Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Über den Unsterblichkeitsglauben überhaupt

Jenseitsglaube

Zur Ehre der Menschheit sei es gesagt: nicht jedes Volk hat mit dem Jenseits einen Handelsvertrag abgeschlossen; die Verquickung des Unsterblichkeits- mit dem Vergeltungsgedanken ist keine allgemeine. Irgendwann trifft man sie zwar bei jeder Religion: dafür pflegten schon die Priester zu sorgen, deren politischem Blick die ungeheure Wirksamkeit der Hölle als eines Mittels, die Menge auf Erden nach Wunsch zu regieren, nicht entging. So glaubten sogar die Inder zeitweilig (in ihrem frühesten Stadium und dann wieder zur Zeit ihrer Dekadenz) an eine Hölle — eine Vorstellung, die zu ihrer sonstigen Mythologie in keinem Sinne passte. Auch abgesehen von den Priestern mochte sich die genannte Assoziation überall dort einstellen, wo der Unsterblichkeitsglaube mit dem Gefühl erlittenen Unrechts zusammentraf: der Sinn für moralische Symmetrie führt leicht genug zu der Ideenverbindung. Doch steht der Unsterblichkeitsglaube als solcher in keinem organischen Zusammenhang mit dem Vergeltungsgedanken; letzterer bedeutet in der Regel eine späte Zutat zum längst schon abgeschlossenen Jenseitsmythos1. Nur von den Juden, diesen Virtuosen des ressentiment’s, darf man vielleicht behaupten, dass ihr Unsterblichkeitsgedanke dem Vergeltungswunsch entsprungen wäre2. Beim Christentum hingen beide Ideen ursprünglich lose zusammen, die Gerechtigkeit trat im Verhältnis zur Gnade in den Hintergrund. Wenn dies heute anders scheint, wenn die meisten Christen unfähig sind, die Vorstellungen vom Jenseits und von einer Vergeltung auseinanderzuhalten, so ist das die Folge fortwirkenden jüdisch-mittelalterlichen Obskurantentums.

Im Anfang scheinen alle Eschatologien, deren geschichtliche Entwicklung wir übersehen können, von Sühne nichts gewusst zu haben. Das hebräische Scheol war neutral, ebensowohl wie der griechische Hades. Erst spät spaltete sich jenes in Himmel und Gehenna, dieser in Tartaros und Elysium. Und nach ostasiatischer Vorstellung leben die Seelen der Toten unbehelligt genau als dieselben fort, die sie bei Lebzeiten waren: als gute oder böse Geister, je nach ihrer irdischen Eigenart. Überall ist der Jenseitsglaube unabhängig von der Moral entstanden. Geblieben ist er’s freilich nur selten, und dies zwar nur bei den entgegengesetzten Extremen: den kraß unmetaphysischen und den metaphysisch höchstbeanlagten Völkern; so den Chinesen und den Indern.

Wir sind leider geneigt, in der Moralisierung des Jenseits einen Fortschritt zu sehen. Politisch gesprochen ist sie dies sicher, aber die Politik bezeichnet den genauen Gegensatz der Metaphysik. Wenn es den Menschen noch so heilsam ist, an eine ewige Gerechtigkeit zu glauben, so ändert das doch nichts an der Tatsache, dass die Vergeltung zeitlicher Vergehen durch ewige Strafen dem elementarsten Gerechtigkeitssinn widerspricht; dieser Glaube beweist ethische Barbarei. Dass eine auf Liebe begründete Religion, wie die christliche, ihn je hat übernehmen können, tut deutlich dar, wie wenig der Glaube auf die Gläubigen Rückschlüsse gestattet: wie denn unsere ganze Kirchengeschichte im Grunde bloß den Kontrapunkt zur Lehre des Nazareners abgibt.

Doch beweist der Vergeltungsglaube nicht bloß ethischen Tiefstand, er zeugt noch viel mehr für barbarisches Denken. Es ist traurig, aber wahr, dass der europäische Geist in dieser Hinsicht tief unter denen steht, auf die er herabzusehen gewohnt ist, die er zu bekehren und zu zivilisieren sich erkühnt.

Zwei wahrhaft tiefsinnige Lehren sind in der Christenheit entstanden: von der Erlösung durch den Glauben und der Erlösung durch die Gnade. Beide sind aber nur ausnahmsweise verstanden worden. Obgleich die Dogmatik beide in sich aufgenommen hat und jeder Christ auf sie gleichsam vereidigt wird, hält es doch die Kirche wie jeder Einzelne praktisch so, als hieße das Dogma Erlösung durch das Werk. Unser künftiges Schicksal hängt von dem ab, was wir auf Erden tun.

Dass diese Theorie alles eher als tiefsinnig ist, haben die Europäer eigentlich nie begriffen; höchstens ahnten es die Edelsten unter ihnen. Der Inder hingegen weiß seit Jahrtausenden, dass eine Erlösung durch das Werk schon aus dem kritischen Grunde unmöglich ist, weil jede Tat ein Empirisches ist und daher nur empirische Folgen nach sich ziehen kann; empirische Geschehnisse mit transzendenten Folgen sind schlechthin undenkbar. Jede Handlung vollzieht sich in der Erscheinung; deshalb kann sie auch nur in der Erscheinung im Diesseits gesühnt oder vergolten werden. Diese Vergeltung geschieht im Samsâra, der Seelenwanderung.

Dass die Metempsychose sich aufs Jenseits bezieht, ist nämlich ein Irrtum: sie bezeichnet ein zwar übersinnliches, aber unter Voraussetzung einer moralischen Weltordnung dennoch natürliches Verhältnis — ebenso natürlich, wie das Beharren der Art im Wechsel der (allein empirisch gegebenen) Individuen. Und die Voraussetzung einer moralischen Weltordnung drückt den Inder ebenso selbstverständlich wie uns der mechanische Charakter alles physischen Geschehens. Sogar die Kombination der Atome zu chemischen Elementen, Körpern usw. deutet die Mahâyâna-Philosophie z. B. als moralischen Prozess — jede gegenwärtige Qualität sozusagen als gerechte Folge der vorhergehenden. Aller Substanz eignet ein Karma, und zerfällt ein Sonnensystem, so gilt dies Ereignis nicht so sehr als Produkt der in ihm wirksamen und auf ihn einwirkenden Naturkräfte, denn als Sühne für seine moralischen Tendenzen. Unter solcher, uns freilich sehr fremdartig anmutenden Voraussetzung erscheint der in der Metempsychose sich äußernde moralische Kausalnexus nicht übernatürlicher, als irgendein längere Zeitspannen durchlaufender Naturvorgang. — Dass der Seelenwanderungsmythos kein Jenseitsglaube ist, erhellt auch aus folgender Erwägung: er ist wenig geeignet, das Unsterblichkeitsbedürfnis zu befriedigen, kann also diesem Wunsch (da dem Inder metaphysischer Besinnungsmangel wahrlich nicht vorgeworfen werden darf) unmöglich entsprungen sein. Hier hat Otto Weininger sehr klar gesehen; er schreibt3:

Es ist alles eher als eine Befriedigung des Unsterblichkeitsglaubens, jene ewige Wiederkunft des gleichen anzunehmen, wie sie pythagoräische und indische Lehren kennen, und wie sie Nietzsche wieder verkündigt hat. Im Gegenteil, sie ist fürchterlich; denn es ist nur der Doppelgänger, zwar nicht in zeitlicher Koexistenz, sondern in der Sukzession. Der Wille zum (eigenen) Wert, zum Absoluten ist ja die Quelle des Bedürfnisses nach Unsterblichkeit.

So bezeichnet denn das Samsâra kein Leben im Jenseits, sondern eine Form natürlichen Fortwerdens, wie fremd diese Natürlichkeit europäischen Ohren immer klingen mag. Und, charakteristisch genug: das indische Jenseits lag auch wirklich jenseits des moralischen Kreislaufs. Solange ein Werkrest übrig blieb, wanderte die Seele hienieden fort; am Tage, da alles Karma kompensiert war, ging sie erlöst ins Brâhman ein.

