Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Individuum und Leben

Fortpflanzung und Wachstum

Die Erhaltung des Lebens überhaupt: das ist in der Tat der einzige Naturzweck, der aus den Daten der Beobachtung mit Sicherheit zu folgern ist. Die Mittel variieren ins Unendliche, der Zweck bleibt überall der gleiche; und zu den Mitteln gehört allem Anscheine nach auch die Individualität. Wäre sie mehr als Mittel, ihr schwankender Charakter ließe sich nicht verstehen; diese Überlegung entscheidet vorläufig. Sehen wir jetzt zu, inwiefern das Individuum Mittel sein kann.

Das Urphänomen des lebendigen Geschehens ist, wie Karl Ernst von Baer dies wohl als Erster deutlich ausgesprochen hat, das Wachstum1. In der anorganischen Welt findet sich nichts Ähnliches, die Zeit übt auf die Materie keinen unmittelbaren Einfluss aus. Die Dauer des Lebens aber äußert sich konkret im Wachsen, zunächst innerhalb der Grenzen des Individuums (wo ein solches in scharfer Begrenztheit existiert), sodann über dasselbe hinaus. Die Zeugung ist nur ein qualifizierter und spezialisierter Ausdruck jenes Urphänomens, keineswegs zum Wesen gehörig2. — Es liegt im Wesen des Organismus, ins Grenzenlose hinauszuwachsen. Bei den Pflanzen sehen wir dies deutlich; unter diesen vielleicht am Schlagendsten bei den Fucoiden, jenen endlosen Seealgen. Auch die Kolonien der niederen Tiere, besonders der seßhaften unter ihnen, zeugen beredt für diese Wahrheit; desgleichen sprossen die Segmente der Würmer unaufhaltsam auseinander hervor. Freilich bleiben hier die Wachstumsprodukte nicht miteinander verbunden, doch gehört die Ablösung auch hier nicht zum tiefsten Wesen. Theoretisch scheint es ja denkbar, dass eine Zelle ad indefinitum fortwüchse; sie teilte sich nicht, der Tod bliebe ihr fern. Kein innerer, dem Leben immanenter Grund stünde dem entgegen. Doch widersetzen sich dem äußere Ursachen. Nach J. J. Thomson bricht ein System verzahnter Wirbelringe, wo diese die Zahl 7 erreichen, zu einem Doppelsystem auf; nur ein solches erscheint hinfürder stabil. Und genau im gleichen Sinne muss sich das Infusor, sobald es ein gewisses Volumen erreicht hat, teilen, um fortwachsen zu können. Es sind mechanische Gründe, welche die Zellteilung bedingen; die lebendige Entelechie als solche weiß nur von ununterbrochenem Wachstum.

