Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Deutschland

Tüchtigkeit

Wenden wir uns nun dem Ursprung der betrachteten Eigentümlichkeiten zu und beginnen wir dabei mit einer tieferen Fassung der letzten. Sie liegt der landläufigen Vorstellung, dass es zwei Deutschland gebe, Weimar und Potsdam, zugrunde. Es gibt in der Tat die zwei Deutschland, nur handelt es sich dabei um kein Entweder-Oder, sondern um polare Koordinaten. Der Deutsche ist, in der Sprache der Jungschen Schule, als Volk ein objektiver Introvertierter, d. h. in sich gekehrter Denktypus. Dies bedeutet nicht, dass er zur Extraversion, d. h. zur Einstellung auf die Außenwelt, unfähig wäre, wohl aber, dass dies nur mittels seiner minderwertigen Funktionen geschehen kann. Selbstverständlich besagt dieses Urteil nicht, dass der Deutsche hier weniger tüchtig wäre als andere Völker: er ist bekanntlich das tüchtigste Wesen dieser Welt. Es besagt aber, dass seine Tüchtigkeit nicht seinen besten Sinn verkörpert. Hier gilt es denn, ein verhängnisvolles Missverständnis aufzudecken. Der Deutsche sieht allzu leicht in zwei grundverschiedenen Dingen ein und dasselbe. Was den Wert der deutschen Kleinarbeit gegebenen Falles macht, ist nicht Tüchtigkeit: da äußert sich vielmehr die Seelenfülle des mittelalterlichen Handwerkers, der um seiner eigenen Seele willen sein Lebtag an einem der Außenwelt unsichtbaren Kirchenornamente schuf. Auf diese Art Liebe zur Sache hin bedeutet das korrelative Substantiv des Stillen im Lande einen Ehrentitel; und diese Art Liebe zur Sache ist heute noch die eigentliche Seele deutscher Qualitätsarbeit. Aber diese Seele kann verlorengehen; und tut sie dies, so wird nicht eine hochwertige, sondern eine minderwertige Qualität des Deutschen bestimmend: eben seine Tüchtigkeit; das ist die Identifizierung mit der Arbeit an sich. Da ist die Freude an der Kleinarbeit nicht Ausdruck seelischer Ergriffenheit, sondern einfach von Geistmangel; da bedeuten das schrittweise Vorgehen, die dem Geringsten geschenkte Aufmerksamkeit, die Unermüdlichkeit und Unenttäuschbarkeit des Deutschen nichts Besseres, als dass er sich mit einem Minimum von Geist und Seele dem Gesetz der Erde anpasst; da rührt sein Welterfolg daher, dass Trägheit und Routine dem Geist der Erde am besten entsprechen. Man vergesse nie: Der Geist des Esels ist diesem von Hause aus viel angepasster als der des Genies. Ähnliches meinte wohl auch Victor Hugo, als er sein Gedicht von der Weltschöpfung im Verse ausklingen ließ:

Et Dieu et le pourceau immonde
Se regardèrent.

Hat deutsche Tüchtigkeit so phantastischen Erfolg, so kann dies, rein a priori beurteilt, nur daran liegen, dass hier Niederes am Werk ist. Man gedenke hier des über die französische Beschränktheit, den englischen Athletengeist Gesagten, welche beide der Weltherrschaft nicht im Wege stehen: es bedarf grundsätzlich geringer Fähigkeiten, um Erfolg im Sinn der Tüchtigkeit zu haben. So ist diese denn das genaue Gegenteil von Liebe zur Sache im guten Sinn: sie ist ein rein Mechanisches; ihr Inspirator ist geistigen Falles Satan, nicht Gott. Man gedenke nur der Konvergenz dieser Art deutscher Tüchtigkeit mit der amerikanischen efficiency, und man sieht gleich klar. Das Schöpferische, das Geistige, das Seelische, das Metaphysische im Menschen verträgt keine Routine, keine Überarbeit. Wären die Deutschen ein Volk von Armen und Beinen, dann allein hätten sie ein Recht, darauf stolz zu sein, womit sich ihre Mehrheit heute am meisten brüstet. Aber das Wesentliche und Beste des Deutschen liegt gerade auf geistig-seelischem Gebiet. So ist seine Freude an der Arbeit nur dort, so wie er einmal ist, geistig-seelisch bestimmt, wo sie im Geist des Stillen im Lande erfolgt. Legt er den Akzent überhaupt auf Weltgewaltigkeit, so kann er nicht umhin, eine von Hause aus minderwertige Funktion überzubetonen.

Dies vor allem erklärt denn das Schicksal des wilhelminischen Deutschlands. Es bedurfte einer ungeheuren, schier übermenschlichen Anspannung von Energie, um das Volk der Dichter und Denker, das es bewusstermaßen war, in das weltgewaltige von gestern und heute umzuschaffen. Diese Überanstrengung konnte ihrerseits nicht umhin, einen gewaltigen Verlust an Persönlichkeit und Seele einzuleiten; damit die Deutschen wesentlich tüchtig wurden, mussten sie ihr Bestes unterdrücken. Hier liegt die Ursache der von allen, welche zählen, erkannten und betonten Seelenlosigkeit und Maschinenmäßigkeit Neu-Deutschlands. Und diese ist durch die Forderung, dass nun im Massenbetrieb Qualitätsarbeit geleistet werden soll, nicht zu überwinden: deutscher Geist und deutsche Seele sind nun einmal in Form des Amerikanismus noch weniger lebensfähig, wie sie’s in der übertriebenen Preußentums sind; so sind ja auch die Deutsch-Amerikaner von allen Amerikanern die materiellsten. Und nun weiter: wo alles Verstehen der Welt mittels der Persönlichkeit und Seele allein gelingt, so konnte der betrachtete innere Verlust nicht umhin, eine gesteigerte innere Isolierung einzuleiten. Sie wurde denn auch in der wilhelminischen Ära zur historisch bestimmenden Wirklichkeit und führte schließlich zum Kriege gegen alle und zur Niederlage.

Doch dass der Deutsche in seiner jüngsten Periode den Akzent in sich falsch legte, bedeutet, noch einmal, nicht, dass er seine minderwertigen Funktionen überhaupt nicht ausleben soll: er soll nur wissen, dass es sich hier eben um minderwertige handelt. Der kürzeste Weg zum Verständnis dessen, in welcher Einstellung der Deutsche mit allen seinen Fehlern im Kosmos richtig eingestellt erscheint, führt über das Beispiel Kants. Dieser gelangte bei der Beerdigung seiner Schwester, die er sehr liebte, zur plötzlichen Erkenntnis, dass er sie 25 Jahre nicht gesehen hatte, obgleich sie nur einige hundert Meter von ihm wohnte. Dies kam daher, dass beide jeden Tag zur gleichen Zeit spazieren gingen, nur zufällig in entgegengesetzter Richtung. Dies war bei Kant kein Minderwertigkeitsbeweis: die extreme Geregeltheit seines äußeren Lebens war vielmehr die notwendige psychologische Kompensation der inneren Freiheit seines Geists. Gleiches gilt nun von der deutschen Ordnungsliebe überhaupt. Gleiches von seiner Bürgerlichkeit. Bei dieser handelt es sich grundsätzlich nicht, wie bei der französischen, um Rentnerpsychologie, sondern um das äußere Sicherungsbedürfnis des Introvertierten, dessen eigenstes Leben sich in der Innenwelt vollzieht. Insofern ist sogar gegen die deutsche Pedanterie nichts zu sagen. Nur muss der Akzent auf der anderen Seite, der inneren Freiheit, liegen.

Was nun von einzelnen gilt, gilt von der ganzen Nation. Der Makrokosmos dieser spiegelt immer den Mikrokosmos der Einzelseele wider, d. h. innerhalb der Nation herrscht das gleiche Gewichts- und Wertverhältnis zwischen den verschiedenen Typen, wie zwischen den verschiedenen Funktionen innerhalb der einzelnen. Hier wie dort beruht deshalb alle Vollendung darauf, dass auf dem Höchstwertigen der Akzent ruhe, und dass das Minderwertige eine subalterne Rolle spiele, die als solche freilich nützlich, ja ehrwürdig sein kann. So gibt er in Deutschland den Organisations-, den Ordnungs-, den bürgerlichen Typ; er bildet sogar die Mehrheit. Aber selbst im Höchstfall bedeutet er den minderwertigen Teil des Volks, nicht wie bei Engländern und Amerikanern, wo die Introvertierten typischerweise minderwertig sind, den besten. Also darf er nicht bestimmen. Und hier komme man ja nicht mit quantitativ basierten Billigkeitserwägungen: wer wesentlich Unteroffizier ist, will im tiefsten gar nicht mehr sein als dies. Steigt er über seine gottgewollte Stellung hinaus auf, so dokumentiert er dies dadurch, dass er die Lebensganzheit in den Gesichtskreis des Unteroffiziers hinabzieht. Dies war denn in den letzten Jahrzehnten in der deutschen Geschichte in wachsendem Maße der Fall. Und ist es jüngst weniger der Unteroffizier als der Sparkassenbeamte, der zum Reichskanzlerposten für prädestiniert gilt, so ist das kaum ein Vorzug zu heißen.

Doch aus dem Gesagten folgt wiederum nicht, dass, wie dies Deutschlands Feinde so gern hätten, die Tüchtigkeit aufhören und Deutschland zurückfallen soll in jenen romantischen Zustand, den sie von Hoffmanns Erzählungen her für allein echt deutsch halten. Der Tüchtige soll bleiben, nur eben als Arbeitstier ohne Bedeutungsbetonung; als Sicherer der inneren Freiheit. Auch der Ordnungstypus soll bleiben: äußere Freiheit, wie die politischen Nationen, erstrebte der Deutsche aufrichtig nie; seitdem er sie hat, wendet er sie so schlecht als nur möglich an, ja er tut, was er kann, um sie durch neuerfundene Bindungen zu annullieren; er braucht äußere Disziplin, um seiner innerlichen Freiheit die Waage zu halten. Ein Dresdener Buchhändler sagte mir einmal:

Früher, als noch der König da war, da hatte ich, wenn ich vom Geschäft nach Hause ging und in die erleuchteten Fenster des Schlosses sah, das sichere Gefühl: der schafft noch feierabends, was du nicht verstehst. Jetzt fühle ich mich unsicher. Ich brauche einen festsitzenden Rock, um mich wohl in meiner Haut zu fühlen.

Weil Ähnliches von der überwiegenden Mehrzahl aller Deutschen gilt, frommt ihnen Demokratie im englischen Sinne nicht. Kaum waren die früher herrschenden Kasten fort, so setzte die Vorherrschaft auf Geld oder Beziehungen fundierter Minoritäten ein, die, da sie keinen historischen Hintergrund hatten, ihre Macht desto rücksichtsloser betonten. Und damit hörte bei der überwiegenden Sachlichkeit der Mehrheit adelige Gesinnung zu bestimmen auf. Hierher vor allem rührt es, dass Deutschland in allen seinen großen Zeiten, so oder anders, aristokratische Struktur trug: damit edle Gesinnung bestimme, muss bei diesem Kastenvolk eine richtige Kaste von gleichsam von Amts wegen Edelgesinnten den Ton angeben. Man muss wahrscheinlich für alle Zeiten damit rechnen, dass der Sicherungs- und Ordnungstyp in Deutschland die Masse bilden wird; eben insofern nannte ich die Deutschen in Deutschlands wahrer politischer Mission das Bürgervolk par excellence. Aber ebendeshalb wieder frommt Deutschland, soll es in Form sein, Massen- oder auch nur Majoritätsherrschaft nicht. Sie kann hier nicht die volonté générale, die schon Rousseau von der volonté de tous, wohl unterschied, zum, Ausdruck bringen. Alles Wertvolle in Deutschland liegt auf anderer Ebene als die deutsche Tüchtigkeit. Nur muss, noch einmal, diese Funktion eben auch ausgelebt werden. Dass hierzu vor 1870 die Möglichkeit fehlte, ist die psychologische Ursache der späteren Hypertrophie des Mechanismus. Zur Illustration des wahren Verhältnisses zwischen diesem und der deutschen Innerlichkeit sei noch ein besonders lehrreiches Beispiel angeführt. Was bedeutet das deutsche Wandern bei Musik? Dass das rein Innerliche, sogar auf dem Gebiet der freien Kunst, maschinenmäßige äußere Kompensation verlangt. Denn das Wandern ist nicht seinerseits ein Ausdruck geistig-seelischen Erlebens: es ist wesentlich Parademarsch.

