Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Spengler der Tatsachenmensch

Zukunftswissen

Wenn es also ein Prophezeien einerseits selbstverständlich gibt, so ist dessen Möglichkeit andererseits an bestimmte Bedingungen gebunden. Diese nun lassen ihrerseits dessen Wesen besser verstehen. Den Fall des abnorm Veranlagten behandelten wir bereits, sofern er für uns in Betracht kam. Beschäftigen wir uns jetzt mit normalen Erscheinungen, die jedoch mit den supranormalen eines Sinnes sind. Warum weiß eine Mutter am ehesten, was aus ihrem Kinde werden wird, warum wird sie durch Tatsachen kaum je beirrt? Weil sie sich eins fühlt mit ihm; Mutterliebe bedeutet und bewirkt insofern Ähnliches wie prophetisch-mediale Begabung. Warum fühlt sich jeder große Mensch mit seinem Schicksal eins und arbeitet diesem zielsicher, ob auch meist unbewusst, vor? Weil der große Mensch der tiefverwurzelte ist; weil sein Bewusstsein, im Unterschied von dem der Mehrheit, jenseits seines Empirisch-Persönlichen sein Zentrum hat. Darum will er unter Umständen auch seinen Untergang, darum kann man bei ihm zwischen dem, was er tut, und dem, was ihm widerfährt, so selten scheiden; darum können die Legenden der ganz Großen beinahe durchaus scheinbar Äußerliches betreffen und doch das Innerste sach- und sinngemäß ausdrücken. Beim Oberflächlichen hingegen besteht zwischen Wille und Schicksal ein Bruch oder Widerstreit. Deshalb erscheint nicht nur, deshalb ist in hohem Grad sein Wollen ohne tiefen Hintergrund und sein Schicksal ohne persönlichen Sinn.

Was nun vom Tiefen gilt, gilt auch vom spezifisch Veranlagten. Jeder echte Staatsmann weiß auf politischem Gebiete grundsätzlich voraus, was kommen kann und wird. Daran ist nichts Wunderbares, weil es sich bei seiner Zukunftsschau nur darum handelt, der Entwicklungsrichtung des kollektiven Unbewussten, an dem er selber teil hat, bewusst zu werden. Dieser Umstand erklärt, warum es ganze Völker von politischer Begabung gibt und warum solche sich leichter als jede andere vererbt. Das kollektive Unbewusste ist ein sehr Eindeutiges; es entwickelt sich mit großer Stetigkeit; seinen Weg beirren äußere Zufälle kaum und nie auf lange Zeit. Also lässt sich mit nahezu absoluter Gewissheit mit ihm rechnen. Von jedem Staatsmann sollte deshalb gelten können, dass er das Wirken der in der Tiefe waltenden Volkskräfte unmittelbar, in ihrer jeweiligen Zielsetzung, spürt und eben darum durch gegenwärtig-zufällige Tatsachen nicht beirrt wird. Was den großen vom gewöhnlichen unterscheidet, ist nur dies, dass dieser dem Strom des Volkswillens folgt, jener aber ihn zu lenken und ihm durch die Magie des Wortes und der Tat höhere Ziele zu weisen weiß, als er von sich aus fände. Dazu gehört, dass er den Sinn des Geschehens schneller und tiefer erfasst und dank dem die weitere Zukunft im Schachspiel der Gegenwart mit berücksichtigt. Die meisten sehen nur die Oberfläche; so wird ihr Bewusstsein sogar von dem überrascht, was ihr eigenes Unbewusste herbeiführte. Hier liegt der letzte Grund dessen, was ich schon im Letzten Sinn der Freiheit (in Gesetz und Freiheit) ausführte, dass die Menschen und Völker grundsätzlich nicht die Väter, sondern die Kinder ihrer Taten sind: eine ihnen selbst ganz unerwartete Leistung, die oft Zufall äußerlich herbeiführte, schuf ihr Bewusstsein um, so dass sie fortan über neue Fähigkeiten verfügten und neue Wege zu wandeln fähig wurden. Der Urheber dieses Wachstums war aber jedesmal, wo ein Mensch überhaupt in Betracht kam, ein insofern prophetischer Geist, als er das Werdenwollende vorauserkannte und ihm im Bild die geistige Urform schuf, welche Helden und Völker nachher verwirklichten. Woraus denn weiter folgt, dass jeder Politiker scheitern muss, welcher, der tieferen Kräfte unbewusst, sich allein den jeweils sichtbaren Tatsachen anpasst. Ein solcher kommt immer zu spät; sein Walten gleicht einem einzigen Treppenwitz, denn die Tatsachen laufen ihm uneinholbar voraus. Auf dem Gebiet des Lebendigen sind diese eben das Sekundäre. Ein Beispiel aus der Schatzgrube chinesischer Staatsweisheit wird dies ganz deutlich machen. Diese geht von der Erfahrungstatsache aus, dass nur das Reife zur sichtbaren Macht gelangt. Dementsprechend bedeutet das Zur-Macht-Werden einer historischen Bewegung nicht, dass sie dann erst entstände, sondern dass sie dann erwachsen ist. Die Folgerung hieraus ist klar: will man das Geschehen lenken, so muss man an erster Stelle auf die Keime achten; deshalb ist das Dasein jeder in die Erscheinung getretenen Macht um ungefähr 25 Jahre zurückzudatieren. Tun wir nun dieses für Deutschland, um den wahren Beginn des Weltkriegs und der Weltrevolution zu bestimmen, so stoßen wir auf die Periode um Bismarcks Abgang … Hätten die damaligen Führer die Keime bemerkt und vorausgefühlt, was freilich möglich war, zu welcher Reifegestalt sie sich, unbehindert, entwickeln mussten, so wäre dem Verhängnis zu steuern gewesen. Denn kleine Kinder sind leicht zu lenken, erwachsene Menschen schwer.

Diese kurzen Betrachtungen dürften genügen, um sowohl die Möglichkeit der Prophetie überhaupt zu erweisen als auch ihren Sinn zu bestimmen; sie stecken implizite zugleich die Grenzen ihres Gültigkeitsbereiches ab. Prophetie beruht nicht auf Tatsachen- sondern Sinnesschau. Jene kann sie nur insoweit voraus wissen, als auf dem Gebiet des Lebens der Sinn den Tatbestand schafft, das Korrelations­gesetz von Sinn und Ausdruck gilt, was impliziert, dass die Erscheinung der Spezifizität des Sinns auf die Dauer entsprechen muss, und als der Sinn nur als Sinnbild in die Erscheinung tritt. Da auf historischem Gebiete Freiheit waltet, ist die Entsprechung von Sinn und Erscheinung niemals naturnotwendig; daher das Nicht-Eintreffen so vieler wesentlich richtiger Prophezeiungen, die aber den Fehler hatten, zu genau bestimmen zu wollen. Auf die Dauer hingegen treffen, vom Sinn her beurteilt, richtige Voraussagen immer ein, sowohl im Einzel- als im Völkerleben, weil eben das Leben dauert, der möglichen Zufälle nicht viele sind und die einmal dank einem Zufall zustandegekommene Kongruenz von Sinn und Ausdruck sich, da sie das Weltgesetz für sich hat, gegenüber allem und jedem behauptet. Hier liegt die Ursache des schicksalsmäßigen an-der-Machtbleibens des dem Zeitgeist Entsprechenden, handele es sich um Völker oder um Einzelne, und sprächen auch alle Tatsachen dagegen. So hat sich der Bolschewismus, trotz der geringen Zahl seiner ersten Vertreter, aller Übermacht der Feinde, aller Armut und Hungersnot zum Trotz behauptet. So hält sich Mussolini trotz all seiner persönlichen Fehler, die wirklich an die Wilhelms II. gemahnen. Jenem schaden sie nicht, wo sie diesen vernichteten, weil seine Erscheinung für Italien sinngemäß ist. Scheitern kann und wird er nur dann, wenn er sich über Italien hinauswagt; denn die künftigen Napoleone Europas werden sich allein als innen- und nicht mehr als außenpolitische Mächte bewähren. Nun gibt es wahrscheinlich auch ein direktes Vorauswissen von Tatsachen. Aber diese Art Prophetie lasse ich hier beiseite, da sie nicht begriffen werden kann. Dies darf ich um so mehr, als solche äußerst selten vorkommt. In den meisten Fällen beruht die Behauptung, dieser oder jener Prophet hätte, ganz Bestimmtes genau vorausgewusst, auf einem Missverständnis; der Schein bestimmten Zukunftswissens rührt daher, dass jeder das Grundsätzlich-Allgemeine unwillkürlich in Gestalt des ihn betreffenden Besonderen sieht. So löst sich u. a. die Antinomie der Delphischen Orakelsprüche. Diese gingen über Allgemeinheiten nie hinaus und wirkten doch als ganz bestimmte Ratschläge.

Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Spengler der Tatsachenmensch
© 1998- Schule des Rades
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