Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Die Schweiz

Kongreßtiere

Ich verglich die heutigen Schweizer, wie sie allein aus der Entfernung sichtbar und für die heutige Welt bedeutsam sind, mit den Juden. Beide Völker sind in der Tat dadurch gekennzeichnet, dass ihr Sosein viel weniger von Rasse und physischer Umwelt bedingt ist, als von den psychischen Umständen, unter denen sie leben. Bei den Juden liegen diese Umstände einerseits in ihnen, andererseits außer ihnen. Innerlich wirkte der geistige Anspruch, das auserwählte Volk zu sein. Die Juden haben den grenzenlos ungünstigen Lebensbedingungen, dem furchtbaren Druck, dem sie in ihrer Mehrzahl beinahe ihre ganze Geschichte lang ausgesetzt waren, widerstanden, weil ihre Religion eine Einstellung verlangte und durchsetzte, die das Sich-selbst-Treu-bleiben und Durchhalten trotz allem zum a priori ihres Volkstums machte. So beharrten sie seit Moses bei ihrem Gesetz und die dazu erforderliche geistige Spannung ist der eigentliche Seinsgrund ihrer ungeheuren Lebenskraft. Hier ist der Geist sogar der eigentliche Seinsgrund der rassischen Eigenart: die Ostjuden sind nur zum Teil Semiten und Exogamie war von jeher häufig genug, vom Einfluss der Umwelt zu schweigen, um die völkische Sonderlichkeit, falls Geist dies nicht verhinderte, zu zerstören. Von außen wiederum wirkte das psychologische Moment der parasitären Stellung der Juden unter den anderen Völkern im gleichen Sinne typisierend. So darf man wirklich sagen, dass die Juden vor allem ein psychisch bedingtes Volk sind. Ebendeshalb entarten sie so leicht, nicht nur moralisch sondern auch physisch, sobald sie ihrem Gesetze untreu werden oder in eine Stellung geraten, der sie nicht angepasst sind. Als konservativstes und gesetzestreuestes aller Völker müssen sie verderben, wenn sie aufhören, im strengen Sinne Juden zu sein. Durch jahrtausendelange Verfolgung typisiert, gleichen sie Chemischen Körpern, die nur unter hohem Atmosphärendruck zustande kommen; hört der Druck auf, so verlieren sie ihre Sonderfähigkeiten und vergehen.

Bei den Schweizern nun liegen die typenbildenden Umstände ganz an den anderen, denn sie haben keine große Idee mehr, die sie vertreten. Sie sind nicht mehr die Pioniere und Protagonisten der europäischen Freiheit. Hier setzt denn das Intim-Tragische ein, von dem ich zu Anfang sprach. Die übrige Welt sieht in den Juden kein auserwähltes Volk, aber diesem Umstand sind diese innerlich angepasst; nur seltene Romantiker unter ihnen versuchen je anderen Völkern gegenüber als Volkheit großzutun. Die Schweizer sind ihrer heutigen Stellung gar nicht angepasst. Sie halten nicht nur nach wie vor auf rührende Weise daran fest, dass das Althergebracht-Eidgenössische vor allem zählt: sie halten sich als Nation und Idee für vorbildlich. In den Augen der gesamten übrigen Welt existieren sie aber heute ausschließlich als Wirtsvolk und Wirtsland im weitesten Verstand, so wie die Juden als Händler; ihres Landes wahre europäische Bedeutung liegt darin, der ideale dritte Ort zu sein. Dass die Schweizer überhaupt für andere und Größere sichtbar leben, verrückt nicht nur für diese den Bedeutungsakzent, es schafft eine schiefe, für die Dauer verbildend wirkende Situation, genau wie die Diskrepanz zwischen dem Selbstgefühl der Juden und dem ihrer Wirtsvölker in jenen häßliche Eigenschaften entwickelt hat. Das Schweizerisch-Völkische erfordert einen so engen Rahmen, dass jede Erweiterung desselben, schon gar jedes Heraustreten aus ihm, das Positive des Urbilds zerstört. Das gute Schweizertum ist unentrinnbar schollegebunden. So wirkt der von der Scholle so oder anders Losgelöste zwangsläufig unerfreulich. Gelangen Schweizer oft nicht nur als Gastwirte, Pastoren, Erzieher und Ärzte, sondern auch als Präsidenten, Weltsekretäre, Kontrolleure und Schiedsrichter zu europäischer Bedeutung und zu Ansehen, so liegt dies daran, dass es sich bei den genannten Ämtern um bestimmte Funktionen handelt, für welche zufällig ein Volksstamm besonders geeignet scheint. So stellt die Schweiz wohl auch den größten Prozentsatz geborener Kongreßtiere.

