Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Über den Unsterblichkeitsglauben überhaupt

Leib und Seele

Es ist nicht selten förderlich, auch einer strengwissenschaftlichen Wahrheit paradoxen Ausdruck zu verleihen. Allzu unbedenkliche Sätze, gar zu genaue Definitionen wirken leicht als unfruchtbare Tautologien: weil sie nur das besagen, was ihr strikter Wortlaut enthält, regen sie selten neue Gedankenreihen an und wirken im selben Sinne abschließend, wie dies die Schublade tut, in welcher die reiche Flora der Natur zu totem Herbarium vertrocknet. Wogegen es der reizende Charakter des Paradoxes mit sich bringt, dass eine kritische Wahrheit zugleich Gefühlsschwingungen auslöst; hierdurch aber wird deren produktive Tragweite nicht unwesentlich gesteigert. So möchte ich denn die Tatsache, dass weitaus die meisten Völker und Menschen im Tode kein absolutes Ende sehen, vorläufig folgendermaßen formulieren: es scheint eine Elementar­vorstellung der Menschheit zu sein, dass die Toten nicht tot sind. So gefasst, erscheint der altehrwürdige Menschheitsglaube einigermaßen naiv, ja, mit einem leichten Stich ins Lächerliche. Und wirklich haben sich die verstandesstolzen Söhne später Zeiten dem Unsterblichkeitsgedanken gegenüber des Lächelns selten erwehren können; im kaiserlichen Rom nicht besser als im modernen Frankreich. Schon Plinius schrieb1:

Aus allen wird nach dem letzten Tage das, was sie vor dem ersten waren, und nach dem Tode haben Körper sowohl als Seele ebensowenig irgendeine Empfindung, wie vor der Geburt. Nur die menschliche Eitelkeit pflanzt sich auch in Zukunft fort und lügt sich selbst für die Zeit des Todes Leben vor, indem sie bald Unsterblichkeit der Seele, bald eine Umgestaltung und bald ein Leben in der Unterwelt annimmt … als wenn das Leben des Menschen in irgendeiner Weise von dem der übrigen Tiere verschieden wäre, oder als wenn sich auf der Welt nicht viele andere, länger dauernde Dinge fänden, denen doch niemand eine ähnliche Unsterblichkeit vorausbestimmt … Wo ist endlich der Sitz und wie groß die Zahl der seit so vielen Jahrhunderten abgeschiedenen Seelen? Alles dies sind Ausgeburten kindischer Vertröstung und der nach ewiger Fortdauer lüsternen Sterblichkeit … Ist denn, zum Henker, der Glaube, dass man nach dem Tode wieder auflebe, nicht der größte Wahnsinn?! —

Schärfer könnte sich ein moderner Materialist kaum ausdrücken; der reine Intellekt staunte vor Jahrtausenden gerade so hilflos über die wunderlichen Gebilde des Glaubens, wie heutzutage. Doch ist der Mensch kein reiner Intellekt; er ist es nur dort, wo es mit ihm zur Neige geht; der Intellektualisierungsprozess ist überall ein Auflösungsprozess. Im Verstandesmenschen sind die tiefsten und lebendigsten geistigen Quellen versiegt. Er weiß nichts mehr vom schöpferischen Glauben, von der selbstherrlichen Phantasie, vom alogischen und doch so sicheren Instinkte. Er begreift nicht mehr, dass der Mensch bloß durch den Mythos die Natur zu beherrschen vermag, und klammert sich sklavisch ans Zeugnis seiner Sinne. Und diese wissen von der Unsterblichkeit natürlich nichts. So sind es denn — im Gegensatz zudem, was Theologen zu praktischen Zwecken häufig zu behaupten pflegen — eigentlich nur junge Völker, werdende Kulturen, undifferenzierte und unreflektierte Stämme, die fest und durchaus an eine Fortdauer nach dem Tode glauben. Teils, weil sie Phantasie und Realität, Wahrheit und Wunsch nicht deutlich zu unterscheiden wissen — also aus Unzulänglichkeit —, teils weil sie noch Kraft genug besitzen, in eine fremde Welt ihre eigene hineinzutragen. Der Unsterblichkeitsglaube bezeugt dort, wo er vorherrscht, an und für sich bloß Unbefangenheit; kritische Selbstbesinnung kann freilich zu demselben Ergebnisse hinführen, doch hat sie es selten getan. Wirklich begegnen wir Eschatologien, die keinen positiven Charakter tragen, nur äußerst selten bei sogenannten Naturvölkern, sehr häufig dagegen bei hochkultivierten, reifen Rassen: so bei den Juden, den buddhistischen Indern, den Chinesen und den Griechen. Und gar die Theorie, nach welcher Leib und Seele überhaupt nicht zu trennen wären, finden wir ausschließlich seitens der beiden entgegengesetzten Maxima des Erkenntnislebens vertreten: der Mystik einerseits2, der kritischen Wissenschaft anderseits.

