Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Frankreich

Kunst der Liebe

Doch ich möchte nicht schließen, ohne das Positive des französischen Traditionalismus auf ein lebenswichtigstes Problem hin zugespitzt zu haben. Eins der Zeichen dieser Zeit ist, dass die Gefühle sich in unerhörtem Maße abschwächen. Die Sentimentalitätsfeindschaft der neuen Generation hat unter anderem dies zur Folge. Alles Persönlichnehmen hört auf. So kann man mit nur geringer Übertreibung behaupten, dass die Gefahr besteht — die Liebe könnte auf Erden aussterben. In den meisten Ländern werden die Frauen zu Amazonen. Dass dies so kommen würde, war vorauszusehen. Der männliche Protest der Frauenrechtlerinnen leitete nichts Unerhörtes ein: er zielte einfach auf die Restauration jenes matriarchalischen Zustandes hin, der überall wohl irgendeinmal herrschte und insofern der naturgemäßere ist, als der Mann als Geschlechtswesen von Hause aus viel mehr vom Weibe abhängt, als das Weib von ihm. Dass jeder Selbständigkeitsgewinn dieses den Mann unverhältnismäßig viel unselbständiger machen musste, bewies zuerst Amerika. Heute nun, wo die Frauenbewegung überall gesiegt hat, ist der matriarchalische Zustand in den Sitten (wenn auch noch nicht in den Gesetzen, und Gott schütze uns Männer davor!) der Kreise des ganzen Westens, wo die selbständigen jungen Frauen vom Zeitgeist ergriffen sind, in zeitgemäßer Umdeutung nahezu wieder hergestellt. Und damit atrophieren unaufhaltsam die Eigenschaften, welche die Frau als Liebewesen definieren. Amazone bedeutet wörtlich brustlos. Die Gefühls- und Hingabefähigkeit nimmt ab. Wirkt die Amerikanerin kalt, hart und seelenlos, so liegt dies daran. Jede Amazone war von jeher zynisch. Sobald sie ihr vitales Zentrum nicht in der Gefühlssphäre hat, erscheint die Frau viel nüchterner und positivistischer als der trockenste Mann. Der Bubikopf, die veränderte Figur, das Brillentragen, die Zerstörung allen Liebreizes durch Wind, Wetter und Sonnenbrand und die Sportgewaltigkeit sind die äußerlichsten Zeichen dieser Veränderung der weiblichen Struktur. Wichtiger vom Standpunkt der Typenbildung ist die veränderte Gesinnung. Das Weib kennt instinktmäßig, von Hause aus, außer als Mutter, nicht Sittlichkeit, sondern nur Sitte. In Babylon gaben sich die edelsten Jungfrauen des Landes an bestimmten Festtagen selbstverständlich dem fremden Manne hin. Nur dann freilich; sonst hätten sie’s verabscheuungswürdig gefunden. Aber ebenso unmöglich wäre es ihnen erschienen, an den heiligen Tagen spröde zu tun. Scham an sich kennt die Frau nicht; ihr entscheidendes Motiv liegt in der Sitte.

Heute nun ist die Liebe als solche in Europa unmodern geworden; sie konnte es werden, weil sie in ihrem seelischen Verstand ein Kunstprodukt ist, durch geistige Motive erschaffen, die nicht immer wirksam waren. Als die Distanz aufhörte, die das Mädchen zur Idealisierung des Mannes anregte, als sie sein Kamerad wurde und sich in physischer Übung mit ihm maß; als Sitte sie nicht mehr zwang, auf die Gefühlskultur ihr ganzes Sinnen und Trachten zu konzentrieren, gewann das Motiv des inneren Freiwerdens vom Mann, der sie so lange geknechtet hatte, immer mehr die Oberhand. Das (freilich aus anderer Wurzel erwachsene) Beispiel Amerikas steigerte seine Macht. Und nun gab die Tatsache, dass die Frau als Naturwesen vom Manne unabhängiger ist als umgekehrt, den Ausschlag. Nunmehr soll einfach keine Liebe sein. Die modernste Weltdame verkehrt mit den Männern von gleich zu gleich. Was immer im Einzelfall geschehen mag: nie war eine Zeit unerotischer als die unsere. Die vom Standpunkte der alten Generationen unanständigsten Tänze sind in Wahrheit nur eine sehr unschuldige Art, den immerhin vorhandenen Geschlechtstrieb abzureagieren. Wo dieser dazu zu stark ist, dort äußert er sich beinahe normalerweise in der Perversion. Da Liebe zwischen Mann und Frau nicht fashionable ist, so haben erotische Männer Freunde und Frauen Freundinnen.

Die lebendige Sitte von früher ist also nicht mehr. Was noch so erscheint, ist entweder fortwirkende Routine oder von fernher übernommene Konvention, wie denn allein noch südamerikanische Mädchen vielfach an behütete Jungfrauen meiner Jugendzeit erinnern. Zunächst schlagen die neuen Amazonen gelegentlich, wie es nicht anders sein kann, grotesk über die Stränge. In St. Moritz beobachtete ich einmal eine Amerikanerin mit richtigem Tigergesicht, deren Spezialität sein sollte, Männer gefährlich zu beißen; sie tanzte auch, nachdem sie sich nur zwei Tage vorher ein Bein gebrochen hatte. Ihr Prestige war groß. Eine andere Weltdame brüstete sich, in der letzten Saison ganze fünf Glieder gebrochen zu haben. Was aber die traditionelle Kulturschicht Europas betrifft, so erlebte man, dass Frauen, deren ganze Geschichte verlangen sollte, dass sie, was immer sie taten, sich in Haltung auslebten, nun die alte Sitte tot ist, sich als reine Naturwesen gerierten, als Urmenschen, wie solche jenseits des Wassers nicht ihresgleichen finden. Dies galt sogar von vornehmen Engländerinnen. Aber bei denen hat das marktweibartige Tanzen allerdings einen besonderen Sinn. Schon vor dem Kriege pflegten sie sich in geschlossenem Kreis bacchantenhaft zu benehmen. Das war im selben Sinne eine Reaktion auf die sonst gebotene und geübte Reserve, wie das Kissenwerfen, dem Fürstlichkeiten typischerweise frönen. Heute nun toben sie sich öffentlich scheinbar ganz schamlos aus. Das hindert aber nicht, dass sie außerhalb der Stunden sittegewollten Sichgehenlassens von allen Frauen noch am meisten Haltung haben.

So ist die Liebe ernstlich gefährdet in ihrem Fortleben. Nicht nur in Sowjetrussland ist alle Sentimentalität verpönt: auch in Europa sterben die Gefühle. Allenfalls Männer noch sieht man in fashionablen sets diesem Atavismus frönen. Aber wenn die Frauen sich einerseits mimikryartig anpassen — sicher gingen Bubikopf und Brustlosigkeit zuerst darauf zurück, dass sich die Männer im Kriege der Frauengesellschaft entwöhnt hatten und nun Ephebenhaftigkeit das sicherste Reizmittel war — so erfolgt rückläufig unter Umständen auch das Gegenteil. Die heutigen jungen Leute wären sicher nicht so häufig von Hause aus unerotisch und impotent oder feminin, wenn nicht in den Hintergründen der Natur, im Jenseits alles Wollens, aller Sitte, eine Umlagerung der Pole stattfände. Diese Verschiebung des Lebensbildes sieht man allenthalben vor sich gehen. Nur in einem Lande nicht, in Frankreich.

Heute ist Frankreich der eigentliche Hort der Liebe. Dort spielt diese noch genau dieselbe Rolle wie ehemals. Dort herrscht sie noch so unbedingt, dass sogar jedes Verständnis für die oben skizzierten neuen Tatbestände fehlt. Wie ich in Paris die Rede auf sie brachte, lachte ein schöner Seeoffizier laut auf: das ist alles nordische Schwäche! Wie wir nach Kopenhagen und Oslo kamen, da musste uns Mittelländern verboten werden, an Land zu gehen… Ich erwiderte: Das höre ich gern. Aber gibt es noch genügend Mittelländer, um die Liebe zu retten? — Hier steht es mit dem so gefeierten modernen nordischen Menschen in der Tat nicht gut. Eine Autorität auf diesem Gebiet, L. F. Clauß, der Abgott der Völkischen, schreibt in Rasse und Seele (J. F. Lehmanns Verlag):

Für den nordischen Menschen wird selbst der Geschlechtsakt zu einer Art von Leistung. Er verliert auch da nie völlig seine Sachlichkeit. Hiervon ist der Mittelländer frei: er liebt und begehrt und begattet sich als ein Meister des Spiels. (S. 87.) Und weiter (S. 56): Der nordische Jüngling vermag es, ganze Stunden lang an einer Straßenkreuzung zu warten, dort, wo er den Wechsel eines heimlich geliebten Mädchens aufgespürt hat und schwört sich, sie nun diesmal wirklich anzureden und ihr seine Liebe zu sagen. Aber dann, sobald er die Ahnungslose endlich kommen sieht, verbirgt er sich rasch am Weg: dort ist er ungestört und sieht sie vorübergehen. Er verzagt am Abstand und flüchtet sich in die Welt seiner Träume, dort aber feiert er ungestört sein Fest.

