Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Individuum und Leben

Erhaltung der Art

Das Wachstum ist das Urphänomen. Es verläuft in mannigfachen Formen, und eine von ihnen ist die Folge getrennter Individuen. Somit kommt dem Individuum als solchem, von der Totalität des Lebens aus gesehen, keine absolute Bedeutung zu. Sollen wir also sagen: der Natur liege bloß an der Erhaltung der Art? — Wie befremdlich es klingen mag, allem Anschein nach ist es nicht anders. Die Individuen vergehen, der Typus dauert fort. Durch alles Sterben beharrt die Gestalt.

Beschränken wir unser Gesichtsfeld auf die höchsten Organismen, so erscheint dieses Verhältnis zunächst vollkommen unverständlich. Aber wie liegen die Dinge bei den Wesen, die sich durch einfache Teilung oder homogene Knospung fortpflanzen? Wo die Individuen schlecht definiert sind, schwankt auch die Grenze zur Spezies zu. Schreitet das Leben über Leichen fort, so sagen wir: der Typus beharrt. Aber wo die Glieder ungeschieden bleiben? Dort ist die übersinnliche Einheit zugleich materiell begründet; dort entspricht der Begriff Erhaltung der Art einem Konkreten. Der einzelne Baum ist, grob und ungenau ausgedrückt, gerade so gut eine Spezies als eine Person: denn er verkörpert die Folge endloser Generationen; er verdichtet in sich unzählige Sonderexistenzen; jeder Zweig beinahe vermag, als Ableger verpflanzt, ein selbständiges Leben zu beginnen. Und denken wir jetzt an die Betrachtungen des letzten Abschnittes zurück, so entdecken wir, dass das Phänomen des grenzenlosen Wachstums mit der konstruierten Theorie der Erhaltung der Art dem Inhalt nach zusammenfällt. — Vielen mag das selbstverständlich scheinen; und doch weist uns diese Einsicht den Weg zu bedeutsamen Ausblicken: sie vermittelt uns nämlich die wichtige Erkenntnis, dass zwischen verbundenen und geschiedenen Lebensformen kein spezifischer Unterschied besteht. Es ist wesentlich dasselbe, ob das Wachstum, wie beim Bäum, zu einem kontinuierlichen Ganzen, oder, wie beim Menschen, zu einer Reihe schärf getrennter Sonderexistenzen führt; die Selbständigkeit, bedingt keine Ausschließlichkeit. Folglich muss es möglich sein, die Funktionen geschiedener und ungeschiedener Lebenseinheiten gegenständlich miteinander zu vergleichen.

Das Wirbeltier verfügt über wohldifferenzierte Organe, deren jedes einem bestimmten Zweck dient, nur dem Ganzen nützt, von diesem abhängt und für sich allein nicht lebensfähig ist. Bei den Würmern kann das Organ zum Individuum werden, und umgekehrt regeneriert dieses das verlorene Organ. Die Echinodermen weisen ähnliche Verhältnisse auf. Bei den Coelenteraten aber ist es unmöglich zu entscheiden, ob die vielgestaltigen Polypen als Organe eines Individuums oder als differenzierte Individuen einer Kollektivität anzusprechen sind, wie die soziale Arbeitsteilung solche schafft. Jedes Glied des Siphonophoren ist ein virtuelles Ganzes, und doch funktioniert es aktuell als bloßes Organ. Betrachten wir die Organismen in absteigender Reihe, so sehen wir, dass die Organe sich immer mehr individualisieren, je mehr die Individualität des Gesamttieres verschwimmt; kehren wir die Perspektive um, schreiten wir vom einfachen zum komplizierten fort, so gewahren wir, dass die Konzentration und Zentralisation der Lebenseinheit stetig zunimmt, die Organe immer mehr an Selbständigkeit verlieren. Aus Republiken werden Autokratien. Nun wissen wir aber, dass das Individuum überall ein Relativum bedeutet, dass zwischen selbständigen und zusammenhängenden Lebensformen kein Wesensunterschied besteht: sollte da nicht auch das vollkommen konzentrierte und abgeschlossene Individuum seinerseits Organ eines höheren Ganzen sein? — Die Männchen der Rädertiere, die letzten Formen (Imagines) mancher Insekten sind, wie wir sahen, nur noch zum Zeugen geschickt; an sich selbst unvollständig, sind sie nur in bezug auf die kommende Generation zu verstehen. Sie sind gleichsam Organe der Art, der sukzessiven Lebensverkörperung. Hier ist das Wort Organ eine Metapher — sukzessive Verhältnisse lassen sich mit simultanen nicht direkt vergleichen. Doch gibt es wirklich Organismen, bei denen das selbständige Individuum — tatsächlich und im vollen Sinne des Wortes als Organ funktioniert: die Ameisen und die Bienen. Bei letzteren ist die Königin allein fortpflanzungsfähig, die emsigen Arbeiterinnen sind geschlechtslos. Bei den Ameisen aber geht die Arbeitsteilung insofern noch weiter, als es unter den Arbeitern ihrerseits verschiedene, morphologisch definierbare Klassen gibt.

