Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Das Zwischenreich

Konventionen

Wie soll man nun die spezifischen Gestaltungen des Zwischenreichs bezeichnen? Im geistigsten Falle sind es Mythologien. Von diesen schreibt Karl Kerényi (in Mythologie und Gnosis 1942):

Die Mythologie singt wie der abgeschnittene Kopf des Orpheus auch noch in ihrer Todeszeit, auch noch in der Ferne weiter. In ihrer Lebenszeit, bei dem Volke, bei dem sie heimisch war, wurde sie nicht nur mitgesungen wie eine Art Musik; sie wurde gelebt. Obwohl stofflich, war sie für jenes Volk, das der Träger war, Ausdrucks-, Denk- und Lebensform. Man sprach mit Recht vom zitathaften Leben der Menschen mythologischer Zeitalter und mit Recht veranschaulichte man dies mit Bildern, die durch nichts besseres zu ersetzten sind. Der antike Mensch trete, ehe er etwas täte, ein Schritt zurück, gleich dem Torero, der zum Todesstoß ausholt. Er suche in der Vergangenheit ein Vorbild, in das er wie in eine Taucherglocke schlüpfe, um sich so, zugleich geschützt und entstellt, in das gegenwärtige Problem hineinzustürzen. Sein Leben fand auf diese Weise seinen eigenen Ausdruck und Sinn. Die Mythologie seines Volkes war für ihn nicht nur überzeugend, d. h. sinnvoll, sondern erklärend, d. h. sinngebend.

Welche richtige Auffassung Bronislaw Malinowski auf Grund seiner Erfahrungen auf den Trobriandinseln folgendermaßen ergänzt (vgl. Myth in primitive psychology):

Der Mythos in einer primitiven Gesellschaft ist keine bloß erzählende Geschichte, sondern eine gelebte Realität. Er ist nicht von der Art einer Erfindung, welche wir heute in unseren Romanen lesen, sondern lebendige Wirklichkeit, von der geglaubt wird, sie sei in Urzeiten geschehen und beeinflusse die Welt und die Schicksale der Menschen seitdem fortwährend. Diese Geschichten werden nicht als erfundene, aber auch nicht als wahre Erzählungen am Leben erhalten: sie sind für die Eingeborenen die Aussage einer ursprünglichen, größeren und wichtigeren Wirklichkeit, durch die das gegenwärtige Leben, Schicksal und Wirken der Menschheit bestimmt ist und deren Kenntnis den Menschen einerseits mit Motiven zu rituellen und sittlichen Handlungen, andererseits mit Anweisungen zu ihrer Ausführung versieht. —

Im materiellsten Falle bedeuten die Gestaltungen des Zwischenreichs Künstlichkeiten im engen Sinne unseres ersten Kapitels. Dazwischen liegen alle nur möglichen Kultur- und Zivilisationsformen. Denken wir nun daran, dass die meisten Gestaltungen des Zwischenreiches nicht durchschaut und auf Fiktionen ohne Wahrheitsanspruch aufgebaut sind; denken wir ferner daran, dass die allermeisten Menschen von jeher unbegabt und oberflächlich waren, sind und immer sein werden, so finden wir als beste Generalbezeichnung für den Sinn aller Zwischenreichs­gestaltungen diejenige der Konvention. Die spezifisch menschliche Welt ist in der Tat eine nicht vom Geist und auch nicht von der Natur, sondern von Konventionen bestimmte.

