Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Jesus der Magier

Bekennen der Wahrheit

Ich habe den Prozess der Entstehung des Christentums rein-psychologisch geschildert. Und freilich durfte ich dies, selbst unter der Voraussetzung der Wahrheit aller kirchlichen Dogmen, denn alle Sinnesverwirklichung erfolgt durch das Mittel von Realpolitik. Auch wenn Gott spricht, so befolgt Er dabei, sofern Er verständlich redet, die Gesetze von Grammatik und Syntax. Insgleichen fand noch nie ein Wunder statt, das nicht mittels befolgter irdischer Gesetze in die Erscheinung trat. So sagt das Ausgeführte nichts gegen Jesu Göttlichkeit aus. Nicht ohne Absicht jedoch habe ich dieses Kapitel so begonnen, dass es falsch Eingestellten oder Gebildeten vielleicht ein Ärgernis bereiten wird. Denn es soll das allgemeine Wesen der Art von Wirken klarmachen, dessen Höchstausdruck in unserem Kulturkreis Jesus bezeichnet. Und in der gleichen Absicht habe ich diesen in der Überschrift Magier geheißen, wo doch unter Magie allgemein ein Besonderes und Bedenkliches verstanden wird. Denn um das wirklich Einzigartige an Jesus richtig zu würdigen, muss man zunächst erkennen, worin er nicht einzig war. Und ganz wesentlich nicht einzigartig war er in seiner Technik. Als Neuerer des Lebens war Jesus zunächst ein Sinnesverwirklicher unter anderen. Alle Sinnesverwirklichung aber ist Magie, und zwar gerade Magie in dem Sinn, in dem so viele ein Übles sehen. Sinnesverwirklichung ist nichts anderes als unmittelbare Einbildung von Geist in die Welt der Materie. Was leistet der Zauberer nun anderes? Aber das Gleiche gilt auch vom Heiler und vom Heiligen. Gleiches von jedem Spender lebendiger Geistesimpulse überhaupt. Ja das Gleiche gilt prinzipiell von jedem, der überhaupt einen Gedanken ausspricht: schon dieser produziert damit recht eigentlich ein Materialisationsphänomen, genau so unerklärlich und dies im gleichen Sinn, wie sie der Okkultismus behauptet. Und so ist Leben überhaupt ein andauernder Materialisationsvorgang (wie denn das Sterben nichts anderes ist als ein Dematerialisationsprozess). Es ist unmöglich, irgendeinen seiner Prozesse anders deutlich zu machen, als in Analogie mit dem Aussprechen von Gedanken mittels der Worte und Buchstaben, oder einer Stimmung in Form eines Gedichts, handele es sich um die Verkörperung der Seele überhaupt, oder Organschöpfung und Heilung, oder die fortschreitende Besitzergreifung eines Gesichts durch den dem Geist gemäßen Ausdruck, der seinerseits schließlich die äußeren Formen wandelt. Was man als magisch bestaunt oder bezweifelt, ist nur ein extremer Sonderfall des Alleralltäglichsten. Die Telekinesie ist nichts Wunderbareres als das Bewegenkönnen des Armes durch die Vorstellung: wirkt Geist überhaupt auf Körperliches ein, was als wie ewig ein Wunder bleibt, dann spielt die Entfernung keine grundsätzliche Rolle. Alles Leben ist also magischen Charakters. Der wahre Unterschied zwischen einem Jesus und einem minderwertigen Magier kann deshalb nicht in Äußerlichem liegen, sondern einzig darin, welcher Geist das immer gleiche Mittel möglicher Sinnesverwirklichung nützt.

Soviel hiervon. Die erfolgte Abgrenzung zeigt aber implizite ein weiteres, sehr wichtiges, das seinerseits klar und deutlich ausgesprochen sei: dass es mittels kritischen Denkens unmöglich ist, den natürlichen oder göttlichen oder teuflischen Ursprung eines Sinns oder Sinnesverwirklichers weder nachzuweisen noch auch zu widerlegen. Hier sind die letztgültigen Grenzbegriffe die des Formates und des Niveaus. Als Techniker, ja als Mensch überhaupt ist keiner anderes und mehr als eben Techniker und Mensch. Das wusste Jesus selbst und auch das frühe Christentum sehr wohl: daher die Nachdrucklegung, inmitten einer götter- und zaubererbelästigten Welt, gerade auf den Menschensohn und die so tiefsinnige Doktrin, dass Jesus sowohl ganz Gott als ganz Mensch sei. Ist dem nun aber so, dann müssen manche traditionelle Unterscheidungen logischerweise fallen. Selbstverständlich gibt es ein Jenseits der erscheinenden Natur. Aber schon das Prinzip jeder physischen Lebenserscheinung gehört ihm an, und es ist insofern erkenntniswidrig, ein Lebensprinzip als natürlich und andere als übernatürlich zu dekretieren. Allerdings betrifft das, was Religion und Metaphysik als Grund der Welt zu fassen streben, eine Wirklichkeit wesenhafterer Ordnung, als es die den Sinnen erscheinende ist. Aber vom Erkenntnis-Standpunkt ist es widersinnig, zwischen den verschiedenen Sinnesinstanzen eine willkürliche statische Grenze zu statuieren. Und nicht minder widersinnig ist die Annahme, dass irgendeine Überirdisches betreffende Dogmatik buchstäblich und wörtlich wahr wäre. Überirdisches ist verständlich nicht zu fassen, und das Unverständliche ist wiederum dem Menschen nicht gemäß. Aus diesem Dilemma gibt es kein Entrinnen. Ohne weiteres gebe ich die Möglichkeit göttlicher Offenbarung zu. Daraufhin kann eine Heilige Schrift sehr wohl auch Gottes Wort enthalten. Niemals jedoch Gottes Sinn. Und darauf kommt es, vom Standpunkt des verstehenden Menschen, letztlich an.

Doch zurück zum Magier. Nie, so fanden wir, wird Denken feststellen können, in welcher Sinnes-Region ein Mensch seinen persönlichen Mittelpunkt hat. Fehlt demgemäß jede Möglichkeit exakter Situierung? Nein. Soweit die Frage erkenntnismäßig gestellt wird, kann die erforderliche Situierung durch einen experimentellen Indizienbeweis gelingen; man erinnere sich der diesbezüglichen Betrachtungen im Schopenhauer-Aufsatz dieses Buchs und des Kapitels Philosophie und Weisheit der Neuentstehenden Welt. Wirkt ein Mensch historisch, so wie es Jesus tat, beglückt und steigert und erlöst der eine, während andere binden und verderben, so muss dies seinen Grund haben. Und hieraus folgt, dass die Idee eines Prozesses, mittels dessen die katholische Kirche den Heiligkeitscharakter eines Menschen feststellt, durchaus nicht sinnwidrig ist. Aus je tieferer Wesensschicht — bildlich gesprochen — ein Geist nun redet und wirkt, desto tiefer und nachhaltiger und wohltätiger seine Wirkung. Insofern könnte Christi Göttlichkeit in irgendeinem Verstand als unmittelbar bewiesen gelten. Aber wiederum hat hier die Anerkennung überlieferter Vorstellung mit einer Erweiterung ihres Gültigkeitsbereiches Hand in Hand zu gehen. Wer immer aus Sinnes-Tiefen spricht, hat in irgendeinem Grad am Übernatürlichen teil. Daraufhin sind alle überkommenen Begriffe zu korrigieren. Nicht zwar gemäß theosophischen Göttlichkeits-Vorstellungen, die einer frühen Verstehensstufe entsprechen, sondern dahin, dass der Grad experimentell erweisbarer Tiefe über den Rang entscheidet. Wir haben vom Allgemeinbegriff der Wirklichkeit auszugehen, der das Empirische und das Metaphysische gleichermaßen angehören. Wir haben insofern vom Göttlichen ebenso realistisch zu denken, wie es die Inder tun, bei denen niemand die Möglichkeit der Geburt eines Gottes unter Menschen anzweifelt. Wir haben im Geistigen überhaupt in erster Linie ein Wirkliches zu sehen. Tun wir dies nun, so können wir die Gültigkeit bestimmter traditioneller Vorstellungen unmittelbar widerlegen. Erkenntniskritisch haltbar ist einzig die Scheidung zwischen Sinn und Ausdruck, aber weder die zwischen Materie und Geist im üblichen Sinn, noch auch die zwischen Natur und Übernatur.

Gibt es Götter, so sind sie natürlich von Menschen qualitativ verschieden; gegen den Sinn der traditionellen religiösen Lehren sage ich nichts. Aber diese haben in Zukunft erkenntniskritische Gesichtspunkte, soweit menschliches Denken in Betracht steht, als letztentscheidend anzuerkennen, denn hier kompetieren sie allein. Die Gesamtsphäre möglichen Ausdrucks untersteht der Jurisdiktion des Menschengeists, der allerdings erst dann ein letztinstanzliches Urteil fällen darf, wo er zu vollkommener Sinnerfassung vordrang. Insofern muss es denn, allen traditionellen Vorurteilen zum Trotz, als gesicherte Erkenntnis gelten, dass wer immer aus Sinnes-Tiefen spricht, in irgendeinem Grad an Übernatürlichem teilhat. Damit fällt nun aber ein weiteres sehr Wichtiges: die übliche Scheidung zwischen religiösen und nichtreligiösen Geistern. Wie ich im Schlusskapitel der Neuentstehenden Welt gezeigt habe, gibt es all die schönen Dinge, die man Religion, Philosophie, Politik etc. heißt, nicht wirklich; sie sind nichts als Denk- oder Verhaltungsschemen; deshalb ist es sinnwidrig, die Art und erst recht den Wert irgendeiner Erscheinung an ihrer Übereinstimmung mit ihnen zu messen. In Wirklichkeit gibt es nur lebendige Geister von bestimmter, einerseits einziger, andererseits gewiss im Rahmen eines Typus begreifbarer Einstellung, deren Wert für andere einzig davon abhängt, ob und inwieweit sie fördern. Auch hier kommt alles allein auf die Wirklichkeit an. Eine Einordnung ihrer ist nur dann nicht schädlich, wenn das Schema die Erkenntnis der Wirklichkeit nicht stört. Dies aber tut sie beinahe überall.

Was ward nicht darüber gestritten, ob dieser oder jener Geist nun wirklich religiös war oder nicht! Und wenn ein bedeutender Mann es nicht wirklich war: ist es nicht gleichgültig, sofern er Tiefes kündete? Unter dem üblichen Begriff der Religiosität wird eine bestimmte Einstellung verstanden, die an bestimmte vorhandene Anlagen gebunden ist; so vermutlich sogar an bestimmte innere Sekretionen. Diese hat gewiss nicht jeder, so wie nicht jeder malen und musizieren kann. Aber ein insofern irreligiöser Geist mag dabei als Wirklichkeit tiefer im Göttlichen wurzeln, als irgendein Frommer. Denn entweder handelt es sich beim Göttlichen um ein Wirkliches oder aber nicht. Ist ersteres der Fall, dann kommt auf die reale Verwurzelung in ihm alles an und nicht auf die Sonderart, die grundsätzlich verschieden sein muss, je nach den verfügbaren Organen. Aller Wahrscheinlichkeit nach liegen hier die Dinge nun so, dass kein Magier — ich erinnere an die exakte Bestimmung des Begriffs — je im landläufigen Sinne religiös war. Denn dieser Begriff steht und fällt mit der Spannung zwischen der Natur, die man ist, und dem Übernatürlichen, das man nicht ist, vom Standpunkt des Er-lebens als oberster Bewusstseinsinstanz, und bei allen Magiern überwog das Ethos das Pathos. Nun ist die Person tatsächlich im Falle Keines die eigene letzte Instanz: jeder ist nach innen zu kosmisch bedingt. Deshalb stammt jede Auswirkung des Menschen aus der Tiefe unter allen Umständen von Überpersönlichem. Insofern nun unterscheidet sich die Wirklichkeit eines tiefen religiösen von der Wirklichkeit eines tiefen nichtreligiösen Menschen nur in Funktion der jeweiligen Haltung zum Gleichen: jener verhält sich pathisch zu seinem Grund und Ursprung, durch diesen wirkt er unmittelbar hindurch, so dass als selbstgewirkt erscheint, was niemals selbstgewirkt im empirischen Sinne ist. Fasst man den Begriff der Religiosität so weit wie Söderblom, der ihn einfach in Funktion der Anerkennung eines Heiligen bestimmt, dann freilich war jeder im Göttlichen wurzelnde Magier religiös. Aber nicht das besagt der landläufige Religiositäts-Begriff, mit dem die Kirchen rechnen, und vom üblichen Sinn der Begriffe, nicht der privaten Konstruktion eines Eigenbrödlers ist auszugehen, soll ein allgemeines psychologisches Phänomen in der richtigen Perspektive gesehen werden.

Vom erleuchteten Magier gilt, dass er persönlich unmittelbar aus dem heraus wirkt, was Unerleuchtete als ein Außer-Sich verehren. Deshalb ist ein solcher in erster Linie; die Fragen der Frommen stellen sich ihm nicht als vitale Fragen und nicht an erster Stelle. Wer hiergegen das Gebetsleben der meisten Religionsstifter anführt, bedenke dreierlei: erstens, dass jeder sowohl Ethos als Pathos ist, dass in jedem die betreffenden Einstellungen rhythmisch abwechseln und gerade die unwillkürliche Überbetonung eines Pols kompensatorisch die bewusste Betonung des anderen, zeitweilig wenigstens, fordert. Zweitens, dass der Typus eines Menschen dadurch bestimmt wird, welche Einstellung vorherrscht. Und drittens, dass die religiöse Technik jedem Menschen frommt: Beten ist in erster Linie Meditieren überhaupt; dieses wirkt gleich fruchtbar, ob einer ein höheres Außer-Sich anerkennt oder nicht. Dass über diese Dinge noch so wenig Klarheit herrscht, hängt damit zusammen, dass ein Bekennen der Wahrheit von jeher mit der größten Gefahr verbunden war, ja es bis zu einem gewissen Grad noch heute ist. Sokrates musste, obgleich er alle Stadt-Götter äußerlich ehrte, den Giftbecher trinken. Jesus, der Gott in sich fühlte, wurde ans Kreuz geschlagen. Was aber die großen Staatsmänner betrifft, so mussten sie auf die öffentliche Meinung in dieser Hinsicht besondere Rücksicht nehmen. Hier, wie überall, war der Buddha am aufrichtigsten und konsequentesten. Eben daher die Meinung, der Buddhismus sei keine Religion. Aber tatsächlich lagen die Dinge bei Jesus genau so, obschon sein jüdisch befangenes Bewusstsein mit dem ererbten Monotheismus einen Kompromiss schloss. Auch er war wesentlich. Sein Eins-Sein mit Gott erlebte er als Gottes Sohn. Er war und wusste, wo andere glauben. Und eben deshalb konnte er das Göttliche im selben Sinne nicht erleben, wie Goethe seinen Faust, indem er ihn schrieb, nicht ebenso erlebte wie seine besten Leser. Schaffen und Erleben schließen sich eben, auf das gleiche hin zu gleicher Zeit, physiologisch aus. Selbstverständlich ist der Mensch als solcher in bezug auf das Göttliche nicht Kreator, sondern Kreatur. Aber dies Verhältnis erleben kann, noch einmal, allein der pathisch Eingestellte. Ganz allgemein gesprochen, erlebt der Handelnde von dem, was er anderen bedeutet, persönlich am allerwenigsten; so heißt es bei Jesus, dass er bei einer Heilung gerade nur merkte, dass eine Kraft von ihm ausgegangen war; so lehrte Goethe:

Der Handelnde ist immer gewissenlos.

Genau in diesem Sinn erscheint übermenschliches Können mit Religiosität im Sinn der Frommen psychologisch unvereinbar. Denn nicht in der Verehrung eines Höheren überhaupt wurzelt der landläufige Begriff der Religiosität, sondern im Standpunkt, von dem aus die Verehrung erfolgt. Womit denn auch der Einwand, den man aus Rudolf Ottos richtigen Bestimmungen des Heiligen ableiten könnte, erledigt wäre. Und dies spricht weder gegen die Magier, noch auch, wohlgemerkt, gegen die Religion. Dass ersteres der Fall ist, leuchtet jetzt wohl ein: wer da ist, braucht nicht im Sinn der anderen zu glauben. Jesus selbst unterschied sich höchst bezeichnend von den anderen als einer, der das Leben in sich habe, also, anders ausgedrückt, selbst Licht war und keiner Beleuchtung durch das Licht bedurfte. Aber ebensowenig spricht dies gegen die Religion. Wer auf Grund seiner Einstellung sein tiefstes Zentrum außer sich spürt, der muss eben glauben, um zum Höchsten und Letzten in persönliche Beziehung zu gelangen.

Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Jesus der Magier
© 1998- Schule des Rades
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