Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Dauer und Ewigkeit

Individuum und Menschheit

Die Grenzen, die das Ich verneint, betreffen nicht nur die Zeit, sondern auch den Raum; sie betreffen die Person überhaupt. Wenn ich fühle und erfahre, dass ich ewig bin, meine ich in Wahrheit nicht mich im empirischen Sinn, sondern das überpersönliche Prinzip, das mein phänomenales Dasein regiert; ich meine nicht meine Grenzen, sondern meine grenzenlos fortwirkende Entelechie.

Reflektieren wir rein logisch über die Begriffe von Ewigkeit und Person, so gelangen wir zum Ergebnis, dass sie einander ausschließen. Diese setzt Grenzen voraus, die Ewigkeit verneint sie. Das Einzelgeschöpf ist wesentlich endlich. Ein unendliches Individuum wäre die Totalität, und die Allheit mit der Einzelheit zu verwechseln, hieße zwei Denkkategorien identifizieren, welche der diskursive Verstand scharf zu scheiden genötigt ist. Die Einzelheit, das Atom, ist der letzte Quotient der Analyse, die Totalität die höchstmögliche Synthese. Verdichten wir die Allheit zum Atom — möglich ist das gewiss: nur entbehrt dann der Begriff der Einzelheit des Sinnes. Erheben wir aber das Atom zur Allheit, so verwandeln wir damit sein Wesen. Ein räumlich unbegrenztes Atom wäre die ganze Welt, ein unendliches Individuum, sofern sich ein solcher Begriff überhaupt bilden lässt, allenfalls die Art oder die Gesamtheit des Lebens; und eine ewige Person ist nur als Gottheit denkbar. In jedem Falle führt die Steigerung des Individualitätsbegriffes über sein Bereich hinaus. Aus dem Empirischen wird ein Transzendentes, aus dem Faktum eine Idee. Daher ist begreiflich, dass der Begriff eines ewigen Lebens, wie ich vorhin schon zeigte, eigentlich nicht gedacht werden kann.

Der Personalitätsbegriff hat nämlich nur unter Voraussetzung der Zeit und des Raumes einen Sinn. Er ist an Grenzen gebunden, und Begrenztheit gibt es nur im Bereich der Erscheinung. Deshalb ist es ganz unmöglich, ihn in die Ideenwelt oder ins Gebiet transzendenter Spekulationen hinüberzunehmen, ohne dass diese Steigerung zu widerspruchsvollen Vorstellungen, zu widersinnigen Begriffen führte. Theoretisch scheint es z. B. denkbar, dass ein räumlich begrenztes Individuum in der Zeit grenzenlos dauerte. Gehen wir indes dieser Vorstellung auf den Grund, so finden wir, dass wir zu ihrer Definition den ursprünglichen Individualitätsbegriff aufgeben müssen: da die Dauer des Lebens im Wandel besteht, müsste unendliche Dauer mit unbegrenztem Wandel verknüpft sein; und ein solcher würde die Identität aufheben. Somit ist eine unendliche Dauer des Individuums nicht auszudenken; ja, wer sich nicht beim Credo quia absurdum bescheiden will, muss allen derartigen Theorien den Rücken kehren. Wo die Person den Ausgangspunkt und das Endziel des Unsterblichkeits­strebens bildet, dort erscheint jede Hoffnung auf Verständnis ausgeschlossen. Stellte die Person wirklich die letztmögliche Prämisse dar, so wären jene Skeptiker ohne Zweifel im Recht, die im Unsterblichkeits­gedanken überhaupt ein Hirngespinst erblicken. Aber die Person ist nicht die oberste Synthese des Selbstbewusstseins: mit dieser Erkenntnis ist der Sinn des Unsterblichkeits­gedankens gerettet.