In der Tat dürfte nichts dem naiven Menschen ferner liegen, als ein Monismus irgendwelcher Art: seine Weltanschauung trägt notwendig dualistischen Charakter. Ob er freilich gerade zwischen Leib und Seele scheidet, scheint zweifelhaft: mit diesen modernen Begriffen ist sein unreflektiertes Empfinden schwer zur Deckung zu bringen. Er scheidet — da ich mich doch moderner Denkart entsprechend ausdrücken muss — wohl am Ehesten zwischen Stoff und Kraft; und Kraft ist ihm überall Ausdruck des Lebens. Was wirkt, muss beseelt sein; jede Kraft setzt einen Willen voraus, jeder Wille ist Willkür: so entsteht das animistische Weltbild. Der naive Mensch kann gar nicht anders urteilen, wenn er seine innerste Erfahrung nicht fälschen will; er muss scheiden zwischen Materie und Energie. Deren mögliche Identität (das monströse Kunstprodukt der neuesten Physik) wäre er unfähig zu erfassen. Und da die Tatsachen des Lebens und des Sterbens ihm deutlich genug beweisen, dass Stoff und Kraft trennbar sind (denn im Toten sieht er mit Recht nur kraftlosen Stoff), so besteht die erste Tat seines werdenden Abstraktions­vermögens darin, dass er zwischen Materie und Energie, alias Leib und Seele eine absolute Grenze zieht. Das ist des Naiven Erkenntnistheorie. Der Glaube oder die Voraussetzung der Nicht-Identität von Stoff und Lebenskraft ist der kritische Ausgangspunkt jedes weiteren geistigen Prozesses. Sie ist aber zugleich die raison nécessaire et suffisante jeder nur denklichen Eschatologie: denn einmal zugestanden, dass Leib und Seele nicht identisch und dass sie trennbar sind, ist es nur mehr eine Frage der Interpretation, der Ausgestaltung und Begründung a posteriori, welche Form und welche Lösung das Unsterblichkeitsproblem gewinnt; die Fragestellung als solche ist gegeben. Ob in einem beliebigen Leib eine beliebige Seele hause — die These der platonischen Akademie — oder der Körper als das notwendige und passende Gewand des Geistes gilt; ob beide friedlich in- und nebeneinander wohnen, oder ob ihr Verhältnis so tragisch gespannt erscheint, dass der Leib als Fessel, Sünde oder Schmach der Seele betrachtet werden muss: jede nur denkbare Seelentheorie ist erkenntniskritisch durch jene letzte Voraussetzung ermöglicht und begründet, dass im Menschen zwei ungleichartige Wesenheiten wirksam sind — man heiße sie, wie man will. Die Grundlage jedes Unsterblichkeitsglaubens ist die Unvergleichbarkeit von Kraft und Stoff.

1 Hist. nat VII 56.
2 Direkt ausgesprochen hat diesen Satz meines Wissens nur ein Mystiker: William Blake. Im Marriage of Heaven and Hell heißt es:
Man has no body distinct from his soul. For that so called body is a Portion of soul discerned by the live senses, the chief inlets of soul in this age.

Doch ist die wesentliche Einheit von Körper und Geist ein notwendiger Grundsatz jeder mystischen Weltanschauung.

Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
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