Jetzt sehen wir deutlich, wie turmhoch der Seelenwanderungsgedanke jeden Glauben an transzendente Vergeltung überragt: das Bedürfnis nach moralischer Kausalität befriedigt er durchaus und verstößt dabei nicht gegen die kritische Erkenntnis, dass, was in der Erscheinung verbrochen ward, nur innerhalb der Erscheinung gesühnt werden kann. Ein Empirisches kann nie transzendent werden. Die unsterbliche Seele wird durch die Geschehnisse innerhalb des Werdens nicht berührt.

Natürlich ist die Seelenwanderungslehre nur eine der vielen möglichen Ausgestaltungen einer vorausgesetzten moralischen Weltordnung, die sich im Diesseits erschöpfen soll. Konfuzius, der auch bloß von diesseitiger Vergeltung wusste, dachte sie sich traduzianisch, d. h. in der Nachkommenschaft sich äußernd: wird ein guter und weiser Mann bei Lebzeiten nicht erhöht, so ist doch seinen Nachkommen der Lohn gewiss; Tugend und Laster werden sicher vergolten, wenn nicht am Individuum, so im Lauf der Generationen. Auch unter den Hebräern der mosaischen Zeit müssen ähnliche Vorstellungen geherrscht haben — Jahveh verhieß dem Sünder Strafe bis ins dritte und vierte Glied, dem Frommen Belohnung bis ins tausendste Glied seiner Nachkommenschaft. Dem modernen Europäer scheint diese Form der Weltordnung moralisch unbefriedigend, weil sein Individualismus so groß ist, dass er sich mit seinem Geschlecht nicht mehr solidarisch fühlt und die Vorstellung des Übergreifens einer Schuld oder einer Belohnung auf die Nachkommen kaum mehr fassen kann; nur, in materiellen Fragen erkennt er die Erbschaft unbedingt an. Der unindividualisierte Ostasiate empfindet hierin anders. Er fühlt sich so eins mit seinem Geschlecht, dass sein Stammesgefühl das Selbstbewusstsein überwiegt. Deshalb dünkt ihn die Belohnung oder Strafe für ahnherrliche Taten durchaus gerecht. Darin ist jedenfalls auch die traduzianische Vergeltungslehre, wie immer man sonst über sie denken mag, tiefer als die, welche das jüngste Gericht erfand: dass ihr gemäß alle Vergeltung dieser Welt vorbehalten bleibt und den Unsterblichkeitsglauben nicht berührt.

So sind es denn, wenn wir jetzt zurückblicken, eigentlich nur brutale oder verrohte Völker und —nbsp;— die Christen, die an ein ewiges Gericht glauben. In dieser Hinsicht gehören unsere Vorstellungen zu den ungebildetsten, was um so schmerzlicher erscheint, als sie dem erhabenen Stifter des Christentums, der die Weltanschauung der Gnade im Gegensatz zum Verdienst verkündigte, sicher weltenfern lagen. Der Wahngedanke einer transzendenten Vergeltung ist uns dermaßen in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir die einzige wirklich tiefe metaphysische Idee, die in den Untiefen der kirchlichen Jenseitsmoral noch fortlebt, gar nicht mehr verstehen: ich meine die Erbsünde. Die Erbsünde ist nur mehr Glaubensinhalt, den Meisten unverständlich, eine unheimlich-sinnleere Formel. Die Schmalkaldischen Artikel lehren sogar ausdrücklich:

Peccatum hereditarium tam profunda et tetra est corruptio naturae, ut nullius hominis ratione intelligi possit, sed ex strip, turae patefactione agnoscenda et credenda sit.

Und doch halten wohl alle ahnungsvollen Gemüter, selbst wo sie nicht begreifen, mit sicherem Instinkt an dieser Vorstellung fest die Erbsünde bezeichnet nämlich den tiefsten, wo nicht den einzigen tiefen metaphysischen Gedanken des alten Testaments. Er deutet, wenn auch in unklarer Form, die Wahrheit an, dass alle Vergeltung am Erdkreis haften bleibt, und dass man darum auch moralisch, geradeso wie physisch, daran zu tragen hat, woran man persönlich unschuldig ist.

1 Vgl. Max Müller, Theosophy etc., S. 165.
2 Vgl. Runze, Psychologie des Unsterblichkeitsglaubens etc., S. 137.
3 Über die letzten Dinge, S. 98.
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME