Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Dauer und Ewigkeit

Sein und Werden

Unsere zeitliche Dauer ist ein unaufhaltsamer Prozess. Niemals, nirgends ein Stillstand. Worin besteht dann das beharrliche Sein? Warum fühlen wir uns trotz aller Wandlungen mit uns selbst identisch? — Von außen her ist diese Frage nicht schwer zu entscheiden: weil es tatsächlich der gleiche Mensch ist, der die verschiedensten Phasen durchläuft. Das gestaltende Prinzip, das ihn in die Welt setzte, wirkt stetig fort. Es ist ein identischer Zusammenhang, der sich entwickelt, differenziert, in immer neuer Gestalt erscheint, bis er zuletzt zerfällt. Aber dieses unbestreitbare objektive Verhältnis bietet keine genügende Erklärung für das Identitätsbewusstsein: denn das beharrende Ich ist dem Denken eine Idee; und was unser konkretes Selbstbewusstsein ausmacht, sind die in fortlaufendem Wechsel sich ablösenden Bewusstseinszustände. Meine mir bewusste Individualität besteht darin, was ich jetzt bin, dem beziehungsreichen Knoten, der mein gegenwärtiges Sein mit der Außenwelt verknüpft. Wer ich früher war, bin ich heute nicht mehr; trotz aller Erinnerung ist die Vergangenheit tot. Sogar mein rückgreifendes Verantwortlichkeitsgefühl kann einer bloßen petitio principii entspringen, denn das gegenwärtige Stadium braucht mit früheren nichts mehr gemein zu haben, der Verbrecher kann im Heiligen aufgehoben sein. Und reißt gar das Band der Erinnerung zwischen den verschiedenen Zuständen, so ist damit jede subjektive Kontinuität zwischen ihnen aufgehoben. Allerdings verläuft der Wandel in normalen Fällen so allmählich, so lückenlos vermittelt, dass die grundsätzliche Identität immer wesentlicher und betonter erscheint, als die aktuelle Verschiedenheit. Doch lässt sich in der Theorie und ohne jede Unwahrscheinlichkeit auch der entgegengesetzte Fall denken: die aktuellen Unterschiede wären so groß, dass die zeitliche Dauer des gleichen Menschen als Ablösung grundverschiedener Individuen erschiene. Und fehlte in diesem Falle das Gedächtnis, so wäre die mit sich selbst identische objektive Existenz in eine unvereinbare Vielheit unvermittelter Subjekte zerlegt.

Nichtsdestoweniger ist sich jeder normale Mensch seiner durch alle Stadien hindurchgehenden Identität bewusst. Ja — wir dürfen jetzt, wo die andere Ansicht des Verhältnisses genügend betont worden ist, sogar zugestehen, dass diese Betonung eine Übertreibung war. Wir haben uns auf den Standpunkt der buddhistischen Psychologie gestellt, welche die Einheit des Ich wie alles Sein überhaupt leugnet und nur dem Werden und Wandel Dasein zuerkennt, auf dass die Labilität des empirischen Seelenkomplexes in möglichst grellem Lichte erschiene. Und zu dem Zwecke erlaubten wir uns, die fluktuierende Wirklichkeit in ein mathematisches Schema zu zwängen: wir fassten den Augenblick als dauerlosen mathematischen Punkt auf, während die erlebte Gegenwart stets eine (wenn auch noch so kurze) zeitliche Dauer einschließt; wir haben schärfer präzisiert, als die schillernde Natur dies zwanglos gestattet. Doch haben wir uns von der Wahrheit nicht weit entfernt. Die buddhistische Psychologie ist ihrem Grundgedanken nach richtig: innerhalb des unmittelbar Erscheinenden gibt es wirklich nur Werden und Wandel. Allein ist es eben doch derselbe Mensch, der die Metamorphose vom Kinde zum Greis durchlebt: das beweist nicht nur die äußere Beobachtung, das bezeugt vor allem das Selbstgefühl. Unser Identitätsbewusstsein ist ganz unmittelbar. Sucht man es durch Reflexion auf die Erinnerung zu erklären oder gar mit der Tatsache der Erinnerung zu identifizieren, so fälscht man die Erfahrung damit.

Der Mensch ist sich sein Leben lang seines beharrlichen Seins bewusst, obwohl er tatsächlich in rastlosem Werden begriffen ist. Objektiv ist diese Antinomie nicht schwer zu begreifen: das Beharrende ist das formende Prinzip des Menschen, es wandeln sich hingegen seine Verkörperungen, die Bewusstseinszustände und sonstigen Faktoren des psychophysischen Zusammenhangs. Ein anderes ist es aber, wenn wir in der subjektiven Sphäre bleiben, vom unmittelbaren Bewusstsein aus zum Naturgrunde der Empfindungen vorzudringen suchen: hier nützt objektive Erkenntnis wenig oder nichts. Ein Prinzip ist kein mögliches Erlebnis; ich weiß von keinem Ich überhaupt, sondern nur von mir; und von mir wiederum nicht in absolutem Sinn, sondern in bezug auf die ganze Welt, die mein jetziges Bewusstsein ausfüllt. Welcher Art ist unter diesen Umständen das Bewusstsein meines beharrenden Seins? Die Antinomie von Sein und Werden erscheint schroffer denn je zuvor. — Um ihren Sinn zu verstehen, müssen wir uns darüber klar werden, dass wir es nicht mit Möglichkeiten, sondern mit Tatsachen zu tun haben. Hinge es von unsrer Entscheidung ab, ob ein unmittelbares Bewusstsein dessen, was dem Verstand als Idee erscheint, möglich sei, wir hätten allen Grund, diese Möglichkeit zu verneinen. Nun ist es aber Tatsache, dass wir uns unseres schlechthinnigen Daseins abgesehen von allen Bestimmungen bewusst sind. Ich fühle jederzeit, dass ich bin, und dieses Bewusstsein bleibt das gleiche mein ganzes Leben hindurch, lebt stetig und identisch in mir fort, gleichviel wie das Wie meiner Existenz beschaffen sei. An diesem Tatbestand ist nicht zu rütteln. Deshalb kann ein Lösungsversuch der subjektiven Antinomie nur dahin zielen, die Arten des Selbstbewusstseins in beiden Fällen zu bestimmen und zu unterscheiden.

Die Antinomie von Sein und Werden ist in der subjektiven Sphäre auf die folgende Weise allein zu bestimmen und aufzulösen: das Bewusstsein eines beharrenden Seins geht auf ein Überpersönliches; alles Persönliche gehört dem wechselvollen Werden der Phänomene an.

Greifen wir auf unsere bisherigen Ergebnisse zurück. Die Dauer des Lebens verläuft in unaufhaltsamem Wandel; zwischen Geburt und Tod, vom Kinde bis zum Greis durchschreitet der Mensch immerzu verschiedene Wegstrecken. Er ist jederzeit ein anderer, jeden Augenblick ein quasi modo genitus. Persönlich empfindet er nun bloß in der jeweiligen Gegenwart, da er nur in der Gegenwart existiert, und in jedem neuen Stadium ist seine Bewusstseinsart eine andere. Kaum ein ergrauter Mann vermag sich wirklich in die Mentalität seiner jungen Tage zurückzuversetzen, die Jugend erblickt in den Alten Wesen anderer, unheimlich fremder Art. Sogar die ewig Gleichen, die unverbrüchlich Treuen, deren Charakter sich nicht zu wandeln scheint und die sich bis ins höchste Alter hinauf das frische Gemüt des Jünglings bewahren, denken und fühlen mit sechzig Jahren doch ganz anders als mit zwanzig. Die Person hat sich verändert, ob auch der Mensch der gleiche blieb. — Nun wird man mir einwerfen, dass ein jeder seine eigenen Erlebnisse dennoch streng von denen anderer unterscheidet, dass er sie liebt oder an ihnen leidet, sich durchaus persönlich zu ihnen verhält. Das ist richtig; mein gegenwärtiges Bewusstsein umschließt auch die Vergangenheit, und alle Gegenwart ist persönlich. Aber wenn ich ans Verflossene denke, versetze ich mich nicht tatsächlich in das zurück, was nicht mehr ist, sondern umgekehrt: ich beziehe es in mein jetziges Dasein hinein. Daher hängt die Stimmung, die das Gewesene in mir auslöst, in Wirklichkeit nicht vom Gewesenen ab, sondern davon, wer ich jetzt bin. Wenn ich an einer einstigen Handlung leide, so liegt das nicht an dem, dass ich sie damals verübt — wäre ich zu jener Zeit der heutige gewesen, ich hätte sie nimmer verüben können —, sondern daran, dass ihr Bild oder ihre späteren Folgen meinen gegenwärtigen Zustand schmerzlich berühren. Es ist nicht möglich, über die Gegenwart hinauszugreifen. Das Gefühl, an seiner Vergangenheit zu tragen, entspringt sonach der falschen Deutung eines richtig beobachteten Tatbestandes: man freut sich oder leidet ausschließlich an der Gegenwart; aber freilich ist diese ihrer Eigenart nach durch alles Vorhergehende bedingt. Unter solchen Umständen muss der Vergangenheit notwendig jeder persönliche Charakter abgehen. Die Vergangenheit mit ihren Elementen bildet einen einheitlichen, aber unpersönlichen Zusammenhang, der meinem gegenwärtigen persönlichen Empfinden zum Untergrunde dient.