Ist es da nicht verwunderlich, dass die Frauen überhaupt noch mit Nordländern zu tun haben wollen? Ist es nicht reine Selbsterhaltung, wenn sie eine liebelose Welt aufzubauen trachten?

Eins ist jedenfalls gewiss: zu der Liebe bedarf es genau so des Talentes wie zu allen Dingen. Ganze Völker sind unerotisch. Eine ungeheure Anzahl von Einzelnen beider Geschlechter ist es in jedem Volk. Spanier und Italiener kennen im allgemeinen nur Leidenschaft. Die meisten Deutschen verschwimmen, wo sie nicht roh sind, in wertherhafter Sentimentalität. Der Engländer ist mehr als häufig frigid; nirgends in der Welt gibt es so viele mariages blancs wie im Inselreich. Im russischen Leben spielt die Liebe eine minimale Rolle; dort wurde jüngst wissenschaftlich festgestellt, sie sei eine Erfindung des Kapitalismus, kein natürlicher Trieb, sondern eine ideologische Konstruktion, die mit dem Kapitalismus von selbst vergehen werde; indessen müsse eine Liga gegen die Liebe gegründet werden. Im Osten gilt die Liebe so wenig, dass eine Zentrierung des Lebens auf sie, wie in modern-europäischen Romanen, Orientalen unverständlich erscheint. Das hindert aber nicht, dass die Frauen überall auf Erden wesentlich Liebewesen sind; nichts liegt ihnen ursprünglich ferner, als jene Pose der allenfalls freundlich gewährenden, in welche männlicher Idealismus sie hineingezwungen hat. Wie Eva Adam verführte und nicht umgekehrt, so war es von je und so wird es immer sein; es ist allerschlaueste Weiberlist, dass der Augenschein oft das Gegenteil beweist. Nur sind die meisten Männer zu dumm, um sinngemäß mitzuspielen. Daher die unwillkürliche Monopolstellung der wenigen, die jeweils, so oder anders, dem Don-Juan-Typus zugravitieren. Ich kannte einen deutschen Dichter, der sich in vorgerückten Jahren damit vergnügte, mit Mädchen allerbester Kreise den Pietro Aretino zu spielen: so konkurrenzlos war er, dass er nicht nur in seiner Residenz förmlich belagert war, sondern dass ihm die Fama in alle Weltstädte voranlief, so dass er jedesmal nur zuzugreifen brauchte. So weiß ich wieder von einem Russen, dessen erotische Ansteckungskraft so groß war, dass er in Venedig einmal eine phantastisch klingende Wette gewann: er hatte gewettet, dass, wenn er in beliebige ihm unbekannte Häuser ginge, er in einem mir nicht mehr erinnerlichen, jedoch sehr hohen Prozentsatz von Fällen nicht mehr als eine halbe Stunde benötigen würde, um die Frau zu gewinnen.

Bei der Kunst der Liebe handelt es sich allerdings, wie bei jeder Kunst, um ein besonderes Können: um ein selbstverständliches Zusammenschwingen von Körper, Seele und Geist. Insofern ist Frankreichs Liebeskultur mehr als eine Weltanschauungsfrage: sie beruht auf Begabung, Begnadung. Doch wer war je ohne Begnadung vorbildlich? — Hier denn, wenn irgendwo, erweist sich die Bedeutung bestimmender Gefühlskultur. Die Vorherrschaft des Gefühls an sich verhindert von Hause aus, dass Modeströmungen tiefer eindringen, als dem Sinn entspricht; seine Kultur bedingt, dass die verschiedenen Tendenzen innerhalb der Psyche bei aller Bewegtheit im richtigen Verhältnis zueinander bleiben. Es ist ausgeschlossen, dass der moderne Gefühlsschwund lange Ideal bleibe: mit ihm wird das Leben innerlich leer; ebendeshalb sucht die heutige Jugend es äußerlich, als Ersatz, so krampfhaft zu füllen. Es ist ebenso ausgeschlossen, dass ungebildete Gefühle lange Ideal bleiben, wie es die des Chauffeurs sind: denn nur Schönheit schafft Seligkeit. Es ist endlich ausgeschlossen, dass in der Sphäre, auf welche angewandt der Fortschrittsbegriff des Sinns entbehrt, Mode dauernd bestimmend werde. Bald wird es zu einer Restauration der Gefühle kommen. Dann aber wird das traditionelle Frankreich, das den Sinn des Unwandelbaren so tief versteht, und wo dies in Frage steht, unbeirrbar an ihm festhält, das zugleich alles in zeitgemäßer Schönheit darzustellen weiß, unmittelbar als Heilbringer anerkannt werden.

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Frankreich
© 1998- Schule des Rades
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