Überschauen wir nämlich vorurteilsfreien Blickes die niederen Stufen der Organisation, so können wir nicht umhin, zu konstatieren, dass die verschiedenen Formen der Generation und Individualisation durchaus von äußeren Gründen bestimmt und regiert werden. Eine seßhafte Polypenkolonie wächst in schier grenzenlosem Zusammenhang fort; schwimmt sie frei, so weist sie alsbald feste Grenzen auf: den Gefahren des Wanderlebens vermag nur das schlechthin Zweckmäßige standzuhalten. Genau im gleichen Sinne stecken äußere Bedingungen der Anzahl der Wurmsegmente eine Grenze. Und beharrt zuletzt immerdar die gleiche Form, so ist es, weil diese die einzig dauerhafte ist. Aus Zweckmäßigkeitsgründen werden die überschüssigen Teile abgestoßen, beginnen sie ein neues, selbständiges Leben. Gewiss sind wir noch nicht imstande, in jedem einzelnen Fall die Notwendigkeit der Formgrenzen zu begreifen, dass es sich aber um streng physikalische Gesetzmäßigkeiten handelt, darf schon heute nicht mehr bezweifelt werden. Nur nach den Normen, die für Kraft und Materie gelten, kann sich der Lebenstypus verkörpern, deshalb muss jede Form physikalisch zu erklären und zu begründen sein. Sicherlich sind die seltsamen Figuren der Karyokinese der äußere Ausdruck intimer (physikalischer) Spannungsphänomene, höchstwahrscheinlich wird man sie einmal nachbilden und künstlich hervorrufen können. Die Zahl der Wirbel, der Extremitäten, die Disposition der Organe und Funktionen — alle diese Verhältnisse sind im strengsten Sinne notwendig. Überschätze ich den Menschengeist nicht, so wird es ihm dereinst gelingen, sie ebenso restlos zu erklären und gleichsam a priori vorauszubestimmen, wie dies heute schon bei den Gestalten der Kristallwelt möglich ist. Die Richtungen sind im Wesen begründet, die Grenzen entstehen durch die Interferenz des inneren Gesetzes mit der Außenwelt. Und in diesem Sinne bestimmen wirklich äußere Ursachen und Verhältnisse die Grenzen und den Charakter der Individualität. — Bei den Protisten leuchtet es unmittelbar ein, dass Zeugung und Selbstbildung recht eigentlich derselbe Prozess sind: wo sich bloß Zelle auf Zelle in stereotyper Zweiteilung ablöst, lässt sich leicht einsehen, dass das Wachstum das Urphänomen ist, und dass sich Gestalt von Gestalt nur deshalb trennt, um das Wachstum fortdauernd zu ermöglichen. Jedes Organismus Volumen hat seinen kritischen Punkt; wächst die Zelle über ein bestimmtes Maß hinaus, so muss sie zugrunde gehen, als Einheit ist sie nicht länger lebensfähig. Auch wo durch stetige Knospung eine Kolonie entsteht, wie bei den Pflanzen, den Salpenketten, manchen Polypen, ist die Wesenseinheit von Wachstum und Zeugung unschwer zu erkennen. Aber das Problem verliert an Deutlichkeit bei fortschreitender Differenziation.

Ein Polyp z. B. erzeugt unmittelbar keinen Polypen mehr, sondern ein Scyphistoma, das sich weiterhin zur freischwimmenden Qualle entwickelt; diese spaltet Geschlechtsprodukte ab, aus denen wiederum seßhafte Polypen hervorgehen usw. Es ist das Phänomen der alternierenden Generation in seiner vielleicht wenigst komplizierten Gestalt. Oder: der Mensch erzeugt einen Keim, der neun Monate lang als Parasit im Mutterleibe wohnt, um sodann eine freie Sonderexistenz anzutreten. Oder: ein parasitäres Krustentier (Sacculina), das als formloser Sack in den Organen der Krabbe haust, gebiert eine freischwimmende Larve, die sich erst in späteren Stadien ihrerseits zu obscönem Parasitismus bekehrt3. Oder: eine Salpe beginnt ihren Lebenslauf als selbständiges, bewegliches Individuum, fixiert sich dann und produziert durch Knospung eine geschlossene Kolonie, aus welcher später durch geschlechtliche Fortpflanzung neue Sondertiere entstehen usw. Die aufgezählten Beispiele entstammen den verschiedensten Regionen der Organismenwelt, doch handelt es sich überall wesentlich um dasselbe: einerseits um das Wachstum des Individuums über sich selbst hinaus, andererseits um Erzeugung des Gleichen, vermittelst ungleicher Zwischenstadien. — Hält angesichts solcher Erscheinungen die prinzipielle Identifizierung aller Fortpflanzung mit dem Wachstum stand? — Zunächst gilt es zu begreifen, dass die Einwände, die sich auf die Phänomene des Todes und der Sexualität stützen wollten, dem Kern des Problems gegenüber nicht stichhaltig sind. Es ist im tiefsten Grunde gleichgültig, ob die folgende Generation den materiellen Zusammenschluss mit der vorhergehenden bewahrt, wie die grünen Zweige mit dem verholzten Stamm, oder ob die jungen Teile die alten abwerfen. Das Wachsen eines geschlechtslos sich fortpflanzenden Wurmes ließe sich dahin schematisieren, dass das Leben fortschreitend von den älteren auf die jüngeren Teile übergeht, ganz wie beim Baum. Nur werden hier die älteren Teile allmählich abgestoßen; was bei jenem als kontinuierliches Wachstum erscheint, tritt uns bei diesem als Folge räumlich geschiedener Individuen entgegen. Nicht anders verhält es sich, genau besehen, sogar mit der menschlichen Generation: auch das Kind entsteht durch Abspaltung aus dem Elternleibe, ist lange Zeit hindurch mit der Mutter verwachsen; in den ersten Entwicklungsstadien ist das Leben des Embryos von dem der Mutter auch begrifflich kaum zu trennen. Leben aber die Eltern nach der Geburt des Kindes fort, so ist dies, aus höchstem Blickpunkte betrachtet, ein sekundäres Verhältnis: bei vielen, der Individualisation nach dem Menschen durchaus vergleichbaren Organismen, so den Lepidopteren, fällt der Tod der Eltern mit der Begründung des neuen Lebens nahezu zusammen, und bei den Protozoen gar bedeuten Tod und Fortpflanzung ein identisches Phänomen. Gewiss bedingt es den größtmöglichen Unterschied in der Erscheinung, ob sukzessive Generationen koexistieren, oder nicht, doch reicht dieser Unterschied nicht ins Wesen hinab. Ob der Urenkel materiell auf dem verstorbenen Ahnherrn fußt, wie der grüne Zweig auf dem verwitterten Stamm; ob endlose Generationen gleichzeitig fortleben, wie die Polypen in der Kolonie; ob die sich folgenden Individuen jäh durch den Tod getrennt sind oder ob, wie beim Menschen, eine Generation auf die andere zeitlich übergreift: letzthin handelt sich’s überall um das Gleiche.

Gerade so unwesentlich in bezug auf den Kern des Problems ist die Art, der Charakter der Fortpflanzung. Geschlechtliche und geschlechtslose Reproduktion bezeichnen durchaus keine Gegensätze: denn nicht die Verschmelzung zweier Keimzellen ist die essentielle Vorbedingung für die Entstehung des neuen Individuums, sondern umgekehrt, die Entstehung des neuen Individuums aus einer Zelle ist die notwendige Voraussetzung für die Mischung4. Ob diese eine Zelle ihrerseits nur dank der Vereinigung zweier anderer entstehen und teilungsfähig werden kann, oder ob es dieses Vorspiels nicht bedarf, hängt davon ab, ob eine Qualitätenmischung erforderlich ist oder nicht. Beim Menschen ist sie unbedingt vonnöten, bei überaus vielen Organismen ist sie es nicht: Loeb und Wilson haben gezeigt, dass bei Echinodermen die in normalen Fällen stets stattfindende Befruchtung durch chemische Reize ersetzt werden kann, und ob die Daphniden sich sexuell oder parthenogenetisch fortpflanzen, hängt von den Ernährungs- und Witterungsverhältnissen ab. Das scheinbar wesentliche und letzte Phänomen ist sonach bloß ein mögliches Mittel unter anderen zum Zwecke der Arterhaltung. Das Leben schreitet in jedem Falle fort, nur betritt es verschiedene Wege, je nachdem wie die äußeren Bedingungen beschaffen sind. So können wir uns denn der Evidenz nicht mehr verschließen, dass den mannigfaltigen Erscheinungen überall — auch wo es am Wenigsten den Anschein hat — ein gleiches Wesen zugrunde liegt. Überall handelt es sich um die endlose Dauer des Lebens, konkret gesprochen: um endloses Wachstum; Fortpflanzung und Wachstum sind aber nicht zweierlei Geschehnisse, sondern zwei Ausdrucksformen eines überall gleichen Verhältnisses.

Soviel erkennen wir jetzt — allein verstehen wir es auch? Leicht ist es nicht. Unser Zeit- und Augenmaß ist nach der Dauer und dem Charakter der Menschenindividualität geschnitten, und dieses Maß versagt der Gesamtheit des Lebens gegenüber. Doch verlieh uns ein Gott die Gabe der Einbildungskraft, die Fähigkeit, im Geist unseren Grenzen zu entrinnen. Auch wir können — zeitweise wenigstens — von kosmischer Höhe aufs Irdische hinabschauen; der Mensch darf übermenschlich denken. Versetzen wir uns nun im Geiste auf den Standpunkt, den die Natur, wäre sie bewusst, wohl einnehmen dürfte, so hellt sich das beklemmende Dunkel auf. Fontenelle meinte einmal:

de mémoire de rose an n’a vu périr un jardinier;

für die Eintagsfliege lebt schon der Maikäfer ewig. Wie aber erscheint der Lebensprozess aus höchster Höhe gesehen? — Für die Natur gibt es überhaupt keine dauernden Individuen, sondern nur eine Dauer des Lebens. Ihr währt ein Menschenalter keinen Augenblick. Der Ablösung der Geschlechter wird sie kaum gewahr. Der Wechsel der Individuen bedeutet ihr weniger noch als uns der Wandel der Stimmungen. Des Absterbens des Lebendigen wird sie sich nicht bewusst. Sie weiß zwischen Wachstum (d. h. Weiterwerden des Individuums) und Fortpflanzung (d. h. Weiterwerden über das Individuum hinaus) nicht zu scheiden. So dürfte sie der Wechsel der Menschengeschlechter nicht viel anders anmuten, als uns die Segmentierung des Wurms oder das Wachsen des Baums. In schneller Bewegung wirkt auch das Geschiedene als zusammenhängend; die Allmutter sieht, wie der Typus sich über alle Individualität hinaus erhält. Sie erfreut sich am stetigen, grenzenlosen Werden, und ahnt von den Problemen nichts, die den Menschengeist peinigen.

1 Vgl. in seinen gesammelten Reden und Aufsätzen (St. Petersburg 1864 und Berlin 1882) namentlich die Abhandlung Über das allgemeinste Gesetz der Natur in aller Entwicklung und Welche Ansicht der lebenden Natur ist die richtige? Die genannten Werke sind übrigens längst vergriffen; es wäre hohe Zeit, eine Neuauflage zu veranstaltendes
2 Ich weiß wohl; dass auch heute noch viele der Ansicht Darwins und vor allem Herbert Spencers beipflichten: die sexuelle Funktion sei ihrem Wesen nach dem Wachstum entgegengesetzt, weil mit dem Auftreten und Ausreifen der Geschlechtsorgane ein Stillstand des Wachstums verknüpft ist und lebhaftes Wachstum andererseits zu einer Unterdrückung der Geschlechtstätigkeit führen kann. Diese Auffassung ist aber in keiner Hinsicht berechtigt: wenn angestrengte geistige und körperliche Arbeit einander mehr oder weniger ausschließen, beweist das doch keinen Gegensatz von Körper und Geist, sondern bloß, dass dieselbe Energie nicht zwei Bahnen auf einmal einschlagen kann. Ebenso ist das Wachstum des Individuums mit dem Wachstum über dasselbe hinaus von einem gewissen Punkte ab vielleicht wirklich unvereinbar; aber nicht, weil es entgegengesetzte Vorgänge wären, sondern weil derselbe Prozess nicht zugleich nach verschiedenen Richtungen verlaufen kann. Bei so allgemeinen Fragen, wie Wachstum und Zeugung, genügt die bloße Beobachtung nicht. man muss sie auch interpretieren können.
3 Vgl. z. B. Frédéric Houssay La Forme et la Vie. Paris 1900, S. 727 ff.
4 Th. Boveri, Das Problem der Befruchtung. Jena 1902, S. 32.
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
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