Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Mensch und Menschheit

Das persönliche Ich

Auch unsere letzten Betrachtungen enthalten nur Tatsachen. Die gesetzlichen Zusammenhänge, die wir zuletzt feststellen zu können meinten, bedeuten bloß abstrakte Beschreibungen des Faktischen, sagen über seine Gründe nichts aus; aus den empirischen Daten, die wir zusammengestellt und dann auf ihre kürzeste Formel gebracht haben, lässt sich zunächst nicht das Geringste über das notwendige Verhältnis des Individuums zur Gesamtheit ableiten. Was heißt Volksseele? —

Das Volk hat so wenig ein Ich, als die elf Planeten zusammengerechnet ein Ich haben, obwohl sie sich um einen gemeinsamen Mittelpunkt wälzen,

sagt Stirner, und diesem Satz ist logisch nichts anzuhaben. Der Herdentrieb bezeichnet zunächst ein psychologisches, also subjektives, kein wesentliches Verhältnis. Mag ich nicht allein leben, so sagt dieser Wunsch nichts darüber aus, ob ich ursprünglich mit den Anderen zusammenhänge oder nicht. Die Psychologie der Volksmassen enthält nichts, was darüber entschiede, wie sich der Einzelne notwendig zur Gesamtheit verhält; das social Ego, dessen beste Charakteristik wir William James verdanken, betrifft etwas rein Empirisches, die gegebene Vorstellungswelt. Und dass unsere Vorstellungen von allem, was uns umgibt, also besonders den Menschen, mit denen wir umgehen, bedingt sind, versteht sich von selbst. Wie der natürliche Zusammenhang des Menschen mit der Menschheit beschaffen ist, lässt sich nicht aus den Vorstellungen, sondern nur aus dem Sein des Menschen erschließen — aus dem, was allen nur möglichen Vorstellungen zugrunde liegt. Und da unsere bisherigen Betrachtungen über dieses Sein nichts Entscheidendes aussagen, sind die immoralistischen Theorien, welche jeden überindividuellen Zusammenhang leugnen, bis auf Weiteres nicht widerlegt.

Gleichwohl liegt der Weg zur Einsicht jetzt offen vor uns. Dem Modernen kommt es kaum je in den Sinn, sich überhaupt nur die Frage zu stellen, ob das persönliche Ich wirklich die letztmögliche Synthese bedeute, die dem Selbstbewusstsein zugrunde liegt; diese Frage steht jetzt im Mittelpunkte unseres Interesses: es ist nämlich auf Grund der Erfahrung unbestreitbar, dass das Bewusstsein des Menschen nicht notwendig von seinem persönlichen Ich ausgeht. Unpersönliche Völker wollen nur das sozial Zweckmäßige, weder aus Pflichtgefühl, noch aus persönlicher Überzeugung im strengen Sinne des Worts, da sie ihre Person von den Anderen nicht reinlich abscheiden und ursprünglich von der Gruppe aus denken. Dem Urgriechen war die Familie in ihrer endlosen zeitlichen Dauer die lebendigste Voraussetzung; und die weibliche Seele zieht auch bei uns keine scharfe Grenze zwischen sich und denen, welche sie liebt. Gerade bei den kraftvollsten Völkern überwiegt das Pflichtgefühl über den Willensimpuls des Einzelnen — und zwar ursprünglich, nicht aus Verstandeseinsicht. Wo aber von Sollen die Rede ist, reicht das Individuum als oberste Voraussetzung nicht aus. Es geht doch nicht an, das Problem durch die listige Überlegung zu umgehen, die Welt des Sollens stände mit der Welt des Seins in keinem notwendigen Zusammenhang, diese gehöre zur Natur, jene zum Reich der Freiheit. Als ob die Freiheit kein Naturphänomen wäre! Gerade das Sollen muss aus der Natur des Menschen begriffen werden. Und hier liegt in der Tat, wenn ich nicht irre, der Angelpunkt des Problems. Die unbefangene Beobachtung beweist, dass das Selbstbewusstsein nicht notwendig vom persönlichen Ich ausgeht, dass dieses nicht die einzigmögliche, die einzig natürliche Prämisse bedeutet; die Erfahrung beweist gleichfalls, dass zwischen Individuum und Gesamtheit ein objektiver Zusammenhang besteht. Subjektives Empfinden und objektives Sein weisen aufeinander zurück. Dieses Verhältnis gilt es kritisch zu fassen; inwiefern dürfte dies möglich sein? — Offenbar nur durch Analyse des sittlichen Bewusstseins: denn dieses und dieses allein betrifft den unmittelbaren Zusammenhang der Menschen untereinander. Sollte es sich herausstellen, dass der ethische Mensch ursprünglich von überindividuellen Synthesen ausgeht, gleichviel, zu welchen Zielen und Verkörperungen der instinktive Trieb führen mag — dann, aber auch nur dann wäre die Theorie der Einsamkeit der Menschenseele widerlegt, dann stünde fest, dass dem tatsächlichen Verhältnis das Prädikat der Notwendigkeit zukommt, dass der Mensch mit der Menschheit von Natur aus zusammenhängt. Unser nächstes Problem ist demnach, in knappe Worte gefasst, das folgende: bedeutet das Sollen einen primären Bewusstseinsfaktor? — Denn alles Wollen, das über das Individuum hinausweist, fällt ins Bereich des Pflichtbegriffs.

Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
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