Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Über den Unsterblichkeitsglauben überhaupt

Wesen und Erscheinung

Ich nannte die mystische Weltanschauung die einzige, welche den Unsterblichkeitsgedanken auf rationelle Weise zu begründen wüßte: aber ist sie es nicht gerade, die vom Glauben an persönliche Fortdauer am Weitesten abführt? — Auf die Unterschiede in der konkreten Ausgestaltung kommt es hier nicht an: aller Mystik ist die Scheidung von Wesen und Erscheinung gemeinsam, und Erscheinung ist ihr auch die Individualität. Die Einzelseele ist Strahl der göttlichen Sonne, ein Atom der Gottheit, die überall Eine und unteilbar ist. Der Mensch, der von der Erscheinung in sein Innerstes einkehrt, wird zu Gott; Ich und Gott, Brâhman und Atman verschmelzen. Deshalb sind alle Menschen untereinander, ja alle Dinge dieser Welt wesenseins: tat twam asi, das bist du, lehrt der indische Weise seinen Schüler von jedem Gegenstande der Natur. Wenn aber alles eines Wesens ist — was bedeuten dann die Grenzen der Individualität, wozu auf deren persönliche Fortdauer Gewicht legen? — Wohl haben sich zumal christliche Mystiker eine solche auszumalen gesucht: da Gott ihnen Person war, sollte die in Gott eingegangene Seele gleichfalls persönlich fortleben. Doch musste diese Vorstellung dunkel und undeutlich bleiben, denn zwischen der endlichen Person und der unendlichen Persönlichkeit Gottes gibt es keine mögliche Vermittelung, und das Bewusstsein des zeitlichen Menschen kann im grenzenlosen Bewusstsein der Gottheit schwer bestehen bleiben. Deshalb enden alle Mystiker, ob sie wollen oder nicht, zuletzt bei einer unpersönlichen Eschatologie. Die persischen Sûfis, gleich den Gnostikern, lehren, dass die aus Gott strahlengleich emanierte Seele von Gott wieder absorbiert werde; dem Brâhmanen geht das von allen irdischen Attributen befreite Selbst in den Frieden ewiger Bewusstlosigkeit ein; und die furchtbare Konsequenz des Buddhismus identifiziert die Weltseele mit dem Nichts. Die Individualität ist aller Mystik Erscheinung, Schranke, Irrtum oder Leiden.

Worauf bezieht sich denn der Unsterblichkeitsgedanke der Mystik? — Er bezieht sich unmittelbar auf das Wesen der Welt, auf den Urgrund der Dinge, das Prinzip alles Lebens. Kühn überfliegt sie alles Menschliche; sie landet auf kosmischen Höhen. Wohl war nicht jede Mystik so unfassbar und unanschaulich, wie die des überabstrakten Indien: Platos Ideen, die Archetypen der Dinge, sind plastische Gestalten; Schopenhauers Wille ist kein abstraktes Prinzip; und wenn die Biometaphysik nur der Entelechie Unsterblichkeit zuerkennt, in den Individuen bloß augenblickliche Etappen — im unaufhaltsamen zeitlichen Fortschritt der Form erblicken will, so ist diese mystische Lehre beinahe greifbar deutlich. Aber auch ist sie Mystik; sie ist es dem Gehalt, wenngleich nicht der Stimmung nach. Sie besagt prinzipiell das Gleiche, wie die schwülste orientalische Theosophie: dass nämlich das Ewige jenseits der Erscheinung liegt, und dass alles Persönliche in die phänomenale Welt gehört.

So scheint denn der Unsterblichkeitsgedanke in seiner äußersten, vollendetsten Gestalt sich selbst zu vernichten. Die Sehnsucht der Person nach Ewigkeit mag ihn ins Leben gerufen haben. Nun ist sie dem begeisterten Blicke greifbar nahe. Doch weiß die ersehnte Ewigkeit von der sehnenden Person nichts mehr.

Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME