Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Individuum und Leben

Liebe zur Ewigkeit

Der Sinn aller Gegenwart scheint in der Zukunft zu liegen: sehen wir näher zu, so erkennen wir unschwer die Ursache dieses Verhältnisses. Sie deckt sich nämlich mit der Tatsache, dass alle Lebensprozesse zweckmäßig und zielstrebig sind. Es ist unmöglich, das Leben, wie dies bei allen anorganischen Geschehnissen angeht, aus bloßer Kausalität zu verstehen, ein organischer Prozess wird erst verständlich, wenn außer der Frage nach dem Woher? auch die weitere nach dem Wozu? beantwortet ist. Und dieses Wozu? führt, in der Zeit verfolgt, notwendig aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft hinaus. Von der Zeit kann ich aber nicht abstrahieren, sie ist das Schema des Lebens; alle seine Prozesse verlaufen einsinnig in der Zeit. Und verfolge ich sie, so muss ich notwendig nach vorwärts ausschauen. Die Furchung des Eis begreife ich erst, wenn ich außer den Gründen, die sie hervorriefen, auch die Ergebnisse kenne, zu denen sie führt; es ist durchaus richtig, zu sagen: das Ei teilt sich, um sich zum Embryo zu entwickeln. Und dessen verschiedene Phasen sind ihrerseits erst vom Erwachsenen her zu verstehen. Gerade so liegen die Dinge aber auch bei weiteren Zusammenhängen, beim Fortschritt des Lebens durch das Lebendige hindurch, auf die gleiche Weise erklärt sich auch das Streben des Individuums über sich hinaus. Wozu arbeitet die Biene? Nicht für sich; für die Zukunft, für Geschlechter, die sie nicht erleben wird. Das Phänomen ist grundsätzlich das gleiche, wie die Furchung des Eis zwecks Entstehung des Embryos. Die Generation ist aber mit dem Wachstum wesenseins. Weil das Leben ein zielstrebiges Werden ist, muss der Sinn aller Gegenwart (für menschliche Begriffe) fortschreitend in der Zukunft liegen, der Sinn des Individuums in der Gattung.

Diese Finalität entspricht einer gerade so blinden, unbedingten Notwendigkeit wie die aller sonstigen organischen Regulationen. Wie beim Embryo eine Phase zur anderen strebt, gerade so lebt das Abgeschlossene in bezug auf seine Erben. Zwischen unbewusster Finalität und dem bewussten Wollen der Person besteht kein wesentlicher Unterschied: wer es anders versteht, müsste beweisen können, dass die visceralen Vorgänge deswegen nicht, zweckmäßig sind, weil zu ihrem Ablauf kein Zweck vorgestellt zu werden braucht. Vielmehr gilt das Umgekehrte: wir können uns nur bewusste Ziele setzen, wofern Zielstrebigkeit zu unserer Natur gehört. Darum bedingt es für das Problem keinen Unterschied, ob ein Wesen bewusst der Zukunft lebt oder sich unbewusst dem, was noch nicht ist, opfert.

Dieses unbewusste Streben nach einem transzendenten Ziel, diese Richtung auf eine ultraindividuelle Zukunft ist nun wirklich allem Lebendigen eigentümlich. Die Mücke beginnt ihr Leben im Wasser, beschließt es in der Luft; ihre Keime muss sie aber am Ende ihrer Laufbahn wiederum dem Wasser anvertrauen, einem Elemente, das ihrem jüngsten Stadium völlig fremd ist. Hier weist die Nötigung, die den Willen der weiblichen Mücke bildet, offenbar über das Individuum hinaus. Des Schmetterlings Existenz ist ausschließlich auf die Blüten angewiesen; von ihrem Honig lebt er, nur ihnen gelten seine Wünsche und Sorgen. Doch wenn er zum Eierlegen schreitet, sucht er die grünen Pflanzenteile auf, von denen die den Eiern entkriechenden Raupen sich nähren können, um auf diesen das Brutgeschäft abzuschließen. Was gehen den Schmetterling die Blätter an? Und gewiss weiß er nicht, was er tut, gewiss ahnt er nichts von den Bedürfnissen seiner ihm so wenig gleichenden Kinder. — Die Stubenfliege nascht am Liebsten von den süßen Speisen unserer Tafeln; kommt aber die Zeit, da sie gebären soll, so sucht sie die schmutzigsten Orte auf, weil ihre Brut nur an solchen gedeihen kann. — Gebieterisch treibt es das Spinnenmännchen zur Begattung; und doch muss es die Lust mit seinem Leben bezahlen. Freudig fliegt die Drohne der tödlichen Hochzeit entgegen. Manche aber unter den Wesen, deren höchstes Glück mit dem Ende zusammenfällt, ahnen wohl, dass sie sich brünstig um den Tod bewerben. Auch der Mensch fühlt die Liebe dem Tode verschwistert; in der äußersten Seligkeit will auch er vergehen. Und der düstere Gedanke, die Liebe sei Sünde, sei eine ungeheure Schuld, für die man büßen müsse, entspringt wahrscheinlich dem gleichen Instinkte.

La plupart des êtres, schreibt Maeterlinck, ont le sentiment confus qu’un hasard très précaire, une Sorte de membrane transparente, sépare la mort de l’amour, et que l’idée profonde de la nature veut que l’on meure dans le moment où l’on transmet la vie.

So verhält es sich in der Tat bei den niedersten Lebensformen; was sich fortsetzt, verzichtet auf seine Person. Die Gegenwart verendet an der Zukunft.

Auch der Mensch sieht seinen Sinn in einer Zeit, die er nicht erleben, in Geschlechtern, die er nicht mehr kennen wird, in einer endlosen Dauer, die seine Person verneint. Fast jeder empfindet es als heilige Pflicht, seinen Stamm fortzusetzen, seinen Namen zu verewigen; weshalb? Es ist aus Vernunftgründen kaum zu verstehen. Wie wenige Existenzen sind wahrhaft lebenswert? Nur allzu viele begrüßt das Elend schon in der Wiege. Bittere Sorgen begleiten die meisten bis zur Bahre. Mit seinen Kindern setzt man Trübsal in die Welt. Das Glück ist flüchtig, verräterisch. Die Größe vererbt sich nicht. Und die dumpfe Masse der Menschen bietet den wenigst erfreulichen Anblick der ganzen Organismenwelt. Schon Montaigne klagte:

O la vile chose et abjecte, que l’homme,
s’il ne s’élève au dessus de l’humanité!

Und doch sehen die Allermeisten in der Fortdauer schlechthin einen Wert. Das Weib ist sich der bloßen Tatsache seiner Mutterschaft als einer Würde bewusst; edle Eltern erblicken ihren Seinsgrund in einem nichtsnutzigen Sohn; und der geistig Schaffende bemüht sich um eine Nachwelt, die vielleicht alles Geistige verachten wird … Wir alle leben der Zukunft, in irgendeiner Form, mehr oder weniger bewusst. Wir wollen Tatsachen in die Welt setzen, Werte schaffen, die uns überdauern. Wir wollen den Ruhm, den Mythos … und dieser Wille bedeutet das gleiche Streben, das schon die niedersten Stufen des Lebens kennzeichnet: den Drang, ins Endlose hinauszuwachsen, die Grenzen der Person zu sprengen, die Liebe zur Ewigkeit.

Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
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