Alle Gestaltung ohne Ausnahme, in welcher das Leben des Menschen als Gattung seinen Differenzialausdruck findet, trägt, technisch beurteilt, in der Tat konventionellen Charakter. Zwischenreichs­gestaltungen sind nicht von der Natur her notwendig: in concreto könnten alle immer auch anders sein. Sie sind auch nicht notwendige Ausdrücke dessen, was der Mensch selber als Geist versteht, denn sie verkörpern nie die absolute Wahrheit, nie ideales Wollen, nie ein emotionales Optimum (Liebe, Glück), oder ein sensitives (vollkommene Schönheit). Oder waren sie je vom Standpunkt ihres individuellen Urhebers Ausdrücke echter Selbstverwirklichung, so leben sie als kollektive Lebensformen nie als solche fort; das tun sie nur als Konventionen. Es sind soziologische Gestaltungen — und wer nur Alfred Webers Kulturgeschichte als Kultursoziologie gelesen hat, der weiß, dass alle menschlichen Lebensformen auch soziologischer Begründung fähig sind. Hier liegt im besonderen der Wahrheitsgehalt von Rousseaus’ Idee eines contrat social — ein Kontrakt bedeutet unverbrüchliche Bindung — und der amerikanischen Vorstellung, dass es keine Instanz oberhalb der Gewohnheit (habit) gäbe. Beide Theorien sind, so falsch sie sonst seien, richtig als Ausdruck der Einsicht, dass eine Gesellschaft in einer bestimmten Form nur bestehen kann, wenn die Mehrheit die gleichen Konventionen anerkennt und einhält, und der weiteren Einsicht, dass auf keine Lebensform Verlass ist, bevor die Erkenntnis oder Moral, welche sie ausdrückt, nicht zur unwillkürlichen, von innen her zwangsmäßig bindenden Gewohnheit geworden ist. Darauf, in der Tat, kommt es an. Von den tiefstgegründeten wie von den nur die äußerste Oberfläche betreffenden Lebensformen gilt, von der Kollektivität her betrachtet, gleichermaßen dies: gewisse Voraussetzungen werden als letzte Instanzen anerkannt, über welche hinaus nicht weiter gefragt wird noch gefragt werden darf. Im oberflächlichsten Fall werden diese Voraussetzungen durch Gewalt oktroyiert und aus Furcht anerkannt. Im tiefsten Falle binden sie durch den ehrlichen Glauben derer, welche sie anerkennen. In diesem Zusammenhang macht es keinen Unterschied, woran geglaubt wird. Das Wesen der Glaubensfunktion ist dies, dass sie im Reich der Vorstellung Sein behauptet; von allen geht sie allein unmittelbar auf das Sein. Dies ist so sehr der Fall, dass für die eigene Vorstellung sogar das eigene Sein nur dann gefestigt erscheint, wenn man daran glaubt — und man kann sehr wohl auch an sich selber zweifeln. Auch an äußere Tatsachen muss man glauben, auf dass sie einem gewiss erscheinen. Von hier aus können wir eine Gleichung zwischen Glauben im Sinn von Meinen (Fürwahrhalten dessen, von dem man wissen könnte, dass es nicht zutrifft), Aberglauben und Glauben im tiefsten und höchsten religiösen und metaphysischen Sinne herstellen und einsehen, wieso der Mensch genau so gut an Brahma oder das goldene Kalb, ja an das Gold schlechthin glauben kann. Auch das Gold als Standard alles Geldwerts existiert ja auf Grund von Glauben allein. Und mehr als glauben kann man, was Behauptung von Sinn in der Vorstellung betrifft, auch an Gott und an die absolute Wahrheit nicht.

Nun gab es noch nie Glauben dauerhaft bannende oberste Voraussetzungen, noch niemals Lebensgleichungen, welche nicht früher oder später von anderen abgelöst wurden oder werden könnten. Noch nie entsprach eine menschliche Lebensform der Ganzheit seiner Naturstrebungen, noch auch sämtlichen Forderungen seines Geistes. Mittels beliebiger Formen oder durch diese hindurch (dieselben durchschauend oder sonst durchlebend) haben Hochentwickelte zu aller Zeit das erlebt, von dem sie fühlten, dass es für sie das absolute Wirkliche war. Aber das galt zu aller Zeit nur von den ganz wenigen, welche ihren persönlichen Standort oberhalb von Name und Form hatten, ob sie es nun wussten oder nicht. Denn zu diesen Begnadeten sind auch solche tiefreligiösen und tiefethischen oder auch tief-einsehenden Gemüter zu rechnen, deren Intellektualität eine primitive war. Im übrigen aber wollen die allermeisten garnicht tief noch allseitig vollendet sein; am meisten freut sie, als Mitglieder einer bestimmten Gruppe, die ihnen den inneren Halt gibt, bewusst anders als andere Gruppen zu sein, sich besser zu fühlen als sie oder im Höchstfall, welcher für dieses Niveau in Frage kommt, die Verschiedenheiten gelten zu lassen und sich ihrer um der Bereicherung des Lebens willen zu freuen. Der Spätantike, dem Zeitalter der Rhetoren, bedeutete die schöne Sprache viel mehr als das, das in ihr gesagt wurde; noch der Stil der ersten lateinischen Kirchenväter ist nur unter dieser Voraussetzung richtig zu verstehen, sogar derjenige der Konfessionen Augustins. Damit lag der Akzent im Gesamtleben so anders, wie beim Deutschen, dass dieser sich in jener Welt überhaupt nicht zurechtgefunden hätte. Ähnliches, wie der Spät-Antike das gut Reden, bedeutet dem heutigen Frankreich das gut Schreiben: daher eine Hochbewertung der Literatur als solcher, wie es sie sogar in China niemals gab. Manchen Kulturen hat Bildung, einigen wendige Klugheit, anderen Mut oder Glauben oder exaktes Wissen oder Weisheit oder Heiligkeit das Höchste bedeutet, und darauf stimmte sich dann das Gesamtleben ab. Wenn politisch zentrierter Gemeinschaft die Macht alles bedeutet und selbstverständlich vor Gerechtigkeit und Wahrheit geht, zitterte noch die schreckliche letzte Kaiserin Chinas vor dem leisen Tadel eines kümmerlichen aber echten Dorfweisen. Politische Gebilde sind sowohl auf den Glauben wie auf das Blut wie auf Gesinnungsgleichheit wie auf brutaler Macht wie auf abstrakten Rechtsbegriffen fundiert worden. Im kleinen hat jeder Kreis seine besonderen Sitten, deren nicht-Befolgen ein Mitglied desselben unmöglich macht: alle diese Gestaltungen sind Zwischenreichsgebilde, alle kamen und kommen durch besondere Akzentlegung zustande und von keiner kann behauptet werden, dass sie notwendig sei. Einen metaphysischen Hintergrund hat nicht eine unter ihnen.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Das Zwischenreich
© 1998- Schule des Rades
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