Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Das Zwischenreich

Zwischenreichskonstruktionen

Wir sagten nun, einige Höhepunkte habe es dennoch gegeben. Wie kam es überhaupt zu diesen? Es kam daher, dass einige wenige ganz große und tiefe Weise zugleich Herrscher waren oder doch solche beherrschten; den letzten solchen Fall verkörpert Alexander der Große, welcher nur deshalb trotz aller makedonischen Barbarei die hellenistische Kultur begründen und damit ganz Asien durchsäuern konnte, weil er den Aristoteles als Mentor anerkannte und dank dessen ihm selber vermutlich unbewusst verbliebenem Einfluss fähig war, bei aller Impulsivität und Leidenschaftlichkeit überall und allezeit aus dem Wissen um größte Zusammenhänge heraus zu handeln. Aber ganz groß sind, soweit unsere Geschichtskenntnis reicht, nur wenige Beherrscher Chinas, Indiens und Arabiens gewesen, denn von den offenbar ähnlich überlegenen ersten Inkas und Azteken wissen wir nichts. Diese ganz Großen standen persönlich jenseits von Name und Form und sie hatten die Macht, diese ihre Gesinnung durch das bestehende Zwischenreich hindurch auszuwirken. Natürlich durchschauten sie dieses. Ihnen war selbstverständlich, was Lao Tse also ausdrückte:

Der große Sinn ward verlassen,
Da gab es Sittlichkeit und Pflicht.

In Leuten, welche zwischen der Person und dem Pflichtmenschen in sich so reinlich unterscheiden konnten, dass der letztere mit gutem Gewissen Verbrechen begehen und der erstere dabei stolz auf seine Selbstverleugnung sein konnte, sahen sie selbstverständlich aus konventionellem Vorurteil Gespaltene und insofern Kranke; in solchen, welchen eine bestimmte Moral oder Sitte letzte Instanz war, die nicht aus einem Jenseits ihrer lebten, sahen sie, sofern es sich nicht um Un-begabte handelte, Oberflächliche. Persönlich waren sie völlig unkonventionell, standen oberhalb aller Zwischenreichsgestaltung. Aber andererseits waren sie weise genug, ihre Einsicht so weit als möglich mittels der Normen des Zwischenreiches auszudrücken und auf dieser Ebene ihre Machtstellung rücksichtslos anzuwenden. Sie waren ferner vornehm und generös genug. Geringeren ihre Schwächen vorzugeben, ohne jedoch je Zweifel hinsichtlich der Hierarchie der Werte hochkommen zu lassen. Sie warten: unter der Voraussetzung der Gleichberechtigung aller kann sich höherer Wert im Gemeinschaftsleben nicht halten, es muss das Niedere siegen: und was jene einsamen Großen für sich wussten, haben im 20. Jahrhundert Amerika mit seinem Glauben an den Mann auf der Straße als höchste Urteilsinstanz und Sowjetrussland mit seinem Proletkult abschließend bewiesen. Jene Großen haben das Zwischenreich mit seinen Vorurteilen immer nur toleriert. Nie sanktionierten sie ein System der Lüge und Bedrückung im Geist von Dostojewskys Großinquisitor, welcher um des Glücks der Menschheit willen Christus aus der Christenheit verbannte. In bezug auf das Zwischenreich waren sie letztlich nicht-Spielverderber, für sich persönlich aber Skeptiker. Für sich drehten sie die Pilatusfrage Was ist Wahrheit? in die andere Was ist nicht Lüge? um. Sie suchten die Wahrheit mittels der Lüge zu verwirklichen, die Liebe mittels der Gerechtigkeit, deren Geist jener grundsätzlich widerstreitet, und einen besseren Zustand zu begründen durch den suggestiven Einfluss von Spielen, deren Regeln rigoros eingehalten werden mussten. Aber auf die Dauer hat keiner dieser Großen einen idealen Dauerzustand begründet.

Hier erkennen wir denn die Grenzen aller möglichen Kultur. Höchste Kultur ist das Höchstideal eines Zwischenreiches überhaupt. Aber das Zwischenreich als solches besteht nur in Funktion von Kreuzungsprodukten von Natur und Geist, die als solche nicht-Ursprünglichkeiten darstellen und dem Idealen niemals eigentlichen Ausdruck verleihen können. Seit Houston Stewart Chamberlain wettert alle Welt in Deutschland über die Zivilisation und stellt dieser die Kultur gegenüber. Die Zivilisiertheit beweist in der Tat garnichts in bezug auf den inneren Menschen, denn ihr höchstes Ideal erschöpft sich in einem System reibungslos zusammen­arbeitender Künstlichkeiten, welche die Natur aller Macht entkleiden und das Wirken persönlichen Geistes durch mechanisch funktionierende Sachlichkeiten überflüssig machen. Aber auch in der Kultur liegt noch nicht das Menschheitsideal. Freilich ist Kultur ein Höheres als Bildung. Auf sie bezieht sich das von Montaigne zum Motto erwählte Wort von Étienne de La Boétie:

J’aime mieux forger mon âme que la meubler.

Trotzdem steht der Höchstkultivierte noch nicht in seinem Ursprung; gerade er ist der Bewohner par excellence des Zwischenreichs. Denn Kultur kann nur bedeuten vollendete Ausgestaltung dessen, was ist; nämlich des Zwischenreichs im Rahmen einmal anerkannter Voraussetzungen. Sie kann nicht Unendlichkeitsstreben oder Streben nach dem Absoluten gelten lassen, sie muss einen festen Rahmen haben. Ihr Wesen versinnbildlicht am besten die Kirche im Verhältnis zur Religion. Wer die Kirche als oberste Instanz anerkennt, der stellt damit das Zwischenreich über den Ursprung. Das war immer so und wird immer so bleiben; die Rechtfertigung solchen Irrglaubens durch autoritative Aussprüche wie im Falle der katholischen Kirche dessen, dass Christus Petrus und mit ihm der römischen Kirche all seine Rechte übertrug, ist eine typische Zwischenreichskonstruktion. Die Authentizität solcher juristischer Transaktion kann nie bewiesen werden und hat sie stattgefunden, was nach allem, was wir an authentischen Worten Jesu wissen, unwahrscheinlich ist, dann hatte selbst der Sohn Gottes kein Recht dazu. Auf den Gebieten des Ursprünglichen und des Wesentlichen gilt kein Recht überhaupt. Eine Berufung auf Autorität bedeutet nie einen Wirklichkeitsbeweis, sondern nur einen Kurzschluss aus persönlicher Feigheit gegenüber der Unsicherheit.

Wer immer seinen Halt in der Kirche — in irgendeiner Kirche — findet, der meditiere deren schärfsten und wissendsten Kritiker Karl Barth. Ich zitiere die folgenden Sätze aus seinem Römerbrief (S. 319):

Der Wissende weiß, dass geglaubt, gepredigt, erklärt, gerufen, gebetet sein muss; er weiß, dass es nicht anders sein kann, als dass die Krankheit des Menschen an Gott gerade an dieser Stelle in immer neuen Formen immer wieder zum Ausbruch kommt; er weiß die Unvermeidlichkeit der religiös-kirchlichen Möglichkeit. Er weiß aber auch die Unmöglichkeit des religiös-kirchlichen Unternehmens. Er weiß, dass es scheitern muss, weil es das an sich Unausführbare ist. Er sieht, wie die Fragwürdigkeit dieses Unternehmens ständig wächst: nicht etwa mit der Schwäche, nicht mit der Einflusslosigkeit, nicht mit der Weltfremdheit der Kirche, sondern umgekehrt mit der Kühnheit und Kraft ihrer so beglückenden, so überaus praktischen Illusionen, mit der Größe ihrer Erfolge, die ihr immer wieder beschieden sind. Er sieht, dass gerade dort, wo die Kirche als Dienst von Menschen an Menschen ihren Zweck erreicht, der Zweck Gottes verfehlt ist und das Gericht vor der Tür steht…

Zwischen dem ursprünglichen Menschen und dem Ursprung ist eben überhaupt keine Vermittelung möglich. Was nun von der Kirche gilt, gilt erst recht vom Staat, vom Recht, von jeder Zwischenreichsgestaltung überhaupt. Deren aller letzte Instanz ist die Fiktion.

Von hier aus verstehen wir denn, warum alle in einem ausgebildeten Zwischenreich geborenen ursprünglichen Geister, wenn sie sich einmal des Ursprünglichen bewusst wurden, zunächst einmal Lust spürten, alles Vorgefundene zu zerschlagen. Den Negativen unter ihnen war das Zerschlagen Selbstzweck. Ganze Generationen haben innerhalb aller Kulturen ihre Fortschrittsaufgabe darin gesehen, das Zwischenreich, an welches Vergangenheit geglaubt hatte, zu zerstören. Auch das tiefste Motiv der christlichen Reformatoren und Aufklärer war dieses. Am extremsten in diesem Verstande verfuhr der Islam, jener echtere und reinere Vorfahr des Calvinismus. Aber auch Luthers wesentliche Leistung liegt hier, denn Luthers wahre Nachkommen sind nicht die Lutherischen Kirchen und Theologen, sondern die Vertreter der kritischen Wissenschaft. Waren die, welche ein vorgefundenes Zwischenreich durchschauten, wirklich überlegen, so beschieden sie sich bei einem Kompromiss, welchen sie ohne Untreue sich selbst gegenüber eingehen konnten. Das war der Fall der englischen Hochkirche, aber auch Franz von Assisis. In ihrem tiefsten Inneren jedoch blieben auch die ursprünglichen Geister, welche äußerlich Kompromisse eingingen, Todfeinde der Konvention. Ausschließlich aus Barmherzigkeit ließen sie diese gelten. Und in der Tat: Barmherzigkeit verlangt den allermeisten Menschen gegenüber wirklich mehr als alles andere dies, dass man ihnen ihr spezifisches Zwischenreich nicht nehme, weil sie dann alle Sicherung verlören. Doch ob ein wirklich aufrichtiger Mensch, dessen Sinn für das Ursprüngliche je erwachte, nun äußerlich und anderen gegenüber solche Kompromisse eingehe oder nicht: in seinem tiefsten Inneren fühlt sich jeder zwiespältig, hat jeder irgendwie ein schlechtes Gewissen, sieht jeder in der Tatsache des Zwischenreiches überhaupt ein Vorläufiges und zu Überwindendes. Nichts anderes bedeutet die Urtatsache, dass der Mensch das wesentlich problematische Tier ist, denn wer das Zwischenreich, in welches er geboren wurde, als letzte Instanz hinnimmt, für den gibt es überhaupt keine Probleme. Das Zwischenreich als solches, als sonderliche Ebene bestimmter Existenz, ist ebenso problemlos wie die Natur oder ein vorgestelltes Reich des reinen und erfüllten Geistes.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Das Zwischenreich
© 1998- Schule des Rades
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