Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Spengler der Tatsachenmensch

Mann der Vergangenheit

Doch lassen wir jetzt Spenglers persönliche Psychologie, wenden wir uns dem Erkenner in ihm zu und damit zum vermeintlichen Propheten zurück. Wir fanden schon die Formel: Spengler ist wesentlich Tatsachenmensch. Denken wir von hier aus an die Eingangsbetrachtungen zurück, so wird uns klar, dass er wegen dieser einen Eigenschaft allein schon unmöglich Prophet sein kann. Nur der kann prophezeien, der das Tatsachenschaffende unmittelbar wahrnimmt. Spengler nun ist nicht bloß Tatsachenmensch überhaupt: er ist wohl der extremste, den es jemals gab. Wer wohl schrieb vor ihm:

In der geschichtlichen Wirklichkeit gibt es keine Ideale; es gibt nur Tatsachen. Es gibt keine Wahrheiten; es gibt nur Tatsachen. Und schreibt er weiter in der wirklichen Welt gibt  … nur gewachsene Staaten, die nichts sind als lebendige Völker in Form (was richtig ist),

so beweist er, wes schlechthin ungeistigen Geistes Kind er ist, desto klarer durch den Nachsatz:

Allerdings geprägte Form, die lebend sich entwickelt, aber geprägt vom Blut und Takt eines Daseins, ganz triebhaft und ungewollt; und entwickelt entweder von staatsmännischen Begabungen in der im Blute liegenden Richtung, oder von Idealisten in der Richtung ihrer Überzeugungen, das heißt ins Nichts.

Damit beweist Spengler, dass er im historischen Schicksal nur das Organische sieht, das allerdings nur von den Gesetzen des Blutes abhängt; dass Geist in der Geschichte seiner Meinung nach nicht mehr vermag und folglich auch bedeutet, wie beim Ablauf der vegetativen Lebensvorgänge. Und damit beweist er, dass er das Wesen des Geschichtlichen vollkommen missversteht. Geschichte ist die eine Ebene des Geschehens, die allein vom Menschen abhängt; sie ist das Bereich der reinen Freiheit, der absoluten Verantwortung. Deshalb ist Geist — ob auch unbewusst wirkend — ihr erstes und letztes Wort1. Von hier aus können wir denn den letzten Sinn von Spenglers Versagen genau bestimmen. Den Weg dazu weist seine seltsame Scheidung zwischen Dasein und Wachsein. In seiner Betrachtung über die Erscheinung Christi schreibt er:

Mein Reich ist nicht von dieser Welt — das ist das letzte Wort, von dem sich nichts abdeuten lässt und an dem jeder ermessen muss, wohin Geburt und Natur ihn gewiesen haben. Ein Dasein, dass sich des Wachseins bedient, oder ein Dasein, welches das Dasein unterwirft; Takt oder Spannung, Blut oder Geist, Geschichte oder Natur, Politik oder Religion: hier gibt es nur ein Entweder-Oder und keinen ehrlichen Vergleich … Kein Glaube hat je die Welt verändert und keine Tatsache kann je einen Glauben widerlegen. Und anderweitig: Ob Lehren wahr oder falsch sind, ist für die Welt der politischen Geschichte eine Frage ohne Sinn.

Falscheres ist selten behauptet worden. Dasein und Wachsein stehen ganz wesentlich nicht im Verhältnis eines Entweder-Oder zueinander; wenn je etwas die Welt verwandelt hat, dann war es Glaube, und auf die Dauer entscheiden Wahrheit und Falschheit erwiesenermaßen über Leben und Tod. Ideen aber, die Spengler nicht einmal den sonstigen gleichwertige Tatsachen bedeuten, sondern Sekundärausdrücke und Epiphänomene, sind in erster Linie primärschöpferische Mächte, und dies zwar oberhalb des Spenglerschen Schicksals.

Setzen wir, um hier den richtigen Übergang von Spengler zur Wahrheit zu finden, bei der Naturseite des Tatbestandes an. Jene Einsinnigkeit der Geschichte, von der alle Historiker vor den modernen Morphologen ausgingen, und die trotz diesen als erwiesen gelten kann, rührt zunächst daher, dass geistige Einflüsse sich ebenso naturnotwendig auswirken, wie die der materiellen Umwelt, wenn sie nur stark genug sind, das bestehende geistig seelische Gleichgewicht zu verändern. Für bewusst denkende Wesen sind Ideen genau so zwingende Reize, wie Chemikalien für Protozoen. Folgen jene aufeinander in logischer Filiation, dann muss ihre Logik sich auch in den historischen Zuständen widerspiegeln, denn alle Völker, die ihrem Einfluss ausgesetzt waren, müssen auf diese reagieren, um ihr biologisches Gleichgewicht zu behaupten. So hat sich kein europäisches Volk den Ideen der Reformation, der französischen Revolution, der Demokratie, des Parlamentarismus entziehen können, so wird Gleiches immer mehr von Sozialismus und Bolschewismus gelten, zunächst ganz einerlei, wie es mit dem Wahrheitsgehalt der Ideen bestellt sein mag; so muss der Osten, wo er sich dem Einfluss des Westens einmal aussetzte, dessen gesamte Ideenwelt rezipieren. Wohl reagiert jedes Volk verschieden auf das Gleiche, je nach Anlage, Entwicklungsstufe und -rhythmus. Aber die Einsinnigkeit der Zeitgeister ist doch das primäre Phänomen, und sofern der Geistesprozess ein logischer ist, hat das organische Leben selbst am Logos teil. Dieser Tatbestand allein erweist, dass das Schicksal der Spenglerschen Kulturseele nicht der Geschichte letzte Instanz bedeutet. Der seelische Prozess ist allerdings ein Wachstumsvorgang wie der physische, nur führt er durch die werdenden und vergehenden Kulturseelen hindurch. Deshalb kann das letzte Wort einer bestimmten Seele ohne Widersinn zum Jugendideale einer anderen werden, wie dies innerhalb bestimmter Grenzen von Buddhismus, Christentum und Sozialismus gilt.

Der gleiche Sachverhalt hat aber noch eine andere und in diesem Zusammenhang wichtigere Seite. Die Ideen, welche, einmal geboren, als formende Umwelt wirken, sind in erster Linie Geist vom Menschengeist. So ist der Geist selbst hier der Urgrund dessen, was ihn seinerseits bildet. Hieraus allein folgt schon, was ich so oft von anderen Ansatzpunkten her erwiesen habe, das der Logos der primus movens der historischen Bewegung ist und dass das historische Schicksal einer anderen, geistigeren und insofern höheren Ebene angehört, als der des organischen Wachstums, für die allein Spengler ein Auge hat. Nun aber erst gelangen wir zur Hauptsache: der Geist als Urgrund der historischen Bewegung ist gerade der wache Geist, dem Spengler alle politische Bedeutung abspricht. Es handelt sich freilich von Fall zu Fall um ein Wachsein sehr verschiedenen Grades; je primitiver ein Volk, ein desto geringerer Teil seines Seins wird ihm bewusst. Aber Bewusstsein überhaupt ist die Voraussetzung historischen Geschehens, nicht nur dem Sinne, sondern erwiesenermaßen auch den Tatsachen nach. Wo niemand bewusst etwas wollte, da gab es nie historische Bewegung. Da erschöpfte sich das Leben im Physiologischen. Womit denn die gesamte Spenglersche Geschichtsphilosophie erledigt wäre. Diese Gedankengänge in grundsätzlicher Hinsicht näher zu begründen und weiter auszuführen brauche ich hier nicht: im Kapitel Das richtig gestellte Fortschrittsproblem der Neuentstehenden Welt und den Kapiteln Geschichte als Tragödie und Der letzte Sinn der Freiheit von Wiedergeburt habe ich’s bereits getan. Dort möge man nachlesen, was hier zu fehlen scheint.

