Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Die Niederlande

Puritanismus

Holland ist interessant vor allem wegen der ihm wesentlichen Spannung zwischen ungeschlachter Natur und feiner Kultur. Diese Spannung verkörpert sich natürlich auch in den Gewohnheiten der verschiedenen Volksschichten. Wie alle Fremden wusste ich, bevor ich die besten Kulturträger kennenlernte, nur vom materiellen fetten Typus. Im Volk spielt dieser allerdings eine große Rolle, und ebenso im Adel. Bei den Gebildeten nun fiel mir, im Gegensatz dazu, an erster Stelle auf, wie wenig sie essen und zu essen geben; zu Mittag allenfalls soviel, wie man in nordischen Ländern zum ersten Frühstück bekommt; und abends auch sehr wenig. Da erfuhr ich, dass die Seehelden Ruyter und Tromp nur einmal die Woche Fleisch zu essen pflegten, überhaupt nahezu asketisch lebten. Und nun begriff ich den Sinn der niederländischen Stilleben — in Holland ist dieses Genre ja wohl erfunden worden: es wurde im Bilde gezeigt, was in natura vorenthalten blieb…

Damit gelange ich denn zum holländischen Puritanismus. Das Zeitalter eines produktiven Puritanismus ist überall auf Erden um. Nirgends mehr wird er von großem Glauben getragen, noch kann er es sein, denn erweitertes und vertieftes Wissen um die Zusammenhänge hat uns, grundsätzlich betrachtet, die Unbefangenheit wiedergegeben, die im Westen zuletzt das antike Heidentum besaß. So beruht die Herrschaft des Puritanismus, wo sie noch statthat, entweder auf bewusster Heuchelei, oder auf unbewusster, oder auf Erstarrtheit oder endlich auf Verkrampftheit. In Amerika, wo er noch krampfhaft hervortritt, trägt er alle Anzeichen der Primitivierung, die jede psychologische Funktion erleidet, die ihren Sinn im Zusammenhang verlor; um den Moralismus und Fundamentalismus amerikanischer Provinzstädte zu verstehen, muss man bedenken, dass die Tatsächlichkeit des Lebens der Jüngsten dem entspricht, was Judge Lindsay in The revolt of modern youth geschildert hat. (Deutsch bei der Deutschen Verlags-Anstalt, Stuttgart.) In England, bei der glücklichen Anlage dieser Nation, lebt er eigentlich nur noch in äußerlichen Konventionen fort, die niemand wirklich stören. In Holland liegen die Dinge, der Naturanlage entsprechend, grotesk — grotesk, so wie die Gestalten holländischer Maler grotesk sind. In einem Lande so schwerfälliger Natur und so alter Kultur wie Holland sind erstens Erstarrte extremster Art natürlich besonders häufig und die verhalten sich dann zu sonstigen Erstarrten, wie ein Mastodon zu einem Kolibri. In einem Lande so großer Gegensätzlichkeit von Natur und Geist kommen auch Verkrampfte besonders zahlreich vor — vielleicht wenige nicht geistlose Holländer sind nicht analytische Fälle — und deren Abreaktionen evozieren dann ohne weiteres das Sinnbild des Klabautermanns. Die meisten männlichen Holländer heucheln als Puritaner. Hierzu gibt die Praxis der Steuerbehörde das beste Sinnbild ab: alles sichtbare Silber, was in einer Vitrine steht, wird versteuert; ist aber eine Gardine vorgezogen, so bleibt es steuerfrei: ich kenne keine sinnigere Nutzanwendung der Feigenblattidee. Nein, die holländischen Männer sind, bis auf seltene Ausnahmen, als Puritaner nicht mehr ernst zu nehmen. Desto ernster steht es, demgegenüber, noch heute mit dem Puritanismus der holländischen Frau. Ihre Reizarmut legte ihrem Instinkt eine Weltanschauung nahe, welche die Not zur Tugend erhob. Dieselben Motive, aus denen heraus jede niederländische Kultur eine solche der Häßlichkeit werden musste, erklären, warum die Niederlande eine ursprüngliche Kultur der Liebe nur in Form der Ausschweifung gekannt haben. Trunkenheit und scheußliche Weiber gehören ästhetisch ja zusammen. Allein Orgien waren niemals Sache der Bürgersfrau. Selbst die Regentinnen, die Frans Hals’ Pinsel verewigte, lassen nicht das leiseste Verständnis für die charmes de l’ivresse vermuten. So ist denn das holländische Frauenleben, im großen und ganzen betrachtet, im allerentsetzlichsten Sinne reine Pflichterfüllung. Pflichterfüllung gegenüber der Gattung, gegenüber dem Besitz, gegenüber der Gesellschaft. Ein Holländer, Adriaan van der Priel, der es wohl wissen muss, schrieb jüngst, der eine und einzige Zweck holländischen Frauenlebens sei Mutterschaft und Muttertum. Und weiter:

Von einer Krise der Weiblichkeit, wie eine solche etwa von Gertrud Bäumer in ihrer Schrift: Die Frau in der Krisis der Kultur festgestellt wird, ist in Holland nicht die Rede, wird nie die Rede sein. Es gibt eine Krisis der Generationen, in Holland so gut wie überall. Aber der Roman Die Frauen der Coornvelts von Jo van Ammers-Küller zeichnet zwar aufständige Frauen in Scharen, doch der Aufstand richtet sich nur gegen die von der Konvention, nicht gegen die von der Persönlichkeit gezogenen Grenzen. Die Holländerin besitzt in ihrer Natur, nämlich im rein Körperlichen und Nervenmäßigen, ein Schwergewicht, dem sie gar nicht untreu zu werden vermag; sie ist denkbar weit entfernt von der Schweifelust der Slawin oder vom erotischen Spieltrieb der Gallierin, womit nicht gesagt sein soll, dass sie aus Überlegung die tugendhaftere wäre — gegenüber den genannten beiden Typen hat sie die größere seelische Massivität voraus, was, negativ gewertet, vielleicht einem Mangel an weiblicher Genialität gleichkommt, was sie eben aber doch ganz weit von der Bohème abrückt und ihr in jedem Fall einen bürgerlich gefahrlosen Lebenslauf gewährleistet. Sie beherrscht der Trieb zur Sicherung im weitesten Sinn. Sie will die Sicherung ihrer selbst, ihres Mannes; der Nachkommenschaft. Sie wird als Frau oder als Geliebte den Mann nie zu wagehalsigen Unternehmungen anstacheln, und wenn derselbe einen kühnen Schachzug plant, wird sie diesen nur billigen, wenn dessen Endziel einen Zuwachs an Lebenssicherung einbegreift. Sie hat keinen Sinn für das Außerordentliche schlechthin, und so fungiert sie im Mannesleben zweifellos als gesunde Hemmung, oder sie würde als solche fungieren, wenn es dem holländischen Mann auf irgendwie Unerhörtes ankäme. Aber sie ergänzen sich, der Mann und die Frau; sie sind beide Pflichtmenschen. Achtbarkeit und Würde sind kardinale Begriffe, der Hochmut gegen Entgleiste kann harte, ja grausame Formen annehmen. Die Gesellschaft mag sich in Holland wohl sozialpolitisch umkrempeln, aber sie kann sich nie, wie in Russland, geschlechtsmoralisch erschüttern. Und dies wesentlich dank der gesunden, nur nach ganz positiven Dingen sehnsüchtigen holländischen Frau. — Ihr Anteil am konstituierenden Leben der Nation ist dementsprechend ungemein groß. Die Wirkung wird nach außen hin nur wenig sichtbar. In der Kammer sitzen bloß drei weibliche Abgeordnete. Aber durch alle Verhältnisse zieht stark und spürbar jener weibliche Einfluss hindurch, der hier nicht wie in Frankreich der beherrschende, nicht wie in Russland der anfeuernde ist, sondern sich als höchst phrasenloses, mütterliches Mithelfen, Mitstreben auswirkt. Die Literatur der Frauen hat nichts Revolutionäres, aber sie ist quantitativ beträchtlich. Nach der Ziffer der Landeseinwohner berechnet, besitzt Holland wahrscheinlich mehr Dichterinnen, Romanschriftstellerinnen, Sozial- und Kunstkritikerinnen als Deutschland. Am Gericht haben sich eine Anzahl weiblicher Rechtsanwälte etabliert, die Kinder- und Krankenfürsorge, die Friedensbewegung, die Jugendgymnastik sind getragen von der nüchternen, der mütterlichen Begeisterung der Frau. Wie die Männer der bürgerlichen Schicht beherrschen die Frauen mindestens drei Sprachen, und die Korrespondenz mit Anverwandten über See macht sie mit literarischen Neuerscheinungen in Italien oder Nordamerika früher vertraut, als dies bei ihren Schwestern in Deutschland oder Frankreich der Fall ist. Aber auch die aufregendsten Detektivgeschichten werden hier ohne affektive Beteiligung gelesen. Dostojewsky oder Pirandello werden zur Kenntnis, nicht zu romantischen Leitsternen genommen; man lässt sich nicht umwerfen; man bleibt unerschüttert in sich verankert; man bleibt Holländerin, man bleibt eine bereits erfüllte oder zukünftige Mutter.

Das alles ist so gesund wie nur irgend möglich. Aber es ist entsetzlich. Es gibt dem Gesamtleben einen Grundton von Philiströsität, Banalität und Banausentum. In Holland fehlt ja — Ausnahmen gibt es gewiss auch dort, doch kein Land kennt seltenere Ausnahmen — das wesentlich freie sweet girl, welches die an sich ähnliche Moralitätskultur des englischen Mittelstandes letztlich nur umhegt; Holland hat kein adliges Nationalideal. Dort ist das Biedere Sinn und Ziel an sich. So kann dort der Geist des Puritanismus, nachdem er als heroisches oder sonst beschleunigendes Motiv überall auf Erden ausgespielt, in der vollendeten Sicherung weiblicher Inkarnation — denn Frauen rottete noch keiner aus — in Holland noch Jahrtausende entlang ein unerschütterbares Philisterdasein führen. Der holländischnationale Frauentyp wird wohl der irdische Endausdruck dessen sein, was einst dem islamitischen Eroberer an herber Größe glich.

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Die Niederlande
© 1998- Schule des Rades
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