Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

England

Anglomanie

Die Eingeborenen der Britischen Inseln sind dem Kontinentaleuropäer vollkommen unverständlich. Dies vor allem erklärt das Phänomen der Anglomanie. Kein Volk liebte je ein anderes als das seine; schon gar nicht um seiner selbst willen. Hier erscheint primitivste Selbstsucht so sehr als einzig möglich, dass das politisch unbefangenste Volk, das italienische, den nationalen Egoismus schlankweg zum Heiligen erklärte. So sehe ich die international erfreulichste Nachkriegserscheinung darin, dass nunmehr jedes Volk sich offen zu sich selbst allein bekennt. Die äußerlichen Nachteile, von denen der sichtbarste darin besteht, dass neuerdings jeder, der Schwyzer Dütsche nicht ausgenommen, daheim auch vor Fremden nur seine Mundart redet, werden überreichlich dadurch aufgewogen, dass die Beziehungen von Volk zu Volk fortan zum erstenmal auf verlässlicher Basis gegründet werden können: Geliebte verrät man gern, sich selber nie. Worauf beruht nun die scheinbare Liebe einer Nation für andere? Wo es sich nicht um jene Liebe handelt, die über den Magen geht, sondern um unverkennbar uninteressierte Neigung und Bewunderung, dort ist die Ursache nie eine andere als die, dass ein Volk sich selbst im anderen im Spiegel sieht, so wie es gerne wäre, genau so wie während des Weltkriegs jeder auf den Gegner sein eigenes schlimmes Unbewusstes übertrug. Die Nichtfranzosen mochten die Franzosen nie als Menschen, trotz aller ihrer nachweisbaren Tugenden. Der deutsche Volksmund beurteilt sie als eitel und oberflächlich, der russische als unaufrichtig und aufgeregt, der spanische als würdelos, der italienische als anmaßend, der englische gar unmittelbar als Affen. Aber Frankreichs magistrature auf dem Gebiet des Geistes und der Lebensform stand gleichwohl zwei volle Jahrhunderte lang nicht in Frage, weil jeder Europäer unwillkürlich in der französischen Synthese von Sinn und Form, von Tiefenverwurzelung und Anmut in der Erscheinung ein absolutes Vorbild sah. So ahmte jeder Gebildetseinwollende, völlig unabhängig von jedem persönlichen Verhältnis zu den Franzosen, um seiner eigenen Vollendung willen Frankreich nach, was dann indirekt dessen Machtstellung zugute kam, meistens sehr zum Erstaunen der anderen, die, weil sie französischen Geist und französische Sprache pflegten, nicht im entferntesten daran dachten, deshalb die Franzosen als höhere Wesen anzuerkennen. Gleiches nun tritt im allerextremsten Grad im Fall der Anglomanie zutage. Nicht um Englands, sondern um seiner selbst willen ist der Kontinentale angloman. Hier ist das absolute Ideal, dem die Verehrung und Nacheiferung gilt, jene englische Selbstbeherrschung, die unwillkürlich Herrenstellung und ausstrahlend Weltherrschaft bedingt. Dass nun aber die englische Werbekraft alle je dagewesenen, dass ich wüßte, übersteigt, liegt am eingangs Gesagten, dass die Briten dem Kontinentaleuropäer vollkommen unverständlich sind. So hindert ihn nichts, sie als reine Ideale und Meditationssymbole zu betrachten. Einem Ideal nun opfert sich jeder gern, er holt nicht bloß die Kastanien dafür aus dem Feuer. Man lässt es auch nie für die Unzulänglichkeiten seiner Verkörperung büßen. So wie die Gläubigen des Bolschewismusideals die tatsächlichen Zustände Russlands überhaupt nicht als Einwand dagegen empfinden, so werden Albion seine Gemeinheiten nie lange nachgetragen. Dass im Nichtverstehen die wichtigste Wurzel der Anglomanie liegt, beweist endgültig die anderen Adepten vorgenommene Gegenprobe. Nie haben Kontinentale, die sich noch so englisch kleiden, noch so viel englisch reden, noch so viel englische Lebensformen affektieren, mit echten Briten auch nur die geringste innere Ähnlichkeit.

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
England
© 1998- Schule des Rades
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