Manche wollen im Bienenstaat ein ebenso willkürliches Gebilde erblicken, wie in der menschlichen Gesellschaft. Aber sie irren sich: bei den Bienen ist die Arbeitsteilung gerade so notwendig, gerade so physisch-morphologisch begründet, wie unter den verschiedenartigen Organen des Menschenleibes. Wenn nur die Königin gebären kann, die Arbeiterinnen geschlechtslos sind, wenn jene wiederum dieser bedarf, um nicht Hungers zu sterben, dann sind beide unbedingt aufeinander angewiesen. Vor der Natur machen erst Königin, Drohne und Arbeiterin zusammen die Biene aus. Dieses Verhältnis ist aber das gleiche wie das zwischen Ernährern und Erzeugern in der Polypenkolonie. Nur dessen Faktoren sind hier anderer Art: es unterliegt keinem Zweifel, dass die Bienen durchaus in unserem Sinn Individuen sind, abgeschlossene, scharfgeschiedene Sonderexistenzen; bei menschlichem Bewusstsein möchte eine individualistische Lebensauffassung leicht unter ihnen aufkommen. Und doch: sie widerspräche offenbar den Tatsachen; die verschiedenen Typen sind für sich allein nicht lebensfähig, nur als Organe der Gesamtheit vermögen sie zu dauern. Der Bienenstaat bildet tatsächlich eine organische, naturnotwendige Synthese; trotz ausgesprochenster Individualisierung ihrer Glieder ist doch die Gesamtheit die wahre Einheit vor der Natur. Man vergleiche die Schriften Sir John Lubbocks, Auguste Forels, man lese Maeterlincks wundervollen Bienenroman: aus jeder exakten Schilderung leuchtet die erstaunliche Tatsache hervor, dass die einzelnen Bienen nur in bezug auf den Stock zu verstehen sind, und zwar genau im gleichen Sinne, wie Nähr- und Zeugungspolypen sich gegenseitig bedingen, und wie das Herz nur in bezug auf den Organismus, in dem es schlägt, begriffen werden kann.

Wie steht es mit der menschlichen Individualität? — Gewiss, hier ist die Arbeitsteilung morphologisch nicht begründet; jeder Mensch für sich ist lebensfähig, hat seinen Sinn in sich selbst, und zwei genügen zur Erhaltung der Art. Aber wenn wir jetzt die Ergebnisse des vorhergehenden Kapitels an unserem Geiste vorüberziehen lassen — sehen wir uns nicht zum Bekenntnis gezwungen, dass der Sinn auch der menschlichen Individualität ein gerade so relativer, transitorischer ist, wie dies in der sonstigen Organismenwelt der Fall ist? — Das Streben des Einzelnen weist über ihn hinaus; sein Seinsgrund liegt nicht in seiner Person. Das sittliche Bewusstsein beweist das Dasein eines höheren Zusammenhangs. Dieser Zusammenhang, der sich uns potential im Sollen kundtut, ist aber der gleiche, der bei anderen Tiergruppen de facto vorliegt. Dass die Polypen des Siphonophoren zum gemeinen Besten harmonisch zusammenwirken, scheint uns sittlich gleichgültig; und doch leisten sie eben das, was die ethischen Postulate vom Menschen im Rahmen der Menschheit fordern: jeder Polyp schafft zu Zwecken, die weit über seine Person hinaus reichen, der geringere tritt vor dem stärkeren zurück und das Schlechte wird ausgemerzt. Das bewusste Streben spiegelt sonach das natürliche Sein. Freilich handelt es sich im einen Fall um einen physischen, im anderen um einen psychischen Zusammenhang, und Viele meinen, dies bedinge einen spezifischen Unterschied. Doch sie irren sich. Ob die Fortpflanzung notwendig stattfindet, wie im Fall ungeschiedener Geschlechter, oder ob gebieterischer, persönlichster Trieb die Tiere zur Paarung nötigt, kommt sachlich und -wesentlich auf das Gleiche heraus; das Band der Liebe, wenngleich ein -psychisches, ist weder schwächer noch unwirklicher, als die physische Affinität zwischen Narbe und Blütenstaub. Die physischen Phänomene, gerade wie die psychischen, sind eben Ausdrucksformen und Mittel zur Erhaltung des Lebens; von dessen Zentrum aus gesehen, befinden sich beide auf einem Plan. Auch die bewussten psychischen Zusammenhänge gehören ins Reich der Natur; das Pflichtgefühl, das sittliche Bewusstsein bringt, noch so eigenartig, natürliche Synthesen zum Ausdruck. Der Mensch hängt tatsächlich mit der Menschheit zusammen. Äußerlich steht er einsam, losgelöst im Weltall da: doch bezeugt sein intimstes, lebendigstes Selbstgefühl, dass er in Wahrheit nicht weniger eng mit der Gesamtheit verknüpft ist, als der Polyp mit seiner Kolonie.

So wäre denn die Gesellschaft, gemäß Herbert Spencers Lehre, ein Organismus? — Auf so vorschnelle und billige Synthesen dürfen wir uns nicht einlassen. Den sozialen Gebilden mangelt durchgehends der Charakter unbedingter Notwendigkeit, wie er die echten Lebenseinheiten kennzeichnet. Der Staat ist nur eine Assoziations­form unter anderen, sein Dasein keine kategorische Nezessität; es lassen sich Gesellschaftsgebilde vorstellen, die noch niemals verwirklicht wurden und doch nicht minder möglich sind, als die aus der Erfahrung her bekannten. Die Grenzen, innerhalb welcher die höhere Synthese, als deren Glied jeder Mensch sich fühlt, konkrete Gestalt gewinnt, sind schwankend — schwankend, bis zur Willkürlichkeit. Die Menschheit lässt sich ebensogut als Einheit denken, empfinden und erleben wie das Volk, wie die Familie, und dementsprechend schwankt die ethische Zentrierung der Individuen. Aber gerade dieser Indeterminismus in betreff der äußeren Grenzen ist für das Leben bezeichnend; überall gewinnt der gleiche Lebenstypus in anderen Grenzen Gestalt. Noch sind keine zwei absolut identischen Individuen entdeckt worden; Vater und- Sohn gleichen sich nie, die Vererbung ist eine variable Funktion, im Lauf der Zeit verändert sich sogar der Gattungscharakter. Und doch bleibt der Grundtypus der gleiche. — Dies gilt schon von den elementarsten Lebenserscheinungen. Komplizieren sie sich durch das Hinzutreten psychischer Phänomene und Produkte, so wächst zugleich die Unbestimmtheit der Grenzen. Ganz unreflektierte Geschöpfe, wie die Korallen, erzeugen die vollkommensten Formen; die sinnige Ameise baut schon in schwankenden Umrissen; der Mensch aber ist zum Schönen wie zum Häßlichen in gleichem Maß geschickt. Der tierische Instinkt ist unfehlbar; die Fähigkeit zum Irren macht den Menschen aus. Doch erwächst auch der Irrtum aus der Wahrheit, der Indeterminismus der äußeren Form ist seinerseits strengstens determiniert. — Nicht anders verhält es sich mit den sozialen Gebilden der Menschen. Stets und überall ist das, Individuum Teil einer höheren Einheit; dieser Zug beharrt. Im sittlichen Bewusstsein findet er seinen beständigen Ausdruck. Aber die äußeren Formen, in welchen diese Einheit Gestalt gewinnt, sind schwankend, aus natürlicher Perspektive betrachtet, zufällig. Sie liegen nicht auf der Ebene der Naturprodukte, sie sind Geistesschöpfungen. Daher sind sie insofern wohl notwendig, als die Grenzen jedes Werks die seines Schöpfers spiegeln, aber die Spiegelung bedingt keine Identität. Wäre die Menschheit nicht wirklich eine Einheit vor der Natur, die Menschen würden sich nicht zu Einheiten verknüpfen; auch die Phantasie folgt natürlichen Normen. Gleichwohl ist die Gesellschaft ebensowenig ein Organismus, wie die Sixtinische Madonna zur Zoologie gehört.

Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME