichnet Leonardo da Vinci. Auch er war im Grunde ein homme de génie raté, halb Gott, halb Charlatan, ein Zauberer wie Paracelsus, ein Projektenmacher wie Münchhausen, ein Dilettant allergrößten Stils, welcher tausenderlei unternahm und nichts zu Ende führte. Aber die Natur hatte ihn so verschwenderisch ausgestattet, dass seine kürzesten und leichtfertigsten Ansätze zu wunderbaren Schöpfungen führten. Wohin Leonardo sich wenden mochte: überall hat er bahnbrechend gewirkt.

Schopenhauer ist einer jener Gezeichneten, die trotz Kraft und Reichtum in tieferem Sinne unfruchtbar bleiben müssen. Anlagen besaß er genug, aber die Form, welche das Vielfache zur Wirkungseinheit hätte verdichten können, hat er nicht gefunden. Bei der Beschaffenheit seiner Natur war diese auch nicht zu finden. Nicht dass es an dem Rad gefehlt hätte, die geistige Energie nach außen zu übertragen, nicht dass er das Zentrum nicht entdeckt hätte, auf welches bezogen seine Kräfte hätten wirksam werden können: das Verhältnis der Elemente war so, dass sein Geist als Totalität nicht wirken konnte. Was der Mystiker erlebte, das musste der Geschäftsmann ausdrücken, was der Dichter erschaute, das stellte der Logiker dar; keine von Schopenhauers Fähigkeiten war stark genug, um die übrigen zu durchdringen, keine ausgesprochen genug, um für sich allein zu bestehen, nebeneinander und durcheinander lebten sie alle fort. Und die meisten von ihnen waren inkommensurabel, unfähig sich zu vereinigen oder zu stützen. So fehlt der Welt als Wille und Vorstellung die innere Vollkommenheit. Dieses Werk spiegelt, trotz aller äußeren Einheit, doch nur die Inkommensurabilität der Elemente in Schopenhauers Geist.

Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Schopenhauer als Verbilder
© 1998- Schule des Rades
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