Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Ungarn

Grandseigneur

Doch ehe ich auf Ungarn näher eingehe, sei noch des näheren gezeigt, worin der Vorzug des Aristokraten ungarischer Prägung liegt, das heißt des Grandseigneurs, im Unterschied vom bloßen Gentleman. Dessen Eigenart wird heute kaum mehr verstanden. Eine französische Edelfrau bemerkte einmal anlässlich eines Gesellschaftsromans von Paul Bourget zu mir, dieser hätte trotz eines langen Lebens inmitten des Faubourg St. Germain noch nicht das erste Wort von dessen Geist verstanden, denn er war zu anders: gleiches gilt erst recht von allen deutschen Schriftstellern, von denen ich weiß; es gilt sogar von Nietzsche, so edel dieser war. Er war eben wohl zwar edel, nicht aber vornehm, denn dieser letzte Begriff setzt seinsmäßige Überlegenheit voraus. Als Sein war Nietzsche der typische Spross eines Pastorenmilieus; in ihm lebte eine Sehnsucht nach Größe, die seine Natur persönlich zu erfüllen nicht erlaubte. Und heute gar, wo, wie Börries von Münchhausen einmal meinte, schon der anständige Mensch zwischen allen Stühlen sitzt, fehlt beinahe jeder Sinn für echte Vornehmheit. Denn heute gibt der Schreibende leider den Ton an, unter diesen ist der eigentlich bestimmende der Journalist, und der ist leider in 80 von 100 Fällen subalterner Ressentimentheld. So versteht er eben das, was nur in Funktion der Freiheit positiven Sinn hat, in Funktion der Unfreiheit; und in der Atmosphäre dergestalt verfälschter Begriffe wächst die moderne Jugend auf. Hier trifft wiederum Nietzsche, so rein er persönlich war, eine schwere Schuld: er legte grundsätzlich nahe, hinter edlen Motiven Niedriges zu suchen, und da solch Suchen im Fall der meisten Skribenten zu überreichen Funden führt, so wetteifern diese darin, alles Höhere herabzuziehen. Stünden die Dinge nun so, wie sie in Anbetracht der Machtverhältnisse sollten, dann müsste Gesetz sein, dass nur der seigneurial Gesinnte den Beruf des Journalisten ausüben darf, also nur der vollkommen Generöse und Neidfreie, welchen große Gesichtspunkte allein beherrschen. In diesem Sinne meinte einmal Leopold von Kalckreuth, alle Maler sollten Grafen sein: bei der großen Labilität der Künstleranlage tue das Gyroskop, das jeder echte Aristokrat im Blute trägt, allerdings besonders not. Ebendeshalb waren in Indien, wie Rabindranath Tagore jüngst feststellte, alle Größten nicht Brahmanen, sondern Kschattryas; eben daher stammt die Unvergleichlichkeit von Geistern wie Plato, Montaigne, zuletzt Tolstoi. Wie vollkommen das Tonangeben des schreibenden kleinen Manns alle Wertmaßstäbe verschoben hat, zeigt besonders deutlich die moderne deutsche Literatur. Da wird geradezu der Neiding als höchster Mensch gepriesen. Ein Neiding und nichts anderes ist nämlich der Stille im Lande, der nicht seine eine gottgewollte Aufgabe erfüllt, sich still zu verhalten, sondern statt dessen aus seinen Nöten Tugenden macht, deren Maßstab das Weltall sich zu fügen hat. Er verurteilt von oben herab die Großen dieser Welt, deren Leben nichts als Eitelkeit sei; er sieht Anmaßung in jeder Gebärde, in großmütigem Ausstrahlen Habsucht, in Freiheit Hoffart; jeder Nichtgeringe gilt ihm als minderwertig. Damit hypostasiert er aber einfach sich selbst zum großen Mann, und damit erscheinen alle Werte verkehrt. Seine Zurückhaltung ist nicht Vornehmheit, sondern Anmaßung, seine Selbstbescheidung Ressentiment. Vollends entlarvt ihn sein ekler Exhibitionismus in bezug auf seine Leiden. Freilich leidet der Mensch desto mehr, je sensitiver und tiefer er ist; doch der höhere verweilt nicht dabei. Ihm ist die Tragödie des Daseins Voraussetzung, wie die Spannungen der Saiten es sind für mögliche Musik. An diesem Punkte tritt denn die letzte Unadeligkeit des Ressentiment-Literaten-Ideals am deutlichsten in Erscheinung. Der Edle lässt unter Umständen sein Leben; er steht innerlich über ihm. Ebendeshalb kann er nicht so am Leben leiden, wie dies die moderne Literatur als Zeichen hohen Menschentumes preist. Wenn ich über diese Typen lese, so ergreift mich jedesmal Ekel. Gälten sie als das, was sie sind, als in der Entwicklung Zurückgebliebene, Kranke, Schwache, dann verdienten sie freilich alles Mitgefühl. Doch als Vorbilder … Selten sah eine Zeit die wahren Werte so schief.

Bis auf weiteres ist hier im großen nichts zu machen; wachsende Niedrigkeit des Niveaus der öffentlichen Meinung ist auf lange hinaus ohne Zweifel Schicksal, leider. Und zwar nicht, weil die europäische Menschheit nun rettungslos gemein würde, sondern weil die historische Aufgabe der nächsten Zeit darin besteht, das allgemeine Niveau zu heben. Dies muss zur Folge haben, dass zunächst das bestehende — wo es ein hohes gab, was für Amerika und alle jungen Völker nicht gilt — niedriger wird und eine allgemeine Abreaktion des verdrängten Neids erfolgt. Im großen besser kann es dann erst werden, wenn für das Leben aller die äußeren Bedingungen erschaffen sind, die in jedem Aristokraten, dessen Anlage nicht minderwertig ist, eine schönere Seele zur Entfaltung bringen, als im Plebejer. Andererseits ist aber gerade die Zeit unmittelbar nach Aufpflügung des Ackers die der Saat. Eben jetzt gilt es deshalb, dem Besten den Weg zu bereiten. Zu dem Ende sei noch näher ausgeführt, was das schlechterdings Positive nicht allein, sondern das schlechterdings Mehrwertige des Grandseigneurs macht — das Mehrwertige auch gegenüber dem Gentleman.

Dies geschieht wohl am besten, weil allem Missverstehen nicht Böswilliger vorbeugend, von der Bestimmung seiner physiologischen Grenzen aus. Ohne Zweifel setzt Grenzen des Grandseigneurs auch äußere Ausnahmestellung voraus — und man mag meinen, zu solcher habe keiner ein Recht. Ohne Zweifel entfaltet sich sein Typus bis zu einem gewissen Grade auf Kosten anderer, so wie der Baumriese auf Kosten des Unterholzes erwächst — und man mag den Mann auf der Straße höher werten als den großen Herrn. Ohne Zweifel ist er, als repräsentativer Typ, nach außen zugekehrt, und man mag den erlebenden Stillen im Lande höher stellen als den Weltbeweger. Ohne Zweifel ist der Grandseigneur, als Extravertierter, ferner, im besonderen Sinne innerlich begrenzt. Die Möglichkeit seines Typus steht und fällt mit innerer Distanz zu allen anderen. Daher seine extreme Courtoisie auch gegenüber Nächststehenden; er hat schwer direkten Kontakt von Mensch zu Mensch. Was er denkt und tut, geschieht unwillkürlich in historischer oder sonst auf Fernwirkung gerichteter Intention. Doch bei dieser Struktur, welche Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, gern als schlechthin pathologisch abtun und praktisch ausrotten möchte, handelt es sich um nichts anderes als die Struktur jedes Führers großen Stils, auf welchem Gebiete immer. Jeder Überblick setzt in erster Linie Abstand voraus; nur das Prinzip der Distanz, im Gegensatz zu dem der Intimität, ermöglicht Führertum überhaupt. Ebendeshalb fehlen echte Führer überall, wo Demokratie wörtlich verstanden wird im Sinn der Verständigung aller von Mensch zu Mensch auf einer mittleren Linie, wie in der jüngsten deutschen Politik; kollegiales Zusammenarbeiten tötet dort allein die Initiative nicht, wo extreme innere Distanz die äußere Intimität ausgleicht; so in England. Grundsätzlich gilt überall, was mein Großvater so auszudrücken pflegte: die Zusammenarbeit von mehr als zwei Menschen hat ebensowenig je einen vernünftigen Gedanken zustande gebracht, wie ein Kind gemacht. Auf geistigem Gebiet ist Autokratie allein schöpferisch — nur die Sphäre der Selbstherrschaft bedarf jeweils sinngemäßer Abgrenzung.

Soll nun die Distanz, die den Führer im großen macht, unabhängig vom Zufall der Begabung als historischer Faktor bestehen, dann muss eben äußerliche Distanzierung nachhelfen. Hier liegt der Sinn sowohl der militärischen Hierarchie, wie der höfischen Etikette. Und es ist tatsächlich möglich, hier Äußerlich nachzuhelfen. Tradition kann Begabung in hohem Grad ersetzen. Daher denn die absolute Überlegenheit des Grandseigneurs, der seiner Stellung innerlich gewachsen ist, über alle anderen Typen — Typen, wohlgemerkt, nicht Individuen. Dies gilt in historischem Zusammenhänge sogar dort, wo der Grandseigneur von minderwertiger Substanz, doch sonst hochbegabt ist; dies beweist für alle Zeiten das Sinnbild Talleyrand. Dessen in Blut und historisch-politischem Instinkt verwurzelte, zur organischen Form gewordene Überlegenheit ermöglichte ihm, durch alle Umwälzungen hindurch der Führende zu bleiben. Er war nicht charakterlos, er stand vielmehr über dem, was in beschränkten Verhältnissen den Charakter macht; er verkörperte nichts Geringeres als den Geist der Kontinuität der Geschichte in Person. Ich nannte hier absichtlich den großen Herrn, gegen welchen am leichtesten Einwände haltbar sind; seine sämtlichen Fehler gebe ich zu. Worauf es aber ankommt, ist, dass seine Vorzüge absolute Vorzüge waren; sie bedingten Überlegenheit schlechtweg, weil Überlegenheit über den Menschen als solchen. Der Mensch als solcher ist nun einmal die Voraussetzung alles Sonder-Denkens und -Handelns. Nicht nur von höherer Warte aus betrachtet, nein, vor Gott sehen die Menschen so aus, wie der Grandseigneur sie instinktiv beurteilt. Der Grandseigneur ist eben der Höchstausdruck des Menschen, nicht im Sinn eines bestimmten Könners, sondern als Menschen. Dies wusste die Antike, gleiches die germanische Helden- und Ritterzeit. Und jetzt können wir auch erklären, warum dies trotz der spezifischen Grenzen des seigneurialen Typus gilt; dazu verhilft uns am besten die unvermittelte Gegenüberstellung mit dem Ideal, welches Jesus aufstellte. Warum verherrlichte dieser den Mühseligen und Beladenen, den Geringen und Stillen im Lande? Weil er nur den Insichgekehrten meinte; selbstverständlich, insofern sein Reich nicht von dieser Welt war. Der Insichgekehrte ist tatsächlich nur in Form der Bescheidenheit dem äußeren Leben angepasst; er kann es, seiner Struktur nach, nicht beherrschen. Aber ebendeshalb darf er in dieser Welt auch nicht den Ton angeben. Mag er’s im Jenseits tun — à chacun son tour — in dieser Welt ist er dem Ausstrahlenden unterlegen. Deshalb kann dessen Typus allein das Höchstbild des Menschen überhaupt verkörpern.

Dass der Grandseigneur dies tatsächlich tut, beweist letztgültig die eigentümliche Konvergenz seines Typs mit dem des Weisen. Der letztere sieht die Welt nicht anders wie jener. Nur hat jener den Vorzug, es auch ohne Ausnahmebegabung zu vermögen. Einige Beispiele der Übereinstimmung zwischen absolut-wahrem und typisch-seigneurialem Werturteil: Schopenhauer beschimpfte Hegel, natürlich aus sachlichen Gründen: der Grandseigneur kann in dergleichen nie anderes als Primadonnenstreitigkeiten sehen; es gibt nie einen sachlichen Grund, einen anderen persönlich zu beschimpfen; der Begriff sachliches Pathos, zur Rechtfertigung dieses verwandt, beweist jedesmal übelstes Ressentiment. Ebensowenig hat es je tiefere Gründe, wenn einer anderen Substanz abstreitet. Freilich gibt es eine Rangordnung der Geister; diese bezieht sich auf den Grad der persönlichen und bewussten Verwurzelung in ihrer Substanz sowie ihrer Ausdruckskraft. Aber an sich steht Substanz hinter jedem; an sich ist keine Art der Verwurzelung und keine Erscheinungsform von Verwurzeltheit der anderen überlegen, denn jede hängt von äußerlichen Umständen ab; man kann gleich tief sein bei Zentriertheit in Wille, Seele, Geist, Macht, Schau, bei Zukehrung nach innen oder außen. Solches weiß jeder echte große Herr instinktiv. — Und weiter: im Machtkampf ist dieser so rücksichtslos wie nur irgendeiner; eingestandenermaßen will er unter Umständen seines Gegners Tod. Aber wer nicht den Mut zum erklärten Vernichtungswillen hat und dann doch angreift, den verachtet er, so er nicht in grundsätzlich positivem Zusammenhänge kritisiert, d. h. das Negative, das er sagen muss, durch desto stärkere Betonung des Positiven kompensiert. Sieht ein Gegner dieses Positive nicht oder verschweigt er es, so ist ihm selbstverständlich, dass dieses bösen Willen zur Ursache hat; den Gegner zu ehren, ist das erste Wort der Ritterlichkeit. Andererseits kann der Grandseigneur auch nie so überschätzen, wie dies unter Kleinen Sitte ist. Kein Mensch ist mehr als Mensch; auch den größten beurteilt er auf der Ebene des Allgemein-Menschlichen. Oh, aus der Weisheit seines Blutes weiß er viel. Er weiß auch ohne psychoanalytische Schulung, dass, wer den einen zum Gott erhebt, sich anderen gegenüber desto grenzenloser erdreustend, dabei sich selbst meint. Er weiß, dass es dasselbe bedeutet, ob einer als Schwindler bespottet oder als Klassiker verhimmelt wird: in beiden Fällen ist die eigentliche Absicht Irrealisierung. Er weiß, dass, wenn einer gleichsinnig von allen hochverehrt wird, dies immer nur beweist, dass alle fühlen, dass der Verehrte nicht wirklich über ihnen steht, weshalb sie sich’s leisten können, ihn zu verhimmeln. Er glaubt nur im Fall nachweißlich großer Menschen — nicht großer Geister —, dass nicht persönliche Motive letztinstanzlich entscheiden…

Doch genug der Beispiele. Woher kommt nun dem Grandseigneur seine Gerechtigkeit? Sie ist der Ausdruck seines primären Einzigkeitsbewusstseins. Dies gelangt, wo das Blutserbe gut ist, kraft seiner bloßen Stellung zur Entfaltung. Der Grandseigneur ist ganz selbstverständlich im wahren Sinn bescheiden, d. h. er bescheidet sich bei dem, was er wirklich ist; bei seiner Größe oder Kleinheit, je nachdem. Er kommt niemals auf den Gedanken, sich mit irgend jemand zu vergleichen; so kann, so muss er jeden auf seiner Stufe gelten lassen; Neid zu fühlen, ist er physiologisch unfähig. Denn er weiß, dass sein einzig Wesenhaftes, seine Einzigkeit ihm niemand nehmen kann, dass diese unter allen Umständen unvergleichlich ist. So sieht der Grandseigneur, wo er an der Macht ist, alle Dinge von Hause aus im richtigen Verhältnis zueinander und kann sie deshalb beherrschen und dem Guten zulenken. Und ist er äußerlich machtlos, so kann das äußere Geschehen ihm innerlich nichts anhaben. Wohl muss auch er vieles von dem tun, was kleine Leute machen: auch er muss kämpfen, richten, vernichten. Aber dann tut er es aus persönlichem Gleichgewicht heraus. Wie ein ob seiner Härte vielfach Missverstandener sagte: Je ne connais ni le ressentiment, ni la vengeance, mais je connais l’exécution capitale.

Was ich hier schildere, entspricht tatsächlich dem Idealbilde des Weisen, d. h. des Menschen, in dem der metaphysische Kern das äußere Leben bestimmt: der springende Punkt ist, dass er im Körper der Sonderart des Grandseigneurs allein als Typ verwirklichbar erscheint. Nur bei dieser Gestaltung liegt der Akzent primär auf der Einzigkeit, und in deren Dimension haben alle Werte ohne Ausnahme ihren Ort. Wer sich überhaupt vergleicht, wer in der Relation zu anderen überhaupt Werte sieht, der kann sie, wie schon das Christentum verstand, weder fassen noch verwirklichen. Gewiss gibt es auch ein Überlegensein in Form der Niedrigkeit. Aber die ist als irdisch-mächtige Erscheinung, wie wir sahen, nicht darzustellen und erst recht nicht zu züchten. Mag sich das Allerhöchste vielleicht wirklich, der christlichen Lehre gemäß, am sinngemäßesten in irdischer Knechtsgestalt manifestieren — vielleicht postuliert der reine Geist die Spannung zur äußeren Machtlosigkeit, denn alle Macht auf Erden ist von der Erde — großes Menschentum als Tradition im Rahmen irdischer Ordnung gab es immer nur auf den Höhen des Lebens und wird es bis zum Ende der Zeiten nur auf diesen geben. In beengter Lebensstellung verkrüppelt die Natur; daran ist nichts zu ändern. Überlegenheit setzt Selbstsicherheit voraus, und zu der erwächst ohne äußere Stützung nur die souveränste Seele. Hier ist denn der Ort, das dümmste Vorurteil der Nichtwissenden zu widerlegen: der Aristokrat sei wesentlich heteronom, denn er müsse in erster Linie scheinen. Irgendeinen Rahmen braucht jeder, außer der ganz großen Ausnahme, um sich zu halten. Aber keiner braucht so wenig äußere Stützung wie er. Wird von ihm verlangt, dass er scheine, so liegt der Akzent nicht auf dem Urteil der anderen, sondern darauf, dass er unter allen Umständen von innen heraus bestimmt sein, unter allen Umständen seine rein innerlich bedingte Haltung aus Selbstachtung wahren soll — nicht auf die Tatsache der Anerkennung von Normen kommt es ja an (jedes Ideal ist, objektiviert, ein insofern Äußerliches), sondern darauf, welche Normen gelten. Die Disziplin des Ehrenkodex bedeutet also nicht mehr und auch nichts anderes wie die Disziplin des Soldaten oder des geistlichen Asketen. Tatsächlich ist der Grandseigneur der eine Menschentypus, der an seinem Sein genug hat, der keiner Beweise für seinen Einzigkeitswert bedarf. Ebendeshalb lässt er allein alle anderen selbstverständlich gelten.

Ist es unter diesen Umständen sinngemäß, darob zu grollen, dass es bestimmte Schichten gibt oder vielmehr gab — denn sie sterben überall, außer in Ungarn, bis auf weiteres aus —, in denen der höchste Typ gezüchtet wurde? Ist es nicht vielmehr ein Glück, dass so etwas überhaupt existiert oder existieren kann, als polarisierendes Beispiel für die anderen? Das Ideal wäre gewiss, alle dahin zu bringen, wo bisher nur der privilegierte Aristokrat stand. Wird die Welt einmal so reich und so glücklich organisiert, dass alle unter günstigen Lebensbedingungen aufwachsen, so wird ein großer Teil der bisher herrschenden Niedrigkeit zwangsläufig aussterben; darin hat der historische Materialismus recht. Aber nie können alle seigneurial gesinnt werden, und dies aus zwei Gründen. Erstens hängt solche Gesinnung zu einem sehr großen Teil vom Blutserbe ab; und es gibt auf Erden, leider, schon weil die Edelsten sich opfern oder aufreiben, unverhältnismäßig viel mehr schlechtes als gutes Blut. Dann aber ist der Mensch ein Unterschiedswesen. Wie er nur in Funktion der nicht ausgeglichenen Spannungen seiner Seele persönlich lebendig ist, so ist ein Cosmos humanitatis nur denkbar in der Kontrapunktierung sich ergänzender Typen. Jeder kann auf irgendeine Weise so nur dann sein, wenn andere anders sind. Wo immer dies Gesetz verkannt wird, findet Rückbildung statt. Dies sieht man an der entsetzlichen Standardisierung, die der demokratische Gedanke auf dem ganzen Erdenrund immer mehr hervorbringt; der Mensch wird wirklich immer mehr Fabrikware, wie Schopenhauer den Durchschnitt hieß. Vor allem aber muss es Unterschiede aus zwei Gründen geben: erstens, weil nur deren Existenz die Spannungen schafft, durch die differenzierte Qualitäten entstehen, handele es sich um Führer oder sonstige spezifische Seinstypen. Dann, weil die neidlose Anerkennung von Unterschieden die erste Vorbedingung höheren Menschentums ist, weil sie allein echtes Einzigkeitsbewusstsein schafft. Es ist eben ein radikales Missverständnis, von der Gleichheit auszugehen: der Einzige allein gibt den sinngemäßen Ausgangspunkt ab.

Nun gehört jeder Einzige seinerseits einem Typus an, und die Vergemeinschaftung mit dessen Vertretern hat allerdings Sinn. Daher die innere Wahrheit der Ständeordnung. Sie ist die einzig sinngemäße Ordnung, nur muss sie so dehnbar sein, dass das Vererbungs- und Herkunftsmoment nicht mehr bedeuten, als wie sie sinngemäß bedeuten können. — Mir deucht, diese kurzen Gedankengänge genügen zur Begründung des Existenzrechts eines besonderen Adelstandes. Nur wo sich Herren im Unterschied zu anderen entwickeln konnten, gab es je Herren überhaupt. Dementsprechend waren alle großen Zeiten solche des bestimmenden Grandseigneurs. Keine große Zeit nahm diesen auch je sein unbefangenes Glänzen übel. Heute liegen die Dinge freilich anders. Alfred Fabre-Luce schreibt darüber so prägnant, dass ich am besten seine Worte hersetze:

Dans les sociétés démocratiques, tout l’art des ambitieux est de créer d’abord les sentiments populaires qu’ils seront en suite obligés de suivre. Ils doivent appliquer leur volonté à la dissimuler; nier leurs grands desseins, même quand ils se réalisent, car la franchise romprait cette vague unanimité, qui est la condition de leur réussite; chercher plutôt à favoriser, dans l’interprétation de l’histoire par la nation, les contresens, féconds générateurs de haine et de docilité patriotique. Ils doivent sembler n’avoir pas les intentions des grandes choses qu’ils font. Ainsi toutes leurs actions se trouvent dégradées d’hypocrisie.

In der Tat darf man heute um Gottes willen keinen Rechtstitel zur Macht haben, will man solche ausüben; wer diktatorisch regieren will, darf sich allerhöchstens Generalsekretär betiteln. Und am besten ist, er leugnet jede Bedeutung der Persönlichkeit überhaupt, so wie dies Lenin tat. Letzterer war dabei ohne Zweifel ehrlich. Im allgemeinen gilt das Gegenteil. Je mehr einer in seinen Worten von Einfluss und Wirkung nichts wissen will, desto sicherer ist bei ihm auf Hypertrophie des Machtwillens zu schließen.

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Ungarn
© 1998- Schule des Rades
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