Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Kant der Sinneserfasser

System und Vollendung

Damit wären wir denn einen wichtigen Schritt weiter auf dem Weg zum Verständnis des Wesens geistiger Wirklich- und Bedeutsamkeit gelangt, den dieses Buch zu ebnen versucht. Die früheren Aufsätze lehrten uns hauptsächlich drei Grundwahrheiten einsehen: dass das Unzulängliche produktiv ist, dass nur aus dem Geiste wiedergeborene Talente zu Großem führen, und dass Einstellung auf die Tatsachen an sich wahre Einsicht unmöglich macht. Die Betrachtung der Bedeutung Kants erwies, dass Einstellung auf den Sinn allein Unsterblichkeit gewährleistet. Es gibt nichts ewig Wertvolles, was nicht dem Reich des Sinnes angehörte. Hieraus ergibt sich weiter, dass ein wesentlicher Geist ganz wesentlich vieldeutig ist. Diese Einsichten nun lehren uns, über das bisher Erkannte hinaus, zwei Forderungen als Vorurteile erkennen, die heute noch die meisten Werturteile von Wissenschaftlern bestimmen. Deren erste betrifft das System. Der Intellekt ist seinem Wesen nach systematisch. Jede Philosophie ist deshalb, in Kants Worten, als systematischer Zusammenhang der Vernunfterkenntnisse darstellbar. Da der Mensch mittels des Verstandes begreift, so ist die mögliche systematische Darstellung auch immer nützlich. Aber mehr ist sie nie. Im allerbesten Fall bedeutet ein System so viel, wie ein bestimmter besonders wohlgeratener Körper einer unsterblichen Seele, d. h. er taugt so lange, als das bestimmte Sosein des Ausdrucks den schöpferischen Sinn nicht beengt. — Deren zweite betrifft den Primat logischer Vollendung. Gewiss ist diese immer wünschenswert. Sie entspricht auf der Ebene begrifflichen Denkens dem, was auf der physischen das reibungslose Zusammenspiel der Muskeln als Ergebnis gymnastischen Trainings ist. Aber das philosophische Erkennen entspricht, um im gleichen Bild zu bleiben, dann dem, was das Leben des Körpers ist; dem Toten hilft die beste Trainiertheit nichts. Diese wenigen Sätze, auf dem Hintergrund des früher Ausgeführten betrachtet, lehren uns nun ohne weiteres vielerlei verstehen, was dem Denken als Problem tagtäglich entgegentritt. Erstens das nachweislich Wirkungslose jeder bloß logischen Arbeit. Dies beruht darauf, dass solche, wo sie nicht Über-Logisches nur logisch ausdrückt, tot ist. Zweitens den Sinn des peinlichen Eindrucks, den sogar die richtige Kritik des bloßen Logikers an einem schöpferischen Geist, sofern sie nicht sehr bescheiden ist, in jedem nicht Stumpfen hervorruft. Wer von der Logik aus über den tieferen Sinn dessen, was ein lebendiger Geist meint, abzuurteilen unternimmt, tut nahezu ebenso Widersinniges, als wer aus bloßer Kenntnis des Skeletts heraus den Sinn menschlichen Freiheitsstrebens fassen will. Der Logiker ist als mechanischer Handlanger und Ausführer, als Monteur gleichsam, überaus nützlich; desto mehr, als nur sehr wenige große Geister gerade diese Fähigkeit im gleichen Grad besaßen, wie unzählige Kleine, und das Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck selbstverständlich auch logische Entsprechung verlangt. Aber mehr als Handlanger und Ausführer können Logiker der Natur der Dinge nach nicht sein, und es ist ein betrübliches Zeichen dieser Zeit, dass die Logik noch ziemlich allgemein als Instanz über dem intuitiven Wissen gilt. Von hier aus ist nur ein Schritt zu einer weiteren Einsicht: warum Geister, deren persönlich letzte Instanz definitorische Klarheit ist, ohne Ausnahme unfruchtbar erscheinen. Selbstverständlich muss man klar sagen können, was man meint, und das Gebot scharfer Formulierung folgt unmittelbar aus der Gültigkeit des Korrelationsgesetzes von Sinn und Ausdruck. Aber erst muss ein Gedanke da sein, dann erst stellt sich die Frage entsprechender Bestimmung. Und er kann einem einfallen, ohne auf verständliche Weise ausdrucksfähig zu sein. Sobald definitorische Klarheit an sich als Ideal gilt, hört lebendiges Verständnis auf. Das beweist unmittelbar alle Erfahrung an Individuen und an Völkern. So haben die scharfsinnigsten Schriftgelehrten zu aller Zeit das Neue an Neuerern am regelmäßigsten verkannt. So hindert ihr Klarheitsbedürfnis die heutigen Franzosen am meisten daran, das Neue dieser Zeit zu verstehen. Warum? Weil Definieren nur in Funktion des schon Bekannten möglich ist. Ein wirklich Neues, d. h. von den geltenden lebendigen Voraussetzungen nicht Begreifbares verlangt zu seinem Verständnis neue Verstehensorgane, und die müssen sich ad hoc erst bilden; deshalb allein wird jede neue Wahrheit immer erst Jahrzehnte nach ihrer Entdeckung von Mehrheiten eingesehen. Recht eigentlich um Zeit zu gewinnen, verbiete ich insofern in der Schule der Weisheit die Diskussion. Nur grundsätzlich schon Bekanntes lehrt solche deutlicher erkennen. Neues muss zunächst von der Seele in Form eines Befruchtungsvorgangs assimiliert werden. Dann bilden sich die erforderlichen Verstehensorgane ganz von selbst. Und erst nachdem diese den neuen Sinn zu formulieren ermöglicht haben, kann Definieren, das immer nur in der Sphäre des Ausdrucks vor sich geht, die Einsicht fördern.

Die Logik als solche ist also erwiesenermaßen unfruchtbar. Dies hat aber noch mehr Ursachen als die bisher angeführten. Die zwei entscheidend wichtigen berührten wir noch nicht. Deren erste besteht in dem, dass die Logik auf der Ebene herausgestellter Vorstellungen operiert; damit aber verhält sie sich zu der des produktiven Denkens wie die Leiche auf dem Seziertisch zum lebendigen Menschen. Selbstverständlich gelingt es eben deshalb ihr allein, die Organe des Lebens isoliert herauszupräparieren und so ein klares Bild des Mechanismus zu geben, mittels dessen es arbeitet. Und gewiss kommt solche Kenntnis nachträglich dem Leben selbst zustatten. Nichtsdestoweniger bleibt die Leiche eine Leiche. Und das heißt: wer seinen eigenen Gedanken — nicht nur denen anderer — gegenüber die bloß logische Einstellung einnimmt, der ist physiologisch außerstande, sie auf den schöpferischen Sinn zurückzubeziehen. Denn diese Einstellung unterbricht (wie ich in Erscheinungswelt und Geistesmacht in Philosophie und Kunst genau ausgeführt habe) den Kontakt mit dem eigenen schöpferischen Wesen, und wo dieser unterbrochen ist, da ist Verstehen unmöglich, weil solches — im Gegensatz zum allerdings von außen her übernehmbaren Wissen — nur in Form eines Sinn-Gebens von innen heraus gelingt. Das lebendige Denken kann da allein vom Wortsinn der Vorstellung aus interpretieren. Dieser schafft den unentrinnbaren Rahmen. Und da der Wortsinn grundsätzlich nie mit dem persönlich gemeinten zusammentrifft, so versteht der bloße Logiker letztlich weder andere noch auch sich selbst. Was er vertritt, ist in bezug auf sein Wesen zufällig. — Letztendlich beruht die Unfruchtbarkeit logischer Einstellung aber darauf, das nur das Undifferenzierte schöpferisch ist. Kein ausgewachsener Körper pflanzt sich als solcher fort. Er kann es nur mittels eines noch indifferenzierten Keims. Der zu letzter Klarheit gediehene Gedanke entspricht genau dem voll ausgebildeten Organ; von ihm aus gibt es keinen Fortschritt mehr. Daran ändert nichts, dass Klarheit jedesmal erneut das Ziel ist, wie im Erwachsenen das Ziel jedes Keims wer Neues bringt, kann es nie anders tun als in Form des Keimes oder der Jugendgestalt. Also kann er den Anforderungen des Logikers nicht genügen. Je mehr er sich nun bewusst ist, neue Bahnen zu weisen, desto bewusster beschränkt er sich auch aufs Keimhafte. Dies erklärt nicht allein den Stil Nietzsches und der frühen griechischen Philosophen, den Sutra-Stil der Inder und die involvierende, nicht explizierende, chinesische Ausdrucksart: dies erklärt auch den Stil Platos, der sonst Fanatiker der Logik und Dialektik war und trotzdem vieldeutig schrieb. Wer nun persönlich das Letzte, Ewige meint, der kann überhaupt nur Keimhaftes in Worte fassen wollen, denn das Ewige manifestiert sich auf Erden allein in Form immer wieder möglicher Wiedergeburt. Von hier aus gewinnen wir denn den letzten und entscheidenden Blickpunkt zur Würdigung Kants. Er meinte bewusst nicht das Letzte und Ewige. Aus persönlichem Kontakte wusste er nichts davon. Sonst hätte er Religion und Ethik nicht auf Vernunftforderungen begründet; sonst hätte er auch im System kein letztes Ziel gesehen, denn es gibt kein mögliches System, das mehr wäre als ein toter Rahmen. Doch sein Geist war als Wirklichkeit so tief im Letzten verwurzelt und dort so richtig eingestellt, dass er unwillkürlich und unbewusst im vollendeten Endlichen Ewig-Gültiges aussprach. Kant ist der eine Geist der Geschichte, der seinen letzten Ausdruck fand und trotzdem fortwirkt, als hätte er nur Keime ausgesät.

Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Kant der Sinneserfasser
© 1998- Schule des Rades
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