Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Ursprünglichkeit und Primitivität

Naturentfremdung

Beim Manne liegen die Verhältnisse in hohem Grade umgekehrt wie bei der Frau, weil sein Bewusstsein ursprünglich mehr Geist- als Erde-zentriert ist, so unbewusst er des Sondercharakters des Geistes, ja des Geistes überhaupt sei; sie lägen im absoluten Sinne umgekehrt, wenn nicht auch beinahe jeder Mann viel Weibliches in sich hätte, wie ja auch das Umgekehrte der Fall ist, so dass die Grenzen immer wieder verfließen. Ich werde aber auch hier von allem Verfließen absehen und der Deutlichkeit halber bewusst übertreiben und karikieren. — Der Ur-Mann erlebt überhaupt wenig, er handelt, kämpft, herrscht, strahlt aus. Ursprünglich fühlt er sich garnicht verwoben in die Natur, diese sieht er als Gegenstand seines Handelns und Erkennens außer sich. Allein schon die Sonderart seiner Geschlechtlichkeit genügt zum Erweise dieser These, obwohl hier natürlich auch andere Ursachen und Beweggründe mitspielen: die Fortpflanzung zieht sein Wesen garnicht in Mitleidenschaft und noch so tief erlebte Vaterschaft bedeutet dem Manne auch nicht annähernd das und so viel, wie der Frau die Mutterschaft. Ihm kommt es sogar hier weit mehr auf den Geist an als auf das Blut, da er sich mit diesem nicht ursprünglich identifiziert; wo er es tut, tut er es von der Vorstellung her. Darum liegt es dem Manne ursprünglich nah, aus der Art geschlagene Kinder zu verstoßen und umgekehrt als artverwandt erkannte an Vaterstatt anzunehmen.

Selbstverständlich hat auch das Zwischenreich des Mannes sehr viele erdhafte Komponenten, aber der Nachdruck liegt bei ihm auf den geistigen, oder wenigstens auf deren geistiger Bedeutung. Darum geht man meist fehl, wenn man seine Kulte, Riten usf. von der Natur her oder auf sie hin deutet. Darum tut der Mann, mit nur geringer Übertreibung gesagt, das Natürliche ursprünglich aus geistigem Vorsatz und geistiger Theorie heraus. Eben darum aber nimmt er das Zwischenreich ganz anders ernst als die Frau, welche sich seiner vor allem als eines Kleides und einer Maske bedient; wäre es anders, sie wechselte bei jeder Heirat nicht so selbstverständlich Name und, wo nötig, Religion und Nationalität, bedeutete ihr Respektabilität und sonstiger Schein nicht mehr als die Wirklichkeit. Demgegenüber sind die Zwischenreichs­gestaltungen, in deren Rahmen, von denen her oder auf welche hin der Mann lebt und erlebt, für dessen Bewusstsein primäre, wertbetonte und bei nicht allzutiefer Verwurzelung im Geiste letztinstanzliche Wirklichkeiten. Er sieht in ihnen primär Geistesausdrücke, er missversteht sie in dieser Hinsicht; man gedenke hier besonders der Ausführungen des vorhergehenden Kapitels über die säkularen Missverständnisse der Philosophie und Jurisprudenz. In seinem Bewusstsein haben die Zwischenreichs­gestaltungen als vermeintliche Geistesausdrücke so sehr den Vorrang, dass er das Natürliche in seiner Eigenart schwer überhaupt bemerkt und darum der naturnahen Frau in erster Linie dumm und stur vorkommt. Tatsächlich nimmt er all die Herausstellungen des Verstandes bitter ernst, welche die naivste Frau ohne weiteres durchschaut. Weltanschauung, Gesetz, Recht, Ritus, Spielregeln usf. können ihm, wie so manche Philosophie und Religion erweist, sogar metaphysische Wirklichkeiten bedeuten. Darum sind die allermeisten Zwischenreichs­gestaltungen, welche Erfahrung in Vergangenheit und Gegenwart als Mächte feststellen kann, männlichen Geblüts; sogar die meisten, wenn nicht alle Meister des Schneider- und Kochhandwerkes waren Männer. Eben darum ist das dem Mann ursprünglich gemäße Leben das öffentliche und nicht das private. Ebendarum beurteilt er ursprünglich alles Besondere vom Allgemeinen, alles Persönliche vom Sachlichen her, was allein zur Erklärung dessen genügt, warum er von der Frau so leicht überlistet wird und warum er der Einzigkeit psychologisch selten gewachsen ist.

Das wenige hier Gesagte genügt zum Erweise dessen, wie nahe dem Mann Naturentfremdung liegt. Überblicken wir nun aber in der Erinnerung alles das, was wir über die Welt der Künstlichkeit und das Zwischenreich in dessen Aspekt der Naturfremdheit in den beiden ersten Kapiteln ausführten, dann finden wir, dass alles eigentlich bereits gesagt ist, was hier noch weiter zu sagen wäre. Tatsächlich ist der Mann wieder und wieder in einem von ihm selber herausgestellten starren System erstickt, tatsächlich hat er wieder und wieder den Zusammenhang mit seinem Natur-Ursprung verloren. Und immer wieder erfolgte dann ein Aussterben der allzu Verkünstlichten oder deren Ausrottung oder Versklavung durch naturverbunden verbliebene Völker oder Volksschichten. Sehr merkwürdig ist nun, dass es noch nie gelang, dieses Geschick durch willentlich herbeigeführte Primitivierung im Rahmen der Zivilisation zu wenden. Mit Rousseau wurde die Vorstellung vom natürlichen Menschen als dem, der alle Künstlichkeit verleugnet und dadurch desto edler wird, zur sozialen Macht. Diese Vorstellung setzte die Gleichheit aller Menschen und damit begann die Laufbahn der Demokratie. Doch was hat diese bewirkt? Allerdings den Abbau der bisher herrschenden hierarchisierten Hochkultur, nicht jedoch zum besten eines natürlicheren, sondern eines von Sachlichkeiten geknechteten Menschen. Wobei dank dem herrschenden Vorurteil zu Gunsten des Natürlichen, allerdings das Tierische im Gegensatz zum Geistigen die Oberherrschaft gewann, nicht jedoch von der ursprünglichen Natur, sondern von einer zwischenreichsgeborenen Vorstellung von dieser her. Das damit ins Rollen gebrachte Schicksal erfüllte sich in Nordamerika. In meinem Amerika-Buch habe ich unter den Überschriften Primitivität und Das Tier-Ideal die dortigen Zustände, so weit sie für die Problematik dieses Kapitels in Frage kommen, ausführlich beschrieben. Hier genüge der folgende kurze Hinweis. Nach bis heute beinahe allgemeingültiger Vorstellung kann der Mensch überhaupt nicht aus freier Initiative agieren, er kann nur reagieren, wie ein chemischer Körper auch. Das Generalideal für alles, und gleichzeitig die notwendige Konsequenz alles Ideal-gemäßen Lebens ist der materielle Wohlstand. Das man der Masse steht über dem autonomen Selbst des Einzelnen, die Quantität beherrscht die Qualität, damit die Zahl den Wert und der äußerliche Lebensapparat das Leben selbst. Die Folge dessen ist die, welche ich in den Betrachtungen der Stille (siehe besonders die Seiten 98, 110 und 124 ff.) geschildert habe: ein unter Berücksichtigung der kurzen Zeit, innerhalb welcher sich dieses Schicksal erfüllte, geradezu phantastischer Vitalitätsverlust des Menschen und ein so völliges Verkennen des Eigenen und Eigentlichen der Natur, dass der herrlich reiche Südamerikanische Kontinent zu veröden droht. Lebt also der Mann nur vom Zwischenreiche aus, so kann es ihm leicht geschehen, dass er trotz aller künstlichen Gegenmaßnahmen unaufhaltsam ausstirbt, wie denn ein erstarrtes Zwischenreich nach dem anderen de facto ausgestorben ist.

Darum bedarf der Mann weit mehr als die Frau des bewussten Untertauchens in einer im Sinn von absoluter Natur, um seiner Erdwurzeln nicht verlustig zu gehen. Dies erklärt seinen ursprünglichen Sinn für das Wilde, der gerade beim übermechanisierten Amerikaner besonders ausgebildet ist. Ist ein Mann nicht seines Zeichens Gärtner im weitesten Verstand, insofern es in ihm liegt, die als solche richtig erkannte Natur zu pflegen und ohne Vergewaltigung menschengemäß zu gestalten, dann bedeutet ihm nur wilde Natur Natur überhaupt. Daher des Mannes von dem der Frau grundverschiedenes Verhalten zur Natürlichkeit. Er strebt nicht nach deren Verdrängung und Verschleierung, im Gegenteil: er neigt dazu, das rein Naturhafte zu überwerten und zu übertreiben. Wie wohl das innere Auge jedes echten Mannes eine Frau ursprünglich nackt sieht und nicht angezogen, so geht ihm überhaupt Beschönigung und schon gar Verhübschung wider den Geschmack. Unbefangen bejaht er alle materiellen Freuden, und je reiner materiell, ja oft je roher sie sind, desto mehr genießt er sie. Man vergesse nicht das meist Übersehene, doch darum nicht weniger Wahre, dass hochgeistige und verfeinerte Zeiten, in welchen Männergeist herrschte, so in Europa die Renaissance und das 18. Jahrhundert, andererseits ausgesprochen roh und wild waren im Sinn der Ausschweifung. Dieser Hang zur Wildheit und Roheit geht beim Mann so weit, dass ihn ein ursprünglicher Hang zum Häßlichen beseelt, nicht jedoch als Ausdruck perverser Neigung, sondern aus dem gleichen Grund, aus welchem der Hund und manches andere Tier auf die bekannte zusammengeringelte Weise schläft. Auf dem Gebiet des Geschlechts entspricht die Zote beim Mann ursprünglichem Bedürfnis; Sauberkeit interessiert ihn wenig, es sei denn, sie brächte geistigen Wert zum Ausdruck, bedeute also Reinheit im Gegensatz zu jener Sauberkeit, welche Frauen im selben Sinn wie Katzen kennzeichnet. Vor allem aber liebt der Mann, wie schon gesagt, wo er Natur liebt, wilde Natur und darum hat er zum Ursprünglichen ihrer, obgleich er nicht in sie verwoben ist, geistig ein näheres Verhältnis als irgendeine Frau. So wird der Mann auch beinahe ohne Übergang wild, wenn ein Zwischenreich, dem er sich eingeordnet hatte, zerstört ist, und es dauert lange, bis dass der Barbar sich zur Zivilisation zurück bekehrt.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Ursprünglichkeit und Primitivität
© 1998- Schule des Rades
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