Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Schopenhauer als Verbilder

Die artistische Weltanschauung

Eine der wenigen Eigentümlichkeiten, von denen sich schon heute ermessen lässt, dass die Zukunft sie als für die Zeit um die letzte Jahrhundertwende charakteristisch wird gelten lassen, ist die artistische Weltanschauung. Die hat nie früher eine führende Rolle gespielt. Und der erste und größte deutsche Artist, der, welchem gegenüber alle späteren als blasse Abbilder wirken, ist Arthur Schopenhauer. Er ist es trotz seines praktischen Sinns, trotz seiner ethischen Bestrebungen, ja trotz des meisten, was er gewollt und vertreten hat.

Wir sahen, wie die Konstellation der Anlagen dieses reichen Geists es mit sich brachte, dass er sich zu einer höheren Einheit nicht zusammenschließen konnte; weder als Denker noch als Dichter noch auch als Mensch. Ihm fehlte die Fähigkeit zum systematischen Zusammenhang der Vernunfterkenntnisse, nach Kant dem vornehmsten Kennzeichen des Philosophenberufs; ihm fehlte die unmittelbare Ausdrucksfähigkeit in der Sphäre des Gefühls, die den Poeten macht, und zum höheren Menschen die ethische Genialität. Er konnte seine Gedanken in der Idee nicht wiedergebären, seine Intuitionen in keiner Stimmung zusammenschmelzen, er konnte seinen Menschen nicht verwandeln. In des Wortes tiefster Bedeutung war Schopenhauer kein Schöpfer. Und doch war er Künstler in hohem Maß: er war ein ganz großer Architekt im Reich des Geistes, einer dem es gelang, aus buntestem und sprödestem Material ein einheitliches Gebäude aufzuführen. Die Grundideen seines Systems heben sich auf, die Richtungen widerstreiten, die Begriffe widersprechen sich, als Gedankengestalt müsste es zusammenfallen, und dem Stoffe nach ist es ein Konglomerat. Trotzdem hat Schopenhauer recht mit seiner Behauptung, seine Philosophie sei eine Stadt gleich dem hunderttorigen Theben: von allen Seiten könne man hinein und komme von überall her auf geradem Wege zum Mittelpunkt. Sobald wir sie vom Standpunkte des Architekten aus beurteilen, erscheint sie als bewunderungswürdige Einheit, als Geschöpf einer echten Gestaltungskraft.