Doch hier muss ich das über die schweizerische Nicht-Angepasstheit Gesagte gleich erstmalig einschränken: die am besten, weil seit längster Zeit typisierten Schweizer (das Wort immer europäisch, nicht eidgenössisch verstanden), also die Gastwirte im weitesten Verstand, die Pastoren, Erzieher und Ärzte wissen meist, dass ihre moderne Rolle eben auf der Funktion, nicht der Nation beruht, die gewissermaßen ihre Privatsache ist. Die sind entsprechend innerlich frei; die sind ein unbedingt wertvoller Bestandteil der europäischen Gesellschaft. Hans Badrutt vom Palace-Hotel in St. Moritz z. B. rechne ich direkt zu den zählenden Persönlichkeiten dieser Zeit. Desgleichen sind viele Schweizer Ärzte, Erzieher, Geistliche von internationalem Ruf im besten Sinne Europäer. Gewiss entsprechen sie keinem aristokratischen Ideal und sind deshalb, da dieses das absolut Höhere ist, den guten Europäern aus anderen Ländern seelisch dort allein ebenbürtig, wo das spezifisch Schweizerische überwunden scheint; aber sie sind ebensogut, wie die besten bodenständigen (nicht europäisierten) Amerikaner, deren Typus ja auch ein bäuerischer und provinzlerischer ist. Auch die sich in Wohltätigkeit, also im Geist des Roten Kreuzes auslebenden Schweizer wären hier zu nennen, wenn es sich nicht dabei um besondere Berufung, wie bei Ordensleuten, handelte, die unter allen Völkern vorkommt und in der Schweiz nicht häufiger als anderswo. Endlich seien die nachgeborenen echten Schweizer Aristokraten nicht vergessen, denen die Schweiz, so sie nicht unvorsichtig sind, ein Asyl bietet, wie anderen Ausländern auch, und in denen gelegentlich der echteste humanistische Geist, der in Europa überhaupt anzutreffen ist, fortlebt. Man vergesse nicht, dass die Schweiz bis zu Napoleon aus Adelsrepubliken bestand, was zu nicht unbeträchtlichem Teil das Anti-Aristokratische der heute herrschenden Mehrheit erklärt… Doch zurück zum allgemeinen Problem. Bei der Mehrheit der gebildeten Schweizer fehlt, im Unterschied von den Juden, die psychische Anpassung vollkommen. Dies ist denn der Grund, warum dem weithin sichtbaren, in weiteren Verhältnissen wirkenden Schweizer als nationalem Typus jede Stellung unter den anderen Völkern fehlt. Dabei gibt es aber kaum einen Fremden, der die öffentlichen Einrichtungen der Schweiz nicht als vorzüglich, wenn nicht als vorbildlich anerkennte, der zur Erholung und zur Kur nicht besonders gern in diesem schönen Lande weilte. Wie sollte die Diskrepanz zwischen dem, als was sie sich und anderen erscheinen, zumal wo sie unbewusst bleibt, in den Seelen der Schweizer nicht zu bedauerlichen Veränderungen führen?

Das vollends Tragische ist nun, dass sich besagte Diskrepanz in der neuentstehenden Welt zwangsläufig verschärfen muss. Unter den Besten der schweizerischen Jugend wird eine Renaissance des echt helvetischen Geistes erstrebt. Aber wie soll der in den heutigen so weit gewordenen Verhältnissen weiter- oder auch nur aufleben? Ist ein Volk einmal auf bestimmte Weise in die Umwelt eingefügt, und ist die Umwelt mächtiger als es selbst, dann ergeht es ihm nicht anders wie dem Einzelnen: es passt sich nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich an. Es ist ausgeschlossen, dass der Geist der Rütlizeit, des Fähnleins der sieben Aufrechten und noch weniger des altschweizerischen Patriziertums außerhalb intimster Kreise herrschend bliebe oder neu bestimmend würde. In der neuen Welt müssen die Schweizer immer mehr ein reines Wirtsvolk werden, sofern sie ihre Selbständigkeit behalten wollen; Fremdenindustrie im weitesten Verstand ist da ihr gottgewollter Beruf. Das kleine Land als solches, das dank besonderen Umständen das Bild eines mittelalterlichen Freistaats in die Moderne hinüberrettete, wird im inniger zusammenhängenden Europa unmöglich mehr bedeuten können, als eine besonders gut verwaltete Stadt, in der unter Umständen besonders tüchtige Spezialisten wohnen. Wahrscheinlich wird sie weniger bedeuten, weil es ihr immer schwerer fallen wird, als internationaler Mittelpunkt, den sie darstellt, einen wirklich eigenen, weil ursprünglichen Geist zu entwickeln. Denn noch einmal: der Rütligeist ist in weitere Verhältnisse nicht exportfähig. Überdies ist das Weite dem Engen an suggestiver Kraft absolut überlegen; es gab noch keinen Fall, wo ein Dorf seinen Geist auf eine Großstadt übertrug. Wie soll z. B. Genf ein anderes Schicksal blühen, als ein riesenhaftes Organisations- und Stellenvermittlungsbüro zu werden? Wie soll Berufung auf Genfs große theokratische Vergangenheit bei heutigen Genfern nicht fortschreitend lächerlich wirken? Wie soll das unaufhaltsam wachsende und sich internationalisierende Zürich nicht bald für sich den althergebrachten Schweizer Zustand sprengen? Wie soll das, was innerhalb des Kantönli geschieht, noch je überlokale Bedeutung gewinnen? Der ursprüngliche nationale Typus des Schweizers muss immer mehr dem rein funktionellen weichen, zumal die neue Situation die Zufuhr fremden Bluts zwangsläufig noch steigern wird — schon heute ist sie groß — und natürlich immer mehr solche sich als Schweizer naturalisieren lassen werden, denen die Schweizer Situation und Mentalität von Hause aus entspricht.

Nicht unähnlich, noch einmal, ist der Judentypus entstanden. Und bedenkt man, dass auch der Jude vorwiegend unangenehme Eigenschaften hat, so versteht man leicht, warum gleiches in so hohem Grade von den Schweizern gilt. Ein außerordentliches Ressentiment herrscht unter ihnen gegen alle innerlich Freieren, als sie es sind. Nur ist es, wenn ich mich nicht sehr irre, noch größer als das bekannte jüdische Ressentiment. Bei den Juden ist alle Rückbesinnung auf einstige Größe schließlich Romantik; zu lange ist sie vorüber, und dann war die nationale Größe nie weit her. Die orthodoxe Lehre sagt ja geradeheraus, dass Gott die Juden ob ihrer Schlechtigkeit willen auserwählt hat, um eben dank ihrer die erforderliche Unendlichkeitsspannung herzustellen zwischen Gott und Mensch. Die Schweizer können tatsächlich auf eine große Geschichte zurückblicken. Ferner sind sie heute wirklich politisch und sozial nicht allein, sondern auch moralisch (im Sinn des französischen le moral) in besserem Gleichgewicht als manche anderen Völker. Und nun fühlen sie, dass sie in der modernen Welt keine irgendwie bedeutsame Rolle spielen noch spielen können. Sie fühlen, aber können nicht verstehen.

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Die Schweiz
© 1998- Schule des Rades
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