Im diesmaligen Zusammenhang kommt es uns einzig darauf an, zu verstehen, warum und inwiefern Spengler kein Prophet ist, und aus dieser Einsicht heraus den Weg zum Sinn produktiver und prospektiver Geistbetätigung überhaupt zu finden. Vertiefen wir zu dem Ende zunächst die Ergebnisse des Anfangs dieses Kapitels. Wir können die Zukunft vorauswissen, sofern wir den Sinn des Werdens erfassen. Das Leben ist zutiefst Sinn. In wem der jeweils wirksame bewusst wird — und bewusst kann er werden, weil er nichts anderes ist als das faktisch dem unmittelbar erlebbaren persönlichen und kollektiven Unbewussten die Richtung Gebende —, der kann auch unmittelbar wissen, was werden kann. Er kann es deshalb, weil die Normen und Ziele seines geistig-seelischen Strebens zugleich die letzten Motive des realen Werdens sind. Wozu bemerkt sei, dass es viel leichter ist, Historisches vorauszuwissen, als Individuelles, weil im Fall des kollektiven Unbewussten die Trägheit, gegenüber der Initiative, die größere Rolle spielt. Nun wird verständlich, warum mancher bloß medial veranlagte Okkultist, dessen Weltanschauung die schwersten Bedenken erweckt, die Zukunft so oft sicherer vorausgewusst hat, als der so kluge Spengler.

Das eine, was bei der Zukunftsschau nicht Beachtung verdient, sind gerade die Tatsachen als solche; die sind nie mehr als geronnener, erstorbener Sinn. Und nun erweist sich Spenglers Prophezeien unmittelbar als Absurdität. Als großer Historiker, und als solcher innerhalb eines vorgegebenen Rahmens starrer Tatsachen der Intuition fähig, hat Spengler den Sinn von Vergangenem oft wunderbar richtig erfasst. Aber er ist wesentlich vergangenheitszugewandt; seine Anlage ermöglicht ihm allein, den Sinn abgeschlossener Lebensprozesse zu verstehen. Urteilt er jeweils über Gegenwärtiges richtig, so gilt dies doch genau nur insoweit, als aus Gegebenem folgernder oder analogisch schließender Verstand kompetiert. Sobald dies nicht möglich ist, erweist sich Spengler als vollkommen hilflos, so sicher er sich gebärdet. Dann denkt und schreibt er aus seiner Glaubens-Voraussetzung, dass die Geschichte ein Uhrwerk sei, heraus. Dann tut er so, als wäre die Zukunft in der Vergangenheit im selben Sinn enthalten, wie bei mechanischen Prozessen. Dann müssen bestimmte Begabungen zu bestimmter Zeit im selben Sinn geboren werden, wie die Uhr nach einer bestimmten Zeitspanne drei schlagen muss. Nie werde ich’s vergessen, was Spengler im Jahre 1919, bei unserer ersten Begegnung, über die Zukunft weissagte. Schon in den allernächsten Jahren werde Berlin das Zentrum Europas sein, denn die historische Stunde der Preußen habe geschlagen. Aber wo sind denn die betreffenden Begabungen? Die werden eben geboren werden … Spengler ist reiner Gelehrter, rückwärts gewandt. Wie kommt er überhaupt darauf, zu prophezeien? Nun, der Wendecharakter dieser Zeit ist dermaßen stark, dass sogar ein geborener Tatsachenmensch unter Umständen heute nicht umhin kann, als Prophet zu schreiben. Auch er hat eben am unbewussten Werden teil. Und dekretiert er krampfhaft, was werden soll, anstatt sich hinzugeben, bis dass er verstanden hat, so liegt darin die tragische Geste des Manns der Vergangenheit; deren Geist soll nun die Zukunft vorausbestimmen.

Spengler der Mann der Vergangenheit. Dieser Satz enthält das letzte Wort über ihn als Menschen. Er ist in allen Hinsichten der starr mechanische Deutsche des wilhelminischen Zeitalters. Alle Kategorien, in denen er denkt, sind solche des 19. Jahrhunderts. Daher sein Erfolg bei den materialistischen modernen Massen. Die Chauffeurwelt denkt ja auch in Kategorien jener Zeit, obschon sie praktisch Zukunft schafft. Denn auch darauf, nicht nur auf dem Umstand, dass der Untergang des Abendlandes auf seine Art zur Zerstörung der alten Welt beiträgt, beruht seine Anerkennung seitens der Bolschewisten. Aber nicht nur materialistischen Massen gilt Spengler als Prophet: hierin liegt der vielleicht entscheidendste Indizienbeweis dafür, wie sehr das verflossene Zeitalter, um die Worte des Schlusskapitels der Neuentstehenden Welt zu wiederholen, ein solches des missverstandenen und ohnmächtigen Geistes war, und wie sehr dessen Gesinnung heute noch bestimmt. Man darf nur Bestimmtes wollen oder nichts: diese Weltanschauung ist von der Kaserne her wohlbekannt. Man glaubte sie überwunden, weil verjährt. In Spenglerscher Neuverkörperung erlebt sie eine neue Hochkonjunktur. Und zwar im Sinn des Wohlbefindens dabei, dass alles, was Initiative bestenfalls vermag, sich im vorgesetzten Rahmen zu bewegen und vorgesetzte Ziele zu erfüllen hat. War dies nicht die Gesinnung, um derentwillen Deutschland den Krieg letztendlich verlor? Gelehrte dekretierten aus dem Studium von Tatsachen heraus, was kommen müsste. Die ganze Maschinerie des deutschen Volkes wollte das Vorgesetzte. Und es kam alles anders … Es liegt eine tiefe, tiefe Ironie darin, dass Deutschland sich in dieser Wende, wenn auch nur für eine Zeit, den extremst denkbaren Vertreter der Vergangenheit zum Propheten erkor. Es beweist, wie sehr vergangenheitszugewandt es immer noch ist. Wissen im Gegensatz zu Verstehen, Programmatik im Gegensatz zu Sinneserfassung, Dogmatik im Gegensatz zur Einfühlung in das lebendige Werden sind noch heute allzuvieler Element. Spengler kann nichts dafür, dass er bei allen seinen großen Gaben letztinstanzlich ein Tatsachenmensch ist, der Prototyp dessen, der nicht die Gegenwart im Guten beeinflussen und Zukunft weisen kann. Aber es ist erschreckend, dass dies so wenige merken. Spengler wird ja nur um des ganz Unwesentlichen willen bekämpft, z. B. auf Grund seiner historischen Einzelirrtümer. Die hätte er nicht zu begehen brauchen, zu ihm gehören tuen sie nicht. Wenn er könnte, d. h. wenn seine reiche Kombinationsgabe und die Unvollständigkeit des Materials dies erlaubten, nie ginge eine falsche Tatsachenbehauptung von ihm aus. Spenglers Fehler ist, dass er in den Tatsachen letzte Instanzen sieht. Man kann den Wortlaut dieses Satzes schließlich stehen lassen, dann muss man aber hinzufügen: die suprem wichtige Tatsache ist des Menschen schöpferische Freiheit. Nichts ward historisch je, außer aus schöpferischem Subjekt heraus. Dies erkennt Spengler unter den Begriffen des Daseins und Blutes an. Dass er es für den erwachten Geist nicht anerkennt, ist ein Beweis dessen, dass er vom λόγος σπεϱματιϰὸς nichts weiß. Und er allein macht den Menschen erst zum Menschen. Denn dank ihm erst setzt sich das Pathos der Kreatur in das Ethos des Kreators um …

1 Vgl. die genauen Bestimmungen des Wesens der Geschichte, die ich hier nicht wiederholen will, in Vom Interesse der Geschichte in Philosophie als Kunst, Geschichte als Tragödie in Wiedergeburt und der Neuentstehenden Welt.
Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Spengler der Tatsachenmensch
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