Indes gehört es wohl zum Wesen eines Gebäudes, dass es nicht lebendig ist. Die Verhältnisse mögen noch so vollkommen, die Elemente noch so proportioniert, ihrem Zwecke noch so angemessen sein: sein Gesetz ist ihm von außen aufgezwungen; in sich selbst begründet, aus sich selbst verständlich ist es nicht. Das Material ist nicht aus der Gestalt heraus geboren, wie beim Lebendigen, es ist dem Bauplan gegenüber ein Äußerlich-Zufälliges. Nun hört man freilich häufig die Behauptung, das eben sei das Eigentümliche aller Kunst, dass die Form vom Stoffe unabhängig ist, aber diese Behauptung spricht allenfalls wahr für die bildende Kunst. Der Bildner darf seine Elemente — und auch er nicht ausnahmslos — als toten Stoff benutzen, mit dem er nach Belieben schalten kann, denn bei ihm sind sie ohne eigenen Sinn: bei Poesie und Philosophie sind sie dies nicht; bei aller Kunst, deren Stoff rein geistig ist, sind die Elemente lebendig. Gedanken und Gefühle lassen sich nicht wie Bausteine behandeln, stürzt man sie um, so vernichtet man ihren Sinn, und ist dieser vernichtet, so bleibt überhaupt nichts übrig. Ein Gedicht, das bloß architektonisch vollendet wäre, würden wir gar nicht als Dichtung anerkennen, denn diese Art Vollendung kann unabhängig vom Sinn der Elemente bestehen, wo doch im Reich des Geistes die Bedeutung alles ist; sie schafft allererst den empirischen Tatbestand. Im Gedicht sind Idee und Ausdrucksmittel einerlei Geblüts. Und nun gar beim Gedankensystem! Was soll ein Gedanke unabhängig von seinem Gehalte vorstellen? Eine gedankliche Einheit, welche nicht innerlich, sondern bloß architektonisch bestände, ist ein hölzernes Eisen. Hier wird der verrannteste Formalist ohne Umschweife zugeben müssen, dass es ausschließlich auf die Bedeutung der Elemente ankommt, nicht auf diese an und für sich; ein Gedankensystem kann durch nichts anderes gehalten werden als seinen gedanklichen Zusammenhang. Hier hilft keine Sophistik, keine Systematik, keine Kunst der Disposition; was nicht innerlich verknüpft ist, hängt überhaupt nicht zusammen. Oberflächliche Kritiker wähnen, dass die Einheit des kantischen Werks durch die Architektonik bedingt sei: das Umgekehrte ist der Fall. Die Einheit bedingt die Architektur. Und diese innere Einheit besteht fort, auch wenn der äußere Aufbau verschoben wird. Da bei Kant jeder einzelne Gedanke als notwendiges Organ aus der Grundidee hervorwächst, da der innere Zusammenhang seines Werkes dicht und lückenlos ist, so vermag kein Äußerliches ihn zu zerreißen. Man stelle Kant auf den Kopf: sein Gebäude ist dadurch nicht umgestürzt; man beanstande seine Darstellung: Kants System bleibt heil und unberührt. Aber wenn sich bei ihm die geringste Inkohärenz und Inkonsequenz der Grundidee gegenüber nachweisen ließe, wenn sich Elemente fänden, die nicht notwendig von dieser bedingt, sondern als Lückenbüßer von außen hineingetragen wären, dann hätte sich seine Philosophie als lebendige Kraft nicht bewährt, dann wäre sie längst in ihren Grenzen erstickt. — Wenn man Schopenhauers Architektonik verändert, wenn man die Disposition seiner Gedanken verschiebt, dann fällt seine Philosophie auseinander. Sie hängt eben nicht innerlich zusammen, die Einheit ist von außen aufgedrängt. Schopenhauer hat als Architekt gebaut, er hat seine Einfälle wie Bausteine behandelt, nach äußerem Plan zusammengefügt. Aus lebendigem Geist hat er ein lebloses Gebäude errichtet.

Man meine nun ja nicht, Schopenhauer gehöre zu jenen Kompilatoren und Systemfabrikanten, deren es zu aller Zeit nicht wenige gab: sein Fall steht ganz einzig da. Eduard von Hartmann hat gelesen und geschlossen und seine Ergebnisse dann zusammengestellt; seine Weltanschauung ist ein Produkt reflektierter Kompilation, in jeder Hinsicht berechenbar, wie er sie denn erst dann aufstellte und ausgestaltete, als er sich aus dem Studium seiner Vorgänger ihrer historischen Berechtigung vergewissert hatte. Hartmann schuf nicht aus innerem Plan heraus, sondern er probierte, vereinigte und schied so lange aus, bis dass sein Gebäude schließlich aufrecht stand. Schopenhauer war als Architekt im wahrsten Sinne produktiv, die Disposition seiner Gedanken kam ihm von selbst, aus innerer Notwendigkeit, wie Beethoven der Plan seiner Sonaten. Schopenhauers Verhängnis war, dass er nicht mehr vermochte als seine Einfälle architektonisch zusammenzufassen, denn für den Denker ist das nicht genug. Der bloße Schriftsteller braucht nicht mehr als Baumeister zu sein, er darf sich bei der äußeren Einheit bescheiden; seine Produktivität ist ein peripherisches Können, welches abseits vom geistigen Sein bestehen kann. Des Philosophen Schaffen muss aus dessen Tiefen hervorgehen, falls es bestehen soll; gelangt er als Geist zu keiner inneren Einheit, schafft dessen innere Form die Materie nicht um, so hat er nichts geleistet. Des Philosophen Aufgabe liegt nicht allein jenseits aller Worte, sondern jenseits aller Einfälle; diese sind recht eigentlich sein Rohmaterial. Er muss unter die Mannigfaltigkeit seiner Geisteserscheinungen hinabtauchen, muss sich ihnen einbilden, sie auf ihr schöpferisches Prinzip zurückführen; aus seinen Gedanken muss er mehr machen, als ursprünglich in ihnen lag. — Schopenhauer hat sein Empirisches nirgends überstiegen; mehr als er von Hause aus wusste, hat er nie zu sagen gewusst. Was er vorfand, das hat er klug benutzt, verwandelt hat er es nicht. Seine Ideen wurden ihm nicht zu gestaltenden Kräften: sie sind ihm Steine geblieben, aus denen er einen kunstvollen Bau errichtet hat.

Was bei Schopenhauer unmittelbar wirkt, ins Leben eindringt, jeden Leser im Augenblick beeindruckt und Schopenhauers Verehrer nur zu nachhaltig beeinflusst hat, ist jenes Sein eines Architekten im Geist, das bei ihm so gewaltig in die Erscheinung tritt. Die Weltanschauung, die Schopenhauer wirklich vertritt, weil er sie in seinem Wesen verkörpert, ist nicht die abstrakte Kosmologie, welche den Namen die Welt als Wille und Vorstellung führt — diese Weltkonstruktion hat als solche mit Schopenhauer wenig zu tun, sie ist nicht erlebt, sondern erkannt, nicht erwachsen, sondern gemacht, aus vielfältigen Elementen zusammengefügt —: die Weltanschauung, welche Schopenhauer verkörpert und die daher von elementarer Wirkung ist, ist die Philosophie vom ohnmächtigen Willen und der allvermögenden, allerlösenden Form. Schopenhauer hat das ethische Moment durch ein ästhetisches ersetzt, die innere Kraft durch äußere Kultur; sein Dasein und sein Werk scheinen darzutun, dass solche Ersetzung möglich ist. Schopenhauer war ein Geist, dessen Größe auch dort beeindruckt, wo seine Kraft versagt. So haben denn die wenigsten gemerkt, dass sein Unternehmen gescheitert ist, haben seine Jünger im Hafen seiner Ohnmacht ihr stolzestes Ziel erblickt. Sogar die rein persönliche Zuspitzung, welche Schopenhauer seiner Weltanschauung gibt, haben diese für ihre Person übernommen. Der kluge Meister lehrt: die architektonische Einheit meines Systems bürgt für die schöpferische Einheit meines Prinzips, die Durchsichtigkeit meiner Sprache für die Tiefe meines Denkens. Und da er sein Werk zu jener rein objektiven, innerlich-sachlichen Vollendung, die intensiver Wille allein bewirken kann, zu bringen nicht imstande ist, so lehrt er weiter; mein Genie leistet für den Wert meiner Ideen Gewähr; der Genius kann nur Wahrheit künden; der Charakter des Geists gibt den Maßstab zur Beurteilung der Leistung her. Und wie der Meister flüstert, so schreien die letzten seiner Schüler. Ein jeder von ihnen dünkt sich berechtigt, gleich Schopenhauer zu künden: wer mich anfechten will, der beweise, dass er mir ebenbürtig ist; wer unter mir steht, kann mir gegenüber nicht recht haben.

Diese Welt- und Lebensansicht ist in der Tat gar sehr verführerisch. Wer wäre nicht geneigt, von seinem persönlichen Wert als unantastbarer Voraussetzung auszugehen? die Bedeutung seiner Leistung am Maßstab seines Selbstgefühls zu messen? Wer wollte sich noch mühevoller Selbstbeackerung widmen, wenn ihm bewiesen würde, dass sie überflüssig ist, dass guter Boden unter allen Umständen trägt? Die Unwandelbarkeit des Charakters, Genie und Tugend als Privileg, der Mensch als Pflanze, die in jedem Fall die ihr gemäßen Früchte zeitigt, ohne dass sie das Mindeste dazu zu tun hätte: wer selbstsicher und selbstzufrieden ist, hört solche Theorien gern. Und wenn gar noch die äußere Form mit der inneren zusammenfällt, wenn formales Talent dasselbe leisten soll wie ethische Genialität, dann scheint gar manchem, der sonst verzweifeln müsste, die Vollendung nahe gerückt. Schopenhauers Lebensansicht musste vielen hochwillkommen sein, als Rechtfertigung, als Steigerung ihres Selbstgefühls. So finden sie sich freudig in diesem Denker wieder, gleichwie der Gläubige sich in seinem Gotte wiedererkennt.

Wer sind diese Menschen? Es sind die Artisten, die Artisten von Überzeugung und Beruf. Es sind jene Vielzuvielen, denen es bei reichen Anlagen an Schöpferkraft gebricht. Es sind jene Undeutlichen, Zerrissenen, die zu keiner inneren Einheit gelangen. Und es sind jene anderen, der Zahl nach erschreckend anwachsenden, welche diese als Vorbilder verehren. Ihre Weltanschauung ist die wörtliche Anwendung, die Übertreibung und äußerste Fortführung derjenigen, welche Schopenhauer verkörpert hat. Schopenhauers Quietismus ruhte auf metaphysischer Basis, lehrte er die Unwandelbarkeit des Charakters, so war ihm andrerseits das Individuum Schein. Dem kraß empiristischen Artisten ist dieses die einzige Wirklichkeit; das Individuum, wie es geht und steht, ist seine letzte, äußerste Instanz, unabänderlich, unübersteigbar. Für Schopenhauer bedeutete die äußere Form wohl das vereinigende, vollendende Moment, aber er wollte wenigstens ein Höheres, die bloße Darstellung des Empirischen war ihm nicht bewusstes Ideal. Der Artist ahnt überhaupt keine höhere Aufgabe, als die der Vollendung in der Darstellung. Er will die Natur nur abbilden, nur darstellen, so wie sie ist. Die Einheit schaffe der Stil. Von einer höheren Einheit ahnt er nichts. Die ganze Welt wird ihm so ins Bildhafte verrückt, aus der Tiefe auf die Fläche gebannt. Die artistischen Grunddogmen lauten, bezeichnend genug: wer das, was er denkt, gut sagt, denkt auch gut; wer seiner Existenz eine künstlerische Form zu geben weiß, der lebt ein großes Leben.

Man mache sich recht klar, zu welchen Folgerungen diese Weltauffassung führt. Wenn alles einzig auf die Darstellung ankommt, dann kann es keinen Wertunterschied geben zwischen hoch und niedrig, echt und unecht, zwischen großen und kleinen Geistern; die Vollendung im Ausdruck macht den Narren dem König ebenbürtig. Wenn aller Wert auf der Darstellung beruht, dann ist es offenbar gleichgültig, was dargestellt wird. Denn alle Situationen lassen sich schön beschreiben, alle Gedanken gut sagen, alle nur möglichen Geschehnisse und Einfälle zur Formeinheit zusammenfassen. Das Kunstwerk erkennt keine äußeren Normen an, sofern es nur im Stil ist, ist es gut. Dem Artisten ist alles gleich gut, gleich schön, gleich wahr; alles, was sich ausdrücken kann, gilt ihm als gleichberechtigt. Seine Weltanschauung ist die der vollendeten Gleichgültigkeit.

Der Außenwelt gegenüber ist sie fruchtbar genug: die Welt vom Standpunkt des Stils sieht nicht viel anders aus als die Welt vom Standpunkt der Natur; das Gesichtsfeld der Artisten deckt sich im wesentlichen mit dem des theoretischen Denkers. Wer die Natur in ihrer Gesamtheit begreifen will, der muss zu den Voraussetzungen vorzudringen trachten, aus welchen heraus sie schafft, der muss eine Stellung einnehmen, von welcher aus alle Phänomene gleich wertvoll und gleich wesentlich erscheinen, wie sie’s für die Natur tatsächlich sind. Nur wer eine Erscheinung bedingungslos gelten lässt, nur wer sie nach ihren eigenen Gesetzen und Möglichkeiten beurteilt, unbekümmert um alle Voraussetzungen und Ideale, vermag ihr innerstes Wesen zu erfassen. Auch ihre eigenste Schönheit wird lediglich diesem offenbar. Aber Verständnis und Darstellung sind ein Höchstes nur dort, wo von Schaffen nicht die Rede sein kann; ein artistischer Gott flößte uns keine Ehrfurcht ein. Der artistische Gesichtspunkt ist der Gesichtspunkt dessen, der nichts zu ändern vermag, vor den Sternen ist er den Menschen gemäß. Wo aber der Mensch sich selbst als Artist betrachtet, sich selbst gegenüber aufs Schöpfertum verzichtet, dort begeht er die Sünde wider den Heiligen Geist.

In Artistenbüchern finden wir Goethe und Oscar Wilde in einem Atem genannt: denn beider Leben sei ein stilvolles gewesen. Gewiss; nichtsdestoweniger stellen sie die schroffsten Gegensätze dar, die sich überhaupt denken lassen. Goethes Leben war Selbstbildung von innen heraus, Gestaltung im Sinn der organischen Natur, rastlose Erneuerung. Oscar Wilde hat nichts Neues zu schaffen vermocht, er hat bloß ein Fertiges dargestellt. Wildes vielbewunderte Umkehr im Kerker war nur eine äußerste Pose, der Todessprung des Ästheten, der nicht im Bilde bleiben kann; zur wirklichen Umkehr gebrach es ihm an innerer Kraft. Wilde hat sein Leben gelebt als ob er das eines anderen beschriebe, nie hat er sich anders als betrachtend zu sich selbst gestellt. Seine Person war ihm ein Abgeschlossenes, Unveränderliches, er strebte nur nach einem: das Fertige schön zur Schau zu stellen. Die Vollendung, die er meinte, hat er auch erreicht, aus seinem Dasein ein glitzerndes Kleinod ziseliert. Nur ward ihm damit sein Leben zum toten Stoff; seine Kunst hat sein Leben getötet.

Warum? Weil sie nicht aus dem Mittelpunkt des Lebens hervorging. Sie war nicht eins mit der gestaltenden Kraft, welche Leib und Seele formt, sie war ein peripherisches Können, das von außen ans Innere herantrat. Oscar Wilde, die köstlichste Blüte des Artistentums, illustriert zugleich am grellsten seine Verderbnis. Wilde hat den Stoff, den seine Person ihm bot, nicht verwandelt, sondern bloß abgebildet, an seinen inneren Menschen hat er niemals herangekonnt. Er hat ihn nie überhaupt in Frage gestellt. Unter Ausdruck hat er immer nur die äußere Form verstanden, unter Schöpfung nie anderes als Darstellungskunst. So hat er nur das Bild eines Individuums hinterlassen, das als solches abgeschlossen, fertig, einmalig und sterblich war, nicht ein Lebendiges in die Welt gesetzt, welches durch alle Zeiten hätte fortwirken können. Seine besondere Paradoxie ist im Grunde supreme Selbstkritik: wer keiner Verinnerlichung fähig ist, für den gibt es auch keine Wahrheit. So gilt es ihm gleich, welche Meinung er vertritt.

Wir sagten: wer sich als Artist zu sich selbst verhält, verzichtet aufs Schöpfertum, der stellt seinen inneren Menschen gar nicht in Frage; der vermag auch im höchsten Fall nicht mehr, als das Material, das er vorfindet, tel quel zusammenzufassen; zu einer intensiven Einheit kann es der nicht bringen. Die moderne Ästhetenwelt ist für diese Wahrheit ein einziger sprechender Beweis. Ungeheuer viel Begabung findet sich in ihr, doch unter Tausenden kaum ein Mensch von innerem Beruf. Problematische Existenzen sind es, Dilettanten des Lebens, Dilettanten des Geists, Dilettanten der Moral. Was sie sind, das wissen sie selber nicht. In vielen Fällen nennen sie sich Schriftsteller. Nun ist aber die Schriftstellerei als innerer Beruf eine ungeheuerliche Vorstellung: das Schreiben an sich ist nur eine Fertigkeit, die Sprache nur ein Ausdrucksmittel für das, was auszudrücken ist. Sie haben eben keinen inneren Beruf. Ihre Begabungen, auch die stärksten unter ihnen, sind unrein, undeutlich und schwer zu umgrenzen, passen in keinen Rahmen hinein, sind keiner Aufgabe ganz gewachsen. Es gibt da Dichterphilosophen, Programmusiker, Maler, deren Farben klingen sollen, und Essayisten, deren Gedanken Gefühle sind, Mystiker, deren Denken Musik zu sein beansprucht, und Dichter, deren Werke als Teppiche betrachtet werden wollen. Diese Vieldeutigkeit weist ohne Zweifel auf Differenziertheit hin, aber dass sie mit Tiefe identisch sei, das ist nicht wahr. Ganz im Gegenteil: die Dunkelheit der modernen Geisteshelden, die so geheimnisvoll tun und so abergläubisch verehrt werden, beweist lediglich Mangel an Verinnerlichung. Es muss einmal ausgesprochen werden: wessen Gedanken nur als Musik zu begreifen sind, der denkt nicht tiefer als die Sprache auszudrücken vermag, sondern der hat sich nicht bis zur Tiefe durchgerungen, der hat den Musiker nicht im Denker wiedergeboren, sondern beide nur äußerlich amalgamiert. Wessen Denken nur sympathetische Verständlichkeit besitzt, wie Kant sagt, der ist auf halbem Wege stehen geblieben. Wer Begriffe vertont, dessen Musik bringt keinen ganzen Menschen zum Ausdruck, und wessen Philosophie Dichtung ist, der hat sich als Philosoph nicht ganz verinnerlicht. Es ist nicht wahr, dass die spezifischen Formen der Geistesschöpfung die Totalität nicht auszudrücken vermöchten: das Weltall findet in einem Sonette Platz. Es gibt nichts Umfassenderes als Bachsche Musik, als Aischylos’ Dichtung, als Herakliteische Philosophie. Jeder Strahl, der aus dem Brennpunkt der Seele stammt, vermag das Ganze zu durchleuchten; wer aus der Tiefe spricht, weiß in jeder Sprache alles zu sagen. Es fragt sich bloß, ob er die Sprache beherrscht. Beherrscht er sie, dann wird er auch deutlich sein. Die Vieldeutigkeit, die dem Modernen eignet und auf die er sich so viel zugute tut, ist kein höchstes Stadium, sie bringt vielmehr einen primitiven Zustand zum Ausdruck. Der Mensch ist von Hause aus ein chaotisch-Vielfaches, er ist ursprünglich eben das, wessen sich der Moderne als eines Ehrentitels rühmt. Ursprünglich hängen die Gedanken nicht einheitlich zusammen, sondern Begriff und Stimmung, Empfindung und Vorurteil folgen regellos aufeinander, und die Antwort stammt meist aus anderem Geiste als die Frage. Die Komplexität ist das Primitive, sie sollte daher das Selbstverständliche sein, das, was auf alle Fälle zu überwinden wäre. Gewiss, das moderne Gehirn ist differenzierter als das des Barbaren, das Empfindungsvermögen unserer Ästheten feiner als das der schlesischen Dichterschule: aber das ist ein natürliches Ergebnis der Vererbung, ein Ergebnis, das kaum zu vermeiden gewesen wäre. Unser Naturzustand ist ein anderer, vorgeschrittenerer, als der unserer fernen Vorfahren. Die kulturelle Aufgabe liegt aber genau so weit vor uns als sie vor jenen lag. Wer da heute ein pointiertes Feuilleton verfasst, braucht deshalb nicht weiter zu sein als im Mittelalter ein tölpelhafter Mönch.

Den Artisten fehlt es an Intensität, von allem sind sie etwas, keines ganz. Weder vermögen sie ihr ganzes Sein mit einer Idee zu durchdringen, noch mit einer Stimmung oder einem Entschlusse; ihr schillerndes Wesen lassen sie als solches bestehen, sie fassen es nur ein in eine glänzende Form. Bei der Virtuosität, mit der sie die Technik beherrschen, fällt es ihnen nicht schwer, Gefälliges zustande zu bringen. Sie machen untadelige Gedichte, schreiben die gefeiltesten Essays, wissen ihre Gedanken auf die unerwartetste Weise zu wenden, ihrem Leben die eleganteste tournure zu geben. Doch was die feine Form umschließt, ist im tiefsten Sinne roh. Es ist das Chaos des empirischen Menschen. Vergegenwärtigen wir uns den Charakter der Literatur, die seit Ende der neunziger Jahre als die führende gilt: sie spiegelt überall nur Individuen, individuelle Zustände, individuelle Gebrechen. Hier stellt einer minuziös seine trüb verworrene Seele dar, welcher jede Spur von organischer Einheit fehlt, dort spinnt einer umständlich seine Gedanken aus, die nicht notwendiger zusammenhängen als die Scheinbilder einer Phantasmagorie, und weiter predigt ein dritter eine neue Religion, die unter der Maske der Welterlösung nur die Verzweiflung eines Ohnmächtigen offenbart. All diese Geistesprodukte, fast immer getreue Abbilder eines wirklich durchlebten Zustandes, nicht selten Erzeugnisse ehrlichsten Wollens, aufrichtigster Sehnsucht, zeichnen sich dadurch aus und kranken daran, dass ihnen die Durchgeistigung fehlt. Sie sind immer nur Kopien der Natur, mehr oder weniger kunstvoll eingerahmt, keine selbständigen Geisteseinheiten. Und damit sind sie gerichtet. Es ist bekanntlich viel schwerer, ein Problem auf einer Seite zu lösen als in einem dicken Buch: im gleichen Sinne ist das Einfach-Klare das Tiefere im Verhältnis zum Schwierig-Komplizierten. Wieviel leichter wäre es Kant gefallen, ein Werk des dunklen Tiefsinns zu schreiben, als die Kritik der reinen Vernunft! Ein moderner Stimmungsphilosoph, der sein Leiden an der Welt als Offenbarung ihrer Tiefe vorträgt, tut in Wahrheit nicht mehr, als sein empirisches Dasein abzubilden; Kant hat das seine im Geiste wiedergeboren. Kant ist über das Chaos Herr geworden, er hat es verdichtet, eingeschmolzen, sein Licht ist Überwindung der Finsternis. Seine Tiefe ist letzte Geistesverinnerlichung, seine Klarheit äußerste Durchgeistigung, seine Einfachheit liegt jenseits der höchsten Differenziation. Kant hat seine Gedanken auf den Mittelpunkt seines denkenden Seins zurückgeführt. Und anstatt auf diese Weise zum Superlativ des Individuellen zu gelangen, hat er das Individuum überstiegen. Er ist zu schlechthin allgemeinen Erkenntnissen vorgedrungen, zur lauteren, ewig-gültigen Wahrheit.