Damit wäre denn implizite bestimmt, wer in Deutschland herrschen soll: das ist der Ausnahmetyp, dessen innere Freiheit sich von Natur aus weltgewaltig äußert. Deshalb war Deutschland von jeher das Land der Fürsten und Höfe. Deshalb wird Demokratie, in welchem Verstände immer, seine Bewohner nie auf neue Höhen führen. Wohl ist Deutschland Amerika in einer Hinsicht am wahlverwandtesten: es versteht sich von allen Ländern Europas bei weitem am besten auf Massenorganisation. Aber dieses Deutschland ist dem besten deutschen Geist am fernsten. Mit wahrem Schrecken nehme ich von der wachsenden Idealisierung des Zustandes der Vereinigten Staaten seitens Deutschlands geistiger Führer Kenntnis. Nach dem furchtbaren Zusammenbruch muss selbstverständlich alles geschehen, damit das Volk möglichst bald wieder wirtschaftlich hochkomme. Und da ist die Übernahme amerikanischer Methoden und Zusammenarbeit auf deren Grundlage mit Amerika heute der schnellste Weg. Aber wehe, wehe über Deutschland, wenn es darin ein anderes sieht, als es die vorbereitende Arbeit vor den Freiheitskriegen war. Wehe, wehe über Deutschland, wenn es im Amerikanismus ein Ideal sieht. Und leider gilt dies schon von allzuvielen. Der reinen Sachlichkeit ist ein Ideal grundsätzlich das andere wert, wenn es nur Ideal überhaupt ist. Und da äußert sich das verdrängte Persönliche dann so, dass es seine Liebe kritiklos auf Beliebiges überträgt. Einem nicht unbedeutenden Kunstgelehrten, den ich in meiner Jugend kannte, musste der Maler, mit dem er sich gerade befasste, jeweils der größte sein. Und so kannte ich einen Bakteriologen, der dem Menschenorganismus darob ernstlich gram war, dass die lieben Typhusbazillen die durch sie verursachte Erkrankung in ihm so schlecht überstanden…

Nein, soll ein in seiner Masse introvertiertes Volk in Form sein, dann müssen Typen anderer Einstellung herrschen. Hier erscheint Indien, als Sinnbild betrachtet, für Deutschland vorbildlich. Als höchste Kasten gelten die Brahmanen. Doch nicht sie herrschen in der Welt. Das tun besonders dazu gezüchtete Fürsten, die sogar, auf dass ihre Sonderart sich möglichst auspräge, aller indischen Anschauung zum Trotz, mit Fleisch gefüttert werden. Nun glaube ich gewiss nicht an eine Restauration der deutschen Fürstenherrlichkeit; über diese ist die Entwicklung hinausgeschritten. Doch Äquivalentes wird allerdings Wiedererstehen müssen, soll Deutschland wieder in Form kommen. Die herrschende Schicht darf nicht aus den Gelehrten in weitestem Verstand, sie muss aus ganz anders gearteten, der Masse des Volks gegenüber Fremden rekrutiert werden. Kommt es nicht in spätestens einigen Jahrzehnten zu solch sinngemäßer Restauration, dann wird sich Deutschland zwangsläufig zu einer Karikatur Amerikas auswachsen, zu einer Karikatur, weil wesentlich Kolossales nur in kolossalem Format kein Zerrbild ist.

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Deutschland
© 1998- Schule des Rades
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