Wir erkannten, dass das Ewigkeitsbewusstsein nicht die Grenzen des Menschen betrifft, sondern eine grenzenlos fortwirkende Entelechie. Ich bin mehr als meine Grenzen, mehr als meine Person; meine Person reicht bis zum Grund der Seele nicht hinab. Mit dieser Erkenntnis ist das Problem auf eine neue Basis gestellt: der Unsterblichkeits­instinkt besagt in Wahrheit nicht, dass dieses irdische Dasein, sondern dass die Person das letzte nicht ist. So bedeutet denn der transzendente Empirismus des Glaubens an persönliche Fortdauer keine ursprüngliche Vorstellung; er ist aus dem Missverständnis des tiefsten Seelenahnens hervorgegangen. Dieses ursprüngliche Ahnen, von dem ein jeder zeugen kann, verneint die Grenzen des Einzelwesens; und nur dieses ist vergänglich, das Leben kennt keinen Tod. Nun aber eröffnen sich uns ungeahnte Perspektiven. Die Kritik des Unsterblichkeits­gedankens entführt uns nicht in das Traumland menschlicher Fiktionen, sie versetzt uns nicht aus der Natur in eine transzendente Welt: sie weist uns vielmehr den Weg in die innersten Tiefen des Lebens. Es hält ja leicht, über die Nichtigkeit des Einzelnen volltönende Phrasen zu machen, auf die Natur hinzuweisen, die verschwenderisch Millionen von Keimen der Vernichtung preisgibt, an das Pathos der Zeiten zu erinnern, in denen Tausende für eine Idee willig in den Tod gingen. Es ist nicht schwer, aus der Erfahrung zu beweisen, dass es aufs Individuum nicht ankommt, und darauf den Mythos zu gründen, der Natur liege bloß an der Erhaltung der Art. Aber was ist mit solchen Feststellungen für das Verständnis gewonnen? Nichts; das Problem bleibt so dunkel als zuvor. Die vermeintlichen Erklärungen sind bloße Umschreibungen, ihre Voraussetzungen Dogmen, unerwiesene Behauptungen, im günstigsten Falle wahrscheinlich; und eine Philosophie, die sich mit Wahrscheinlichkeiten abgibt, ist letztlich wertlos. Wie wenig es nachweislich auf den Einzelnen ankommen mag: durch die ausführlichste Induktion wird die Tatsache nicht aus der Welt geschafft, dass das Individuum das einzig konkret Gegebene ist. Gesellschaft, Staat, Volk, Menschheit, Art und Leben — dem Verstande sind es Begriffe und Ideen; Ideen aber besitzen keine empirische Wirklichkeit. Und wenn nun die Idee über die Erfahrung siegt, das anscheinend Abstrakte das Konkrete zwingt, so liegt gerade hierin das Problem — ein Problem beunruhigendster Art. Wer wollte sich bei seiner bloßen Feststellung bescheiden? Bedeutete die Person wirklich das Letzte, es wäre schlechterdings nicht einzusehen, wie der Mensch überhaupt darauf verfallen kann, über sich hinaus zu streben, sein einziges Leben einer Idee zum Opfer zu bringen. Denn aus sich selbst kann keiner heraus.

Jetzt wissen wir, dass die Person auch im einzelnen Menschen nicht die letztmögliche Synthese bedeutet. Folglich ist die Prämisse, die den meisten bisherigen Theorien zugrundelag, falsch. Das beharrende Ich, auf welches das Ewigkeitsbewusstsein des Menschen wie sein Selbsterhaltungstrieb sich beziehen, fällt mit der Person nicht zusammen. Nun aber erscheint das Verhältnis von Individuum und Menschheit, von zeitlicher Dauer und Ewigkeit in neuer, gar vielversprechender Gestalt: wenn der Mensch auch ausschließlich für sich lebt, lebt er dennoch einem Prinzip, das mehr ist, als seine begrenzte Person; sein Unsterblichkeits­bedürfnis bezieht sich auf etwas, das mehr ist, als sein vergängliches Ich. Lebe ich mir selbst, so lebe ich einer überpersönlichen Kraft, der mein Bewusstsein nur dient. So erscheint denn die Kluft zwischen dem hehren Walten der Natur, die freudig über Leichen fortschreitet, und dem kleinlichen Treiben der Menschen, die ängstlich ihr Leben zu erhalten streben, nicht mehr als unüberbrückbar: der Einzelne verfährt in seiner Sphäre nicht anders, als die Allmutter es im Großen tut; auch er missachtet die Person zugunsten eines Höheren. Jedes Individuum, wie beschränkt es immer sei, wirkt notwendig als Glied eines weiteren Zusammenhanges. Sich selbst, im strikt-konkreten Verstande, zu leben, ist gar nicht möglich.

Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
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