Was Kant als Denker tat, hat Goethe als Poet, hat Christus als lebendiger Mensch vollbracht. Sie alle sind vom Vielfältigen ausgegangen, beim Einfachen angelangt; sie alle sind aus der Verworrenheit zur Klarheit durchgedrungen, vom Individuellen zum Allgemeinen eingekehrt. Goethe, von Natur wohl reicher ausgestattet als der verfeinertste unserer Ästheten, sang Lieder, die jedes Herz ergreifen und jeder Seele verständlich sind. Christus hat seinem Leben eine Form gegeben, die für alle Zeiten vorbildlich erscheint. Denn im tiefsten Grund des Einzelnen ruht das Allgemeine; das Einzelne, tief erfasst, ist schon allgemein. Allein das Einzelne, als solches hingestellt, ist ohne allen Bestand; die Zeit fegt es hinweg, im Raum geht es verloren. Wer die Oberfläche nicht verlässt, der kann nichts Bleibendes schaffen. Dessen Einsichten sind niemals objektiv, dessen Wahrheit gilt nur für ihn; dessen Dichtungen reichen in die Seele nicht hinein, dessen Musik ist Dekoration; dessen Ethik ist nur persönliche Verhaltungsweise, ohne Geltung und Bedeutung für die Menschheit. Die artistische Weltanschauung bannt den Menschen ans Vergängliche. Sie vertritt ihm den Weg zu sich selbst. Sie täuscht ihm vor, dass das Äußerliche das Wesenhafte sei. So kennt der Artist denn keine höhere Aufgabe als die, sein Individuum darzustellen; so darzustellen, wie es ist. Die Folgen liegen jedem vor Augen. Die artistische Periode hat keine erhabene Dichtung, keine große Musik, keine echte Philosophie, nichts wahrhaft Lebendiges hervorgebracht. Ihre Dichter sind meist Kopisten der Natur, ihre Musiker Übersetzer, ihre Denker Dilettanten, ihre Lebenskünstler Snobs oder Bohemiens. Nie mehr als jetzt haben die Menschen an der Oberfläche gelebt.

Der größte Artist, von dem ich wüßte, ist Schopenhauer gewesen. Er ist der Essayist, der Feuilletonist, der schreibgewandte Dilettant als Gott. Seine Weltanschauung stellt das großartigste Produkt einer missglückten Verinnerlichung dar. Daher bedeutet sie dem Ungewarnten eine ernste Gefahr. Schopenhauer muss wirken, denn er war ein großer Geist. Und er kann nicht bildend, sondern nur verbildend wirken, weil sein Lebenswerk ein verfehltes war.

Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Schopenhauer als Verbilder
© 1998- Schule des Rades
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