Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Der Balkan

Zukunft der Türkei

Wie steht es unter diesen Umständen mit der möglichen Zukunft der Türkei? Und was kann der Türke in der neuentstehenden Welt bedeuten? Die nationale Zukunft scheint mir deutlich vorgezeichnet. Als wesentlich nomadisches Herrenvolk können sie, wo sie keine anderen Völker beherrschen, nur ein kleines Reich haben, wo sie unter sich sind. Dieses erwächst denn jetzt auch auf gesundest denkbarer Grundlage. Man lasse sich nicht beirren durch manche unerfreuliche Zustände in Konstantinopel und Angora, Demoralisation der Frauen, übertriebenen Alkoholgenuss — das sind selbstverständliche Reaktionen auf über ein Jahrtausend der Enthaltsamkeit. Die Zukunft der Türken verkörpern einzig und allein die Enkel heutiger kleinasiatischer Bauern, und für deren Erwachsen unter günstigeren Bedingungen, als sie die Väter kannten, wird gut gesorgt. Ebenso klar ist, dass die Türkei sich, ungeachtet eines vielleicht vorhandenen Begabungsmangels für Technik und Industrie (vielleicht: der türkische Chauffeur ist bei weitem der beste der Welt!), soweit als erforderlich modernisieren wird. An der Spitze der modernen Welt wird sie gewiss nie stehen; das ist nie jedem möglich. Wohl aber passt sich auf die Dauer jeder den Erfordernissen des Zeitgeists überhaupt an. Und wo dies die herrschende Klasse nicht kann, da müssen eben Fremdstämmige zugelassen werden. Wie die Rumänen ihre Juden haben müssen, so werden auch die Türken ohne Zweifel so viele fremde Ingenieure usw. auf die Dauer zwangsläufig zulassen, als ihr Interesse verlangt. — Gerät einmal die islamische Welt in Bewegung, so ist weiter klar, dass die Türkei wieder führen wird. Es gibt kein islamisches Volk, das den Türken an Führer- und Herrschereigenschaften gleichkäme. Doch diese Möglichkeit geht uns in diesem Zusammenhang nichts an. Was kann die neue Türkei Europa bedeuten?

Nun, sie kann freilich sehr viel bedeuten. Zunächst zur Frage, ob sie überhaupt eine europäische Rolle spielen wird: das wird sie ganz selbstverständlich, je mehr die Bevölkerung des einstigen oströmischen Reichs aufs neue als Subjekt, nicht Objekt, am Leben des Mittelmeerbeckens teilnimmt. Diese Neu-Teilnahme ist gewiss. Und da gehören die Türken, seit 1300 ortsansässig, mit hinzu, weit mehr als zu Asien. — Also am Leben des neuen Europa überhaupt wird die Türkei jedenfalls aktiv teilnehmen. Aber was kann ihre Sonderrolle werden? Nun, sie könnte, denn sie sollte eben die sein, die sie immer spielte, nur jetzt auf der Basis der Gleichberechtigung aller Völker, nicht zu deren Bedrückung. Damit gelange ich denn zum repräsentativsten allgemeinen Balkanproblem, dem physiologischen Demokratismus. Die Struktur aller Balkanvölker ist insofern demokratisch, als die Masse nirgends in der Identifikation mit der Blüte der Nation sich selber auslebt. Sie stellt insofern den genauen Kontrapunkt zur ungarischen dar. Jeder fühlt sich dem anderen ursprünglich gleich; gab und gibt es je Adelsherrschaft, so wird sie als Fremdherrschaft empfunden. Der Demokratismus ist nun der verschiedensten Gestaltungen fähig. Es kann der Proletarier den Polarisator abgeben — dann ersteht das häßliche Bild des heutigen Russland. Oder aber alle, an Bedrückung gewöhnt, ohne Würdegefühl, sind gleich familiär und arrogant: so war bisher der Grieche. Oder aber alle fühlen sich letztlich gleich als Wegelagerer: da ist Kultur ausgeschlossen: soviel gilt bis auf weiteres von den Bulgaren. Die Türken nun sind die extremsten Gleichheitsgläubigen, die es je gab, aber zugleich die extremsten Gentleman. Sollte es da nicht ihre Aufgabe werden, eben den Geist, den der Bolschewismus auf Proletarierbasis verkörpert, der Fascismus auf der der Jugend in den Flegeljahren — diesen Geist, der nun einmal der bestimmende der nächsten Zukunft ist — auf der Ebene des Gentleman vorzuleben? Mir scheinen die Türken hierzu recht eigentlich vorherbestimmt. Überall sind die Privilegien der vornehm Geborenen für immer hin: unter den Türken mehr noch als unter den Briten ist Vornehmheit selbstverständliche Forderung für jedermann. So droht dort weniger als irgendwo sonst die Grundgefahr der Demokratie: Neid als entscheidende Macht. Eben deshalb lassen die Türken sich gern von wirklich Besseren führen. Und diese wirklich Besseren zu finden, dazu verhilft ihnen wiederum ihre außerordentliche angeborene Menschenkenntnis: so können sie leichter als andere dahin gelangen, das Problem sinngemäßer Hierarchie zu lösen. Endlich sind sie noch heute wesentlich Krieger und insofern hart; ihnen fehlt jede Sentimentalität. So werden sie unbefangener als manches andere Volk ins neue eherne Zeitalter eintreten.1… Die neue Türkei kann in der Tat eine große europäische Aufgabe haben. Wer das nicht glaubt, der vergisst zweierlei: erstens dass Südosteuropa, welches schon mehrfach vorherrschte, sehr leicht wieder zu einer wichtigsten Region erwachsen kann. Zweitens und vor allem, dass das Vorkriegsprestige des Europäers und Christen hin ist.

1Kurz vor Drucklegung dieser fünften Auflage lernte ich die Schriften der türkischen Patriotin Halidé Edib, die zur Zeit aus ihrer Heimat verbannt lebt, kennen. Wer sich ein Bild von der wahren Türkei in ihrem besten Aspekte machen will, der lese ihre drei Bücher Turkey Faces West (Oxford University Press), The Turkish Ordeal und Memoirs of Halidé Edib (New York und London, The Century Co.). Sie atmen überdies den Geist der heroischsten und überlegensten Frau, von der ich unter Lebenden weiß. Zumal das erste und dritte unter den genannten Büchern sollte bald auch deutschen Lesern zugänglich werden.
Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Der Balkan
© 1998- Schule des Rades
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