Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Von der Produktivität des Unzulänglichen

Ungelöste Spannungen

Daß das Erdenleben seinen letzten Sinn nicht in sich hat, weswegen nicht allein banales Glück, sondern auch im Rahmen irdischer Kategorien bestimmte Vollendung nicht letztes Ziel sein kann, schien mir schon früh durch zwei Erfahrungen unmittelbar bewiesen: dass keines großen Menschen Leben jemals glücklich war und dass kein Produktiver je den geltenden idealen Normen Genüge tat. Was den Menschheitsfortschritt nachweislich am meisten fördert, war vom Erdenstandpunkt immer irgendwie unzulänglich. In den letzten Jahren wurde mir denn auch klar, wie dies zusammenhängt. Alles Leben manifestiert sich auf der Ebene möglicher Erfahrung durch das Medium ungelöster Spannungen. Dies gilt hinsichtlich seines materiellen Verkörperungsmittels in dem Verstand, dass alles physische Gleichgewicht, das Leben ausdrückt, labil ist. Es gilt im Zusammenhang des Lebendigen im Sinne wechselseitiger Abhängigkeit, handele es sich um die Spannung zwischen den Geschlechtern und Generationen, oder das von- oder füreinander Leben. Es gilt auf der geistig-seelischen Ebene insofern, dass nur die Not der Spannung, in welchem Sinne immer, zur Schöpfung führt. Dies ist der Grund, warum Befriedigtheit und Größe sich psychologisch ausschließen. Hier liegt der Wahrheitsgrund des Satzes Jesu, dass kein Reicher jemals in den Himmel kam. Reichtum ist nun aber, irdisch beurteilt, zweifellos mehr als Armut, und wunschloses Glück ein Besseres als Unrast. Deshalb hat es die Menschheit offiziell noch nie, mit Ausnahme vielleicht beschränkter Kreise der Urchristenheit um Paulus, wahrgehabt, dass das Verehrungswerte typischerweise nicht vollkommen, sondern irdisch unzulänglich ist.

Die, welche dieser Erkenntnis am nächsten kamen, die Psychoanalytiker, retteten ihr Vorurteil alsbald dadurch, dass sie das wirklich Wertvolle an schöpferischen Geistern von ihrem Unzulänglichen unabhängig dekretierten. Das geht aber nicht: beim Lebendigen, wo alles innerlich zusammenhängt, bedeutet solches Abstrahieren Vergewaltigung. Wir haben an erster Stelle und ohne Vorurteil der Tatsache gerecht zu werden, dass es nicht einen schöpferischen Geist in der ganzen Geschichte gab, der nicht vom Philisterstandpunkt unvollkommen gewesen wäre, und dies zwar direkt proportional seiner wandelnden Kraft. Was war Paulus psychisch unharmonisch! Was gab ihre Natur Moses, Mohammed, Luther und Nietzsche zu schaffen! Nur die größten Weisen Indiens und Chinas scheinen die auch ihnen eigentümliche äußerste Gespanntheit äußerlich überhaupt harmonisiert zu haben, was wohl zum Teil damit zusammenhängt, dass die Grundanlage der betreffenden Völker an sich eine harmonischere, weil mehr statische als dynamische ist.

Nun hat es allerdings bedeutende Menschen gegeben, von denen wahrscheinlich scheint, dass sie dem konventionellen Idealbild des Heiligen und vollkommenen Weisen entsprochen haben. Aber die waren unschöpferisch. Und alles spricht dafür, dass es sich hier um eine ähnliche Naturnotwendigkeit handelt, wie bei der Sterilität höchster Schönheit. Wozu ich meinerseits zweierlei bemerken möchte. Erstens glaube ich nicht, dass irgendeiner, bis auf das Fermate kurz vor seinem Ende, wirklich in dem Sinn heilig oder weise gewesen wäre, wie es die Mehrheit annimmt, d. h. ein Glücklicher und restlos Befriedigter, wie es sonst nur Philister sind, nur auf erhöhtem Niveau; dieser Idealmensch ist Ausgleichsvorstellung oder Vorurteil. Wer nichts mehr von und in der Welt wollte, der wollte aus ihr fort; aller Wahrscheinlichkeit nach waren diese Weltüberlegenen vom Standpunkt des Jenseits, welchem sie zustrebten, betrachtet, genau so außer Gleichgewicht, wie es Ehrgeizige vom Erdenstandpunkt sind. Zweitens gilt die Wahrheit, dass Leben sich hienieden nur mittels ungelöster Spannungen manifestiert, nicht allein vom Einzelnen in bezug auf sich selbst, sondern erst recht in bezug auf seine Mitmenschen. Das besagt in diesem Zusammenhang: wirkt das Bild eines vorgeblich vollkommenen Menschen produktiv, so liegt das weniger an des letzteren Vollkommenheit, als an der Spannung zwischen ihm und den anderen. Hier wurzelt alle Psychologie der Idealisierung. Hiermit hätten wir die Erkenntnis, dass nur das Unzulängliche produktiv ist, auf die erhöhte Ebene erhoben, auf der allein sie ganz verstanden werden kann.

Produktivität ist nie an sich oder für sich zu verstehen: ihr bloßer Begriff setzt eine Beziehung zum Außersich voraus. Wie der Mann, als Geschlechtswesen betrachtet, unzulänglich ist ohne die Frau, so ist keinerlei Bedeutsamkeit im Leben anders richtig zu deuten, als in Funktion der Spannung zwischen Ich und Nicht-Ich. Beim Monarchen kommt es viel weniger darauf an, wer er ist, als dass er als solcher anerkannt wird, denn die produktive Bedeutung der Monarchie beruht ganz darauf, dass die anderen in einem bestimmten Menschen ein Polarisationszentrum bestimmter Art sehen. Ähnlich ist Heiligkeit nur als Spannungszustand zur Nicht-Heiligkeit der Verehrenden richtig zu beurteilen; deshalb schaffen Gläubige die Heiligen, die nicht wirklich da sind; deshalb hat sich jeder Heilige, umgekehrt, für seine Person, ganz besonders sündig gefühlt. Gleichsinnig setzt der Drang zum Schaffen, am Werk oder an sich selbst, die innere Beziehung zu einem Ideal voraus. Seinen markantesten Ausdruck nun findet dieser Zusammenhang in der Beziehung zwischen Einzelnem und Schicksal. Warum erwartet, ja verlangt jeder instinktiv, dass eines innerlich Begnadeten Schicksal widrig sei? Einerseits gewiss aus Neid, ich meine das, was die meisten Billigkeitsforderung heißen1. Letztlich aber doch wohl deswegen, weil sich Größe so allein manifestiert. Ungespannt, ungestrichen erklingt die beste Saite nicht. So bedingt es keinen Einwand gegen die Welt, es hat vielmehr metaphysischen Sinn, dass der Allzugroße missverstanden oder verfolgt wird oder tragisch endet. Nur das aus Licht und Schatten zusammengesetzte Bild wirkt auf die anderen plastisch. Es ist nun ganz wesentlich zu begreifen, dass Produktivität anders als im Sinn des für die anderen überhaupt bestimmungsunfähig ist. Der Kreis um Stefan George versteht unter Größe Unbedingtheit. Wohl muss sich der Große von sich aus seitens der anderen unbedingt fühlen, und das hat wohl jeder getan. Aber der Wert des Unbedingten beruht darauf, dass die anderen ihn als solchen verehren. Das war der Sinn des antiken Götterkults.

Heute sollten wir nun endlich soweit sein, die Wahrheit, wie sie ist, zu vertragen. Wir sollten endlich darüber hinaus sein, Menschen so zu sehen, wie sie als Menschen niemals sein konnten, und uns durch Unzulänglichkeiten enttäuschen zu lassen. Die immer wieder angewandte Wendung, dass nur das Unzulängliche produktiv sei, stammt von Goethe. Er wusste, was er sagte. Und ich sehe, dementsprechend, recht eigentlich eine Ehrfurchtslosigkeit im landläufigen Goethekult. Wäre er der Idealmensch, wie ihn die meisten ihn Zitierenden heute sehen, d. h. der zum Gott erhöhte deutsche Philister gewesen, er hätte nichts Erhebliches geleistet. Dann hätte sein für einen Großen so merkwürdig episch dahinfließendes Leben auf andere keinesfalls produktiv gewirkt. Wo nun Leben überhaupt auf ungelösten Spannungen beruht, da ist a priori klar, dass Befruchtung und Beschleunigung in historischem Zusammenhang erst recht allein durch Harmonieverletzendes zustande kommen kann. Nur wer die alten Kreise stört, schafft neue Bahnen. Wer solches leistete, braucht selbst gewiss kein Desequilibrierter gewesen zu sein. Aber dann brachte sein neues besonderes Gleichgewicht — so der neue Mensch, der in Jesus erstmalig in die Erscheinung trat — durch sein Eingreifen den Allgemeinzustand desto mehr ins Wanken. Man darf eben den Einzelnen nie vereinzelt sehen. Wer dies tut, übt eine unstatthafte Abstraktion, denn im Leben ist das Ganze immer vor den Teilen da.

Fassen wir nun das Ergebnis des bisher Gesagten kurz zusammen, so gelangen wir, auf neuer Verständnisebene, zu nichts anderem, als einer Bestätigung der alten Christlichen Erkenntnis, dass die Sünder vor den Gerechten den Vortritt haben. Der Pharisäer der Sünde taugt gewiss nicht mehr wie der der Tugend; dieser Satz erledigt alle Normfeindschafts­verherrlichung. Aber wenn einer strebt, sofern in irgendeinem Sinn ein Himmelreich als bestehend anerkannt wird, erweist sich allerdings das Unzulängliche allein als produktiv. Empirisch liegt dies daran, dass nur Minderwertigkeitsgefühl den Antrieb zum Mehrwerdenwollen schafft. Metaphysisch daran, dass, wie ich eingangs sagte, das Erdenleben seinen letzten Sinn nicht in sich hat. Das Leben, aus dem heraus und für das allein der Mensch, der diesen Namen mit Recht trägt, lebt, verhält sich zu den Spannungen des Empirischen nicht anders, wie zu den gespannten Saiten, die sie erklingen lassen, die Melodie.

Es hat nun wohl unter schöpferischen Geistern keinen wirklich großen Menschen gegeben, der das, was ich hier sage, nicht gewusst hätte. Aber die meisten haben, als weise Politiker, den Vorurteilen der anderen Rechnung getragen. Und daran taten sie recht, denn verfrühte Aufrichtigkeit kann die fördernde Wirkung, die überall ja im Unbewussten beginnt, durch Verstörung des Bewusstseins vereiteln. Heute nun ist die Menschheit grundsätzlich so weit, alles frommen Schwindels entraten zu können. Ja heute hängt die weitere Anerkennung der Forderungen von Religion und Ethik unmittelbar davon ab, dass diese in der Begründung ihrer Behauptungen und Forderungen auf jede Verfälschung des Empirischen verzichten. Wie keine künftige Kirche, ohne sich selbst zu gefährden, wissenschaftlich Erwiesenes mehr wird anfechten dürfen, so werden auch die gewaltigsten Geister, deren persönliches Bewusstsein mit Übermenschlichem Fühlung hatte, sich in Zukunft gefallen lassen müssen, als Menschen rein als Menschen gesehen zu werden. Ich nun erblicke eine meiner wichtigsten kritischen Aufgaben eben in der Schwindelzerstörung. Die Schule der Weisheit gründete und betreibe ich in bewusster Erkenntnis bestehenden Vorurteilen zum Trotz: Weisheit ist nicht das, als was die meisten sie auffassen. Sie ist einerseits mehr, andererseits ein Einfacheres. Und wenn ich ununterbrochen an mir arbeite, so verfolge ich die Ideale gerade nicht, an denen viele mich messen und um derentwillen mich manche bekämpfen. Abklärung im üblichen Sinn hoffe ich nie zu erreichen, denn dann wäre ich kein schöpferischer Mensch mehr, sondern ein harmloser Popanz. Mediziner behaupten, ich sei physiologisch mit meinen 46 Jahren noch unter 20: ich hoffe dringend, die Lebensmodalität der Jugend noch lange zu behalten, denn sie allein ist produktiv. Es gab eine Zeit, da ich in stoischer Überlegenheit ein Ziel sah: das war zwischen 20 und 30, da ich viel älter war als heut. Dann strebte ich einige Jahre danach, ein Meister im Sinn des Ostens zu werden. Ich gab es auf, nachdem mir klar geworden war, dass dieses Ideal zu seiner Verwirklichung eine Naturgrundlage erfordert, die ich nicht habe.

Heute stehe ich gerade zum Vulkanischen meines Temperamentes positiv und freue mich des, was oft als Wutanfall missverstanden wird: dieses Aufkochen ist mein besonderer Weg, mein Unbewusstes zur Produktion zu bringen. Wie sich denn der Zeitpunkt möglicher geistiger Geburt bei mir meist dadurch anzeigt, dass ein geringfügiger Anlass mich in starke Erregung versetzt, wonach jene dann beinahe mühelos verläuft. Je weiter ich komme, desto unbefangener bejahe ich also vieles von dem, was in mir besonders unzulänglich erscheint. Und desto klarer wird mir, dass kein Schöpfer jemals anders stand. Zunächst beruht dies auf Triebzwang: der geistig produktive Mensch fühlt sich zum Schaffen ebenso unbedingt gedrängt, wie die Mutter zum Gebären. In zweiter Linie verlangt vom möglichen Schöpfer eben dies sein Gemeinschaftsethos: er muss das geben, was er geben kann, und die Anerkennung des Soll impliziert die Bejahung der Bedingungen seiner Verwirklichung. Der letzte metaphysische Grund dieses Tatbestands aber liegt im eingangs Gesagten, dass die wahren Ziele menschlichen Strebens jenseits der Spannungen dieser Erdenwelt gelegen sind, welche Erkenntnis die Zuständlichkeiten des Lebens vollends zu Mitteln relativiert. Deshalb fällt das richtig verstandene Vollendungsideal mit keinem konkreten Zustand und keiner starren Norm zusammen. Wie der Sünder vor Gott mehr wert sein kann, als der Gerechte, so sind Umstände denkbar, wo der Zustand des Bacchanten Besseres bedeutet als der des konventionell bestimmten Weisen. Das Vollendungsgebot bezieht sich eben immer auf ein jenseits der Naturgrundlage. Je nach deren Eigenart sind besondere Ziele sinngemäß und folglich besondere Normen zur Orientierung geboten. Hier hat jeder so generös zu sein gegen sich selbst, wie christliche Liebe dies je dem Nächsten gegenüber heischte. Oder, um den gleichen Gedankengang auf die üblichen Vorurteile hin zusammenzufassen: welche Spannungen der Mensch anerkennt, welche ausgleicht, welche verstärkt, darf nie von Idealen im bisherigen Sinne abhängen, denn kein starres Ideal taugt je, sondern der Geist bedarf jeweils bestimmter, um seinem Eigengesetz gemäß zu wachsen.

So ist Nietzsches Aufruf zum Bösewerden zu deuten. Den kann ich besonders gut verstehen, weil ich von Hause aus überschwänglich wohlwollend, warmherzig und gutmütig bin. Das, was man Böse heißt, gehört notwendig mit zur Klaviatur des Geists. Ist sein Höchstausdruck; der Geist der stets verneint, freilich zu verdammen, denn absolute Zerstörung, als Selbstzweck, ist sein Ziel, so ist Nein-sagen-Können überhaupt ein notwendiges Element alles bestimmten Lebens. Ursprünglich nun betrifft der Begriff des Bösen nichts anderes, als den Zusammenhang von Verneinung und Kraft zu ihr, denn die soziale Kohäsion, die nur auf Grund des sogenannten Guten möglich ist, ist Urphänomen, und nicht die Vereinzelung. Das wahrhaft Gute ist nie ein anderes, als das dem tiefsten Sinn Gemäße, denn dieses Gute allein ist absolut wirklich, insofern es unsterbliches Leben in sich hat. Das Böse amortisiert sich so oder anders, d. h. es führt zum Tod. Nie nun fällt dieses wahrhaft Gute mit dem zusammen, was Gemütsmenschen darunter verstehen. Es stand gerade Nietzsche in moderner Verkörperung dem Geiste Jesu viel näher, als irgendein Christ dies tut, der sich gut vorkommt, insofern es die Gebote der Liebe bewusst befolgt und das harmonische Fortbestehen des Gewohnten fördert. Nur die Liebe ist wertvoll, welche vorwärts bringt. Was immer dies nicht tut, was immer Befriedigtheit fördert, verkörpert das wahrhaft böse Prinzip, das heute insofern nirgends mehr Vertreter zählt als unter ehrlich gläubigen Christen, und dies zwar proportional dem Gewicht, das sie bewusst auf Liebe legen. Denn dabei meinen sie Trägheit, und Trägheit ist die eine Sünde wider den Heiligen Geist, die nie vergeben wird. So selbstverständlich nun dies alles sein sollte — den meisten ist es merkwürdigerweise neu. Ja die meisten wollen es coûte que coûte nicht wahrhaben, da es ihren überkommenen, durch Gewohnheit fixierten geliebten Vorurteilen widerspricht. Da ist es wohl gut, wenn ich der theoretischen Auseinandersetzung ein lebendiges Beispiel folgen lasse. Um hier nun ganz sicher zu gehen, wähle ich mein eigenes. Was ich letztlich wert sei, lasse ich außer Betracht. Ich selbst kann das gar nicht wissen, soweit der Wert vom Standpunkt der anderen in Frage steht. Aber dass ich meinen Mitmenschen irgendwie nützlich bin, scheint mir erwiesen. So will ich denn, in einer kurzen autobiographischen Skizze, den Nachweis erbringen, dass dieses Produktive in geradezu allen Fällen auf Unzulänglichkeit in irgendeinem Sinn beruht.

1 Vgl. meinen Aufsatz Gerechtigkeit und Billigkeit im 11. Heft meines Wegs zur Vollendung.
Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Von der Produktivität des Unzulänglichen
© 1998- Schule des Rades
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