Die Vergangenheit ist ihrem Wesen nach unpersönlich, alles Persönliche betrifft ausschließlich die Gegenwart: die Richtigkeit dieser Auffassung lässt sich auch negativ dartun. Lägen die Verhältnisse anders, es bliebe ganz unverständlich, wie der Mensch es zu Wege bringt, in verschiedenen Stadien ein anderer zu sein und sich dennoch mit sich selbst identisch zu fühlen. Die Diskrepanz zwischen jetzt und einst müsste ihm Zweifel an seiner Identität erwecken, das jeweilige Bewusstsein, dessen Umkreis notwendig auch Vergangenes umfängt, müsste brüchig, widerspruchsvoll erscheinen; der im Alter verfallende Greis hielte es nie und nimmer aus, im persönlichen Bewusstsein einstiger Kraft als Ruine fortzuleben. Die Jugenderinnerungen haben ihm eben allen persönlichen Charakter verloren. Er kommt sich historisch vor, freut sich seines Wissens um einstige Tage, denen seine Person längst entrückt ist, und lebt als anderer Mensch befriedigt in der Gegenwart. Was vergangen ist, ist eben dadurch der Kategorie des Persönlichen entwachsen.

Jetzt sind wir imstande, den Sinn der subjektiven Antinomie von Sein und Werden, den ich vorhin schon bestimmte, mit Bewusstsein zu erfassen. Die Tatsache, dass alles Vergangene unpersönlich ist und nur die Gegenwart persönlichen Charakter trägt, ließe sich auch auf die Weise deuten, dass die Kontinuität wirklich aufgehoben ist und der Mensch in unvermittelter Gegenwart durch sein Leben wie durch eine Landschaft wandert. So ist es aber nicht; wir sind uns des lückenlosen Zusammenhangs unserer Lebensprozesse durchaus bewusst. Nur steht es mit der Person in bezug auf den Menschen, wie mit der Gegenwart in bezug auf die Zeit. Das Leben dauert in stetig fortschreitender Gegenwart; leben heißt implicite: in der Gegenwart leben. Und doch gleicht kein Augenblick dem anderen; die Form des Jetzt umschließt jederzeit ein anderes Hier. Ganz im gleichen Sinn ist die Person die aktuelle Daseinsform des Menschen, ohne mit ihm zusammenzufallen. In jedem Augenblick steht sein Ich, sein tiefstes Selbst, im Zentrum des Gesichtsfeldes, und dieses ist überall die Person. Trotzdem fällt jenes mit dieser nicht zusammen: es liegt ihr bloß zugrunde; das Selbst dauert überpersönlich fort im farbigen Wechsel der Personen. Dies ist der Grund, weshalb sogar empfindliche Gewissen jenen merkwürdigen, den Verstand befremdenden Unterschied zwischen gestern und vorgestern machen: an der Gegenwart wie der nächsten Vergangenheit darf nicht der Schatten eines Makels haften; weiter zurückliegende Handlungen werden schon gleichgültiger empfunden, und von einer gewissen Zeitspanne ab — sie beträgt in der Regel etwa fünfzehn Jahre — hört das unmittelbare Verantwortungsgefühl vollständig auf: das Ich wird eben, rückläufig betrachtet, vom Subjekte zum Objekt. Ja, wir dürfen weitergehen: das Wort persönlich hat überhaupt nur in bezug auf die Gegenwart einen verständlichen Sinn. Sobald wir nicht die verfließende, sondern die verflossene Zeit ins Auge fassen, wird aus dem Subjektiven ein Objektives, gerade wie sich die Freiheit, rückgreifend betrachtet, in unerbittliche Notwendigkeit verwandelt1. So ist es denn wirklich wahr, dass das ursprüngliche Bewusstsein unseres beharrenden Seins ein Nicht-Persönliches betrifft, und mit der Person fällt, aus subjektiver Perspektive betrachtet, zugleich die Individualität.

Wieder führt die Analyse des Selbstbewusstseins zu Resultaten, die mit den Ergebnissen objektiver Überlegung aufs Genaueste übereinstimmen. Der objektive Sinn der Antinomie von Sein und Werden besteht darin, dass das Beharrende das formende Prinzip des Menschen ist, das ideelle Band, das seine wechselvollen zeitlich-räumlichen Zustände zur Einheit verknüpft; dieses Prinzip beharrt trotz aller Diskontinuität des Bewusstseins, trotz aller Metamorphosen, die der Mensch durchleben mag. Der subjektive Sinn der gleichen Antinomie ist aber der, dass unser durchgehendes Identitätsbewusstsein ein Überpersönliches betrifft, während die bewusste Individualität oder die konkrete Person in stetem Wandel begriffen ist. Beide Interpretationen besagen genau das Gleiche. Wir sind uns des formenden Prinzips ursprünglich bewusst, das den Ablauf der konkreten Erscheinungen regiert; und doch fällt dieses mit der Person nicht zusammen. Die Dauer des individuellen Lebens lässt sich somit dahin definieren, dass eine überpersönliche Macht oder Entelechie den zeitlichen Wandel persönlich bewusster Phänomene beherrscht. Oder paradoxer ausgedrückt: wir sind mit unserer jeweiligen Person dem Wesen nach nicht identisch.

1 Vgl. hierzu mein Gefüge der Welt, S. 320 ff. der ersten Auflage und Henri Bergson Les données immédiates de la conscience